Jane Austen: Ich bin ganz hingerissen von dem Buch!


Der schnelle Fortschritt der Freundschaft zwischen Catherine und Isabella entsprach ihrem begeisterten Anfang, und sie durcheilten alle Stufen zunehmender Zärtlichkeit mit solcher Geschwindigkeit, daß sie bald weder einander noch ihren Freunden einen neuen Beweis davon zu geben brauchten. Sie nannten sich mit Vornamen, gingen nur noch Arm in Arm, steckten sich gegenseitig die Schleppe hoch und wollten beim Tanzen unbedingt in derselben Reihe stehen; und wenn ein verregneter Vormittag sie anderer Vergnügungen beraubte, bestanden sie darauf, sich trotz Nässe und Schmutz zu treffen, und sie schlossen sich ein, um gemeinsam Romane zu lesen. (...) Die folgenden Unterhaltung, die eines Vormittags in der Brunnenhalle zwischen den beiden Freundinnen stattfand, als sie sich etwa acht oder neun Tage kannten, soll als Beispiel für die herzliche Zuneigung, den zartfühlenden, diskreten und originellen Gedankenaustausch und den anspruchsvollen literarischen Geschmack gelten, die einen Beweis dafür bildeten, wie verständig ihre Beziehung war.

Sie waren verabredet, und da Isabella fast fünf Minuten vor ihrer Freundin eingetroffen war, eröffnete sie das Gespräch natürlich mit: "Liebste Freundin, was hat dich denn so aufgehalten? Ich warte hier schon mindestens eine Ewigkeit auf dich!" "Wirklich! Das tut mir sehr leid, aber ich dachte, ich wäre pünktlich. Es ist doch gerade erst eins. Hoffentlich hast du nicht zu lange warten müssen?" "Oh, mindestens eine Ewigkeit. Eine halbe Stunde bestimmt. Aber jetzt komm, wir setzen uns am anderen Ende der Halle hin und amüsieren uns. Ich muß dir tausend Sachen erzählen. Zunächst einmal, ich fürchtete, es würde heute morgen regnen, als ich gerade losgehen wollte; es sah so nach einem Schauer aus, und das hätte mich zur Verzweiflung gebracht! Stelle dir vor, ich habe gerade eben einen wunderhübschen Hut in einem Fenster in der Milsom Street gesehen - fast genau wie deiner, nur mit einem lachsfarbenen Band, statt mit einem grünen; ich hätte ihn liebend gerne gekauft. Aber liebste Catherine, was hast du denn den ganzen Vormittag getrieben? Hast du Udolpho weitergelesen?"

"Ja, seit ich wach bin, und ich bin bis zum schwarzen Vorhang gekommen." "Wirklich? Wie zauberhaft! Oh, um nichts in der Welt würde ich dir verraten, was hinter dem schwarzen Vorhang ist! Bist du nicht ganz wild darauf?" "Oh! Ja, natürlich, was kann es bloß sein? Aber verrate nichts, ich will es auf keinen Fall wissen. Ich wette, es ist ein Skelett - es ist bestimmt Laurentinas Skelett. Oh! Ich bin ganz hingerissen, von dem Buch! Ich möchte am liebsten gar nicht wieder aufhören. Glaub mir, wenn wir nicht verabredet gewesen wären, hätte ich mich um nichts in der Welt davon getrennt." "Meine liebste Freundin! Wie dankbar bin ich dir dafür; und wenn du den Udolpho durchhast, lesen wir gemeinsam den Italiener, und ich habe schon eine Liste mit zehn oder zwölf ähnlichen Titeln für dich zusammengestellt." "Wirklich! Wie mich das freut. Wie heißen sie denn alle?" "Ich lese dir die Titel gleich vor; hier sind sie, in meinem Notizbuch: Burg Wolfenbach, Clermont, Geheimnisvolle Warnungen, Der Magier aus dem Schwarzwald, Mitternachtsglocke, Die Waise vom Rhein und Gruselige Geheimnisse. Die halten ein Weilchen vor."

"Ja, ganz bestimmt, aber sind sie auch alle gruselig, weißt du bestimmt, das sie so richtig gruselig sind?" "Ja, ganz bestimmt, denn eine gute Freundin von mir, Miss Andrew, ein reizendes Mädchen, eins der reizendsten Geschöpfe der Welt, hat sie einen nach dem anderen gelesen. (...) Oh! Ich muß dir noch erzählen, gerade als wir uns gestern getrennt hatten, sah ich, wie ein junger Mann dich ganz ernsthaft ansah - er ist bestimmt in dich verliebt" Catherine errötete und protestierte wieder. Isabella lachte: "Es ist wahr, Ehrenwort, aber ich durchschaue dich, dir sind die Männer alle ganz egal, außer der eine, und der bleibt ungenannt. Nein, ich kann dir keine Vorwürfe machen" (sie sprach ernsthafter), "deine Gefühle sind leicht zu erraten. Ich weiß genau, wie wenig einem an den Aufmerksamkeiten anderer liegt, wenn das Herz wirklich gesprochen hat. Alles, was nicht mit dem Geliebten zu tun hat, kommt einem so stumpfsinnig, so uninteressant vor. Ich weiß genau, wie dir ums Herz ist." "Aber du sollst mich nicht dazu bringen, so viel an Mr. Tilney zu denken, denn vielleicht sehe ich ihn nie wieder." "Ihn nicht wiedersehen" Meine liebste Freundin, sei still. Mit solchen Gedanken machst du dich nur unglücklich." "Nein, durchaus nicht. ich will nicht so tun, als ob er mir sehr gut gefallen hat. Aber solange ich Udolpho habe, kommt es mir vor, als ob mich niemand unglücklich machen könnte. Oh! Der furchtbare schwarze Vorhang! Meine liebe Isabella, dahinter ist doch bestimmt Laurentinas Skelett."


Jane Austen: Kloster Nordhanger. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1981


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