Eine morbide Bibliothek


von Ray Bradbury

Hier draußen, auf halber Strecke zum Meer, stand eine kleine dunkle Hütte, in der in den letzten zehn Jahren stets, wann immer ich auch vorbeikam, die Springrollos herabgezogen waren. Heute waren sie zum ersten Mal oben. Ich schaute hinein. Mein Gott, dachte ich, das ist ja eine ganze Bibliothek. Ich trat schnell näher heran, fragte mich, wieviele solcher versteckter Bibliotheken es wohl hier auf dem Pier oder in den alten Gassen von Venice gab. Ich stand am Fenster und dachte zurück an Nächte, als ich hinter den Rollos Licht gesehen hatte und einen Schatten, eine Hand, die die Seiten eines unsichtbaren Buches umblätterte, als ich das Flüstern einer Stimme gehört hatte, die Gedichte vortrug und über eine düstere Welt philosophierte. Es hatte immer geklungen wie ein zögernder Schriftsteller oder wie ein Schauspieler, der hinabglitt in ein gespenstisches Repertoire. König Lear mit der doppelten Anzahl von bösen Töchtern und dafür nur mit dem halben Verstand. Doch heute, an diesem Mittag, waren die Rollos oben. Drinnen brannte eine kleine Lampe. In dem Raum war keine Menschenseele zu sehen, dennoch war er voll, war vollgestopft mit einem Schreibtisch, einem Stuhl und einer riesigen, altmodischen Ledercouch. Um die Couch herum türmten sich auf allen Seiten Stapel von Büchern, reichten als Klippen, Türme und Brüstungen bis zur Decke empor. Es mußten zweitausend sein, hineingestopft, aufeinandergestapelt.

Ich trat etwas zurück und las die Schilder neben und über der Eingangstür, die ich zwar schon gesehen, aber nie richtig wahrgenommen hatte. "Kartenleger." Doch die Schrift war verblichen. Auf dem nächsten Schild stand "Chirologe". Es folgte, fein säuberlich in Druckbuchstaben, "Phrenologe". Und darunter "Graphologe". Und daneben "Hypnotiseur". Ich trat zögernd näher an die Tür, denn direkt über der Türklinke war mit Reißzwecken eine sehr kleine Visitenkarte befestigt. Auf ihr stand der Namen des Besitzers. "A.L.Shrank." Und darunter, mit nicht ganz so dünnen Bleistiftstrichen wie auf dem Kanarienvogelschild, die Worte: "Praktizierender Psychologe". Ein sechsfach bedrohlicher Mann. Und hörte ich nicht da drinnen, zwischen den Steilwänden aus verstaubten Büchern, Sigmund Freud flüstern: Ein Penis ist nichts als ein Penis, aber eine gute Zigarre ist ein Raucherlebnis? Und hörte ich nicht Hamlet sterben und alle mit in den Tod reißen? Lag nicht Virginia Woolf, wie die ertrunkene Ophelia, zum Trocknen ausgestreckt auf der Couch und erzählte ihre traurige Geschichte? Wurden nicht Kartenstöße immer wieder durchgemischt? Köpfe wie Honigmelonen abgetastet? Hörte ich nicht Füllhalter kratzen? "Mal sehen", sagte ich mir. Wieder schaute ich durchs Fenster hinein, und alles, was ich sah, war die leere Couch, die in der Mitte eingedrückt war von den vielen Körpern. Nachts schlief A.L. Shrank wohl darauf, denn ein Bett gab es nicht. Am Tag lagen dort Besucher, die ihre Innereien festhielten, als wären sie ein einziger Scherbenhaufen. Das alles schien mir unglaublich.

Doch was mich faszinierte, waren die Bücher. Nicht nur die Regalen quollen von ihnen über, sie füllten auch die Badewanne, von der ich durch die halboffene Tür auf der einen Seite ein Stück sehen konnte. Eine Küche gab es nicht. Hätte es eine gegeben, dann wäre der Kühlschrank ohne Zweifel voller Bücher wie "Peary am Nordpol" oder "Byrd allein in der Antarktis" gewesen. A.L. Shrank badete offensichtlich im Meer, und seine fürstlichen Mahlzeiten nahm er an der Hotdog-Bude nebenan ein. Aber es war nicht so sehr die Tatsache, daß da neunhundert oder tausend Bücher standen; was mich beeindruckte, waren vielmehr ihre Titel, die Themen, die sie behandelten, ihre unglaublich düsteren, unheilvollen, schrecklichen Namen. Auf den oberen Brettern, die stets in mitternächtlichem Dunkel lagen, stand Thomas Hardy in all seiner Düsterkeit neben Gibbons "Geschichte des Niedergangs und Verfalls des Römischen Weltreiches", es folgten der gefürchtete Nietzsche und der hoffnungslose Schopenhauer Seite an Seite mit Burtons "Schwermut der Liebe", Edgar Allan Poe, Mary Shelly, Freud, Shakespears Tragödien (von Komödien keine Spur), der Marquis de Sade, Thomas De Quincy, Hitlers "Mein Kampf", Spenglers "Untergang des Abendlandes", und so weiter und so fort. Eugene O'Neill stand da. Und Oscar Wilde, aber nur seine traurige Schrift aus dem Gefängnis, nichts von seinen pastellfarbenen, heiteren Sachen. Dschingis Khan und Mussolini lehnten aneinander. Bücher mit Titeln wie "Der Selbstmord als Antwort", "Die finstere Nacht des Hamlet", oder "Wie Lemminge ins Meer" standen staubbedeckt ganz oben im Regal. Am Boden lagen "Der Zweite Weltkrieg" und "Krakatau, die Explosion, die die Welt erschütterte", neben "Hungriges Indien" und "Die rote Sonne geht auf."

Wenn man die Augen und den Verstand über solche Bücher hinwandern und dann, ungläubig, den Blick noch einmal darübergleiten läßt, bleibt einem nur eins. Wie bei einer schlechten Verfilmung von "Trauer muß Eelektra tragen", wo ein Selbstmord den anderen ablöst, ein Mord den anderen jagt, Inzest auf Inzest folgt, die voll ist von Erpressung und vergifteten Äpfeln, wird man schließlich losprusten, den Kopf zurückwerfen und ... Lachen! "Was ist denn hier so lustig?" fragte jemand hinter mir. Ich drehte mich herum. "Was so lustig ist, hab ich gefragt." Er stand vor mir, das schmale, blasse Gesicht keine zwanzig Zentimeter von meiner Nase entfernt. Der Mann, der auf dieser Psychiatercouch schlief. Der Mann, dem all diese Weltuntergangsbücher gehörten. A.L. Shrank. "Nun?" fragte er. "Ihre Bibliothek!" stotterte ich. Zum Glück mußte ich niesen, was mein Lachen überdeckte und mir Gelegenheit gab, meine Verwirrung hinter einem Taschentuch zu verbergen. "Verzeihen Sie bitte!" bat ich. "Ich besitze genau vierzehn Bücher. Es ist schließlich ungewöhnlich, daß man die New Yorker Stadtbibliothek hier in Venice auf dem Pier wiederfindet." Das Funkeln in A.L. Shranks winzigen, leuchtendgelben Augen, den Augen eines Fuches, erlosch. Er ließ die drahtig-dünnen Schultern sinken. Seine kleinen Fäuste öffneten sich. Mein Lob ließ ihn wie einen Fremden mit offenem Mund durchs Fenster in seine eigene Wohnung starren. "Doch", murmelte er erstaunt, "ja, die gehören alle mir." Ich schaute hinab auf einen Mann, der höchstens einen Meter fünfundfünzig oder einen Meter sechszig groß war und ohne Schuhe sogar noch kleiner. Es drängte mich furchtbar nachzusehen, ob er erhöhte Absätze trug, aber ich senkte die Augen nicht, hielt sie genau auf Höhe seines Haaransatzes. Er fragte sich nicht einmal, was ich hier wollte, so stolz war er auf die Unzahl literarischer Ungeheuer, die sich in seinen dunklen Regalen hausten.

"Ich besitze fünftausendneunhundertzehn Bücher", verkündete er. "Sind Sie sicher, daß es nicht fünftausendneunhundertelf sind?" Er blickte weiter interessiert hinein zu seiner Bibliothek und fragte mich kalt: "Warum lachen Sie?" "Die Titel-" "Die Titel?" Er trat näher ans Fenster und suchte die Regale nach einem heiteren Verräter unter all diesem mörderischen Büchern ab. "Haben Sie", begann ich lahm, "nicht irgend etwas Sommerliches, voll schönem Wetter und lauen Winden, in Ihrer Bibliothek? Besitzen Sie keine fröhlichen Bücher, keine glücklichen Funde, irgend etwas Humorvolles von Leacock zum Beispiel?" "Nein!" Shrank erhob sich bei diesem Nein auf die Zehenspitzen, dann faßte er sich und wurde wieder einige Zentimeter kleiner. "Nein." "Oder "Huckleberry Finn", "Drei Männer in einem Boot", "So grün war mein Vater", "Die Pickwickier"? Robert Benchley? James Thurber? S.J. Perelmann-" Ich ratterte die Titel herunter. Shrank hörte zu, schien zurückzuschrecken bei meiner vergnüglichen Aufzählung. Er ließ mich alles abspulen. "Wie steht's mit "Savonarolas Witzen" oder "Die lustigen Aussprüche von Jack the Ripper"-" Ich verstummte. A.L. Shrank wandte sich, jetzt ganz düster und kalt, ab. "Tut mir leid", sagte ich, und es tat mir wirklich leid. "Ich würde wirklich gern irgendwann mal bei Ihnen vorbeikommen und ein bißchen schmökern. Natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben." A.L. Shrank dachte einen Moment nachm, kam offenbar zu dem Schluß, daß ich Reue empfand und griff nach der Türklinke. Leise quietschend ging die Tür auf. Er wandte sich nich einmal um und musterte mich mit seinen winzigen, leuchtend bernsteingelben Augen; seine knochigen Hände zuckten.


Ray Bradbury: Der Tod ist ein einsames Geschäft, Zürich: Diogenes (detebe), 1989. S. 77ff.


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