So süchtig war ich danach


von Günter de Bruyn

Meine erste Lektüre, an die ich mich erinnere, war eine gereimte Bildergeschichte, in der die Verse vorkamen: Doch im Walde da sind Wurzeln, worüber nun die beiden purzeln. Wenn mein Gedächtnis mich nicht täuscht, waren die beiden ein Page und eine Prinzessin, die sich in einem von Menschenfressernn bewohnten Wald verlaufen. Neben den Grimmschen Märchen las meine Schwester mir auch idyllische von Matthiessen vor. Der Band hieß Das alte Haus, war auf rauhem, dickem Papier gedruckt und mit Zeichnungen versehen, die ich bunt auszumalen versuchte.

Die Zwerge, Riesen, Kartoffelkönige, Uhrenmännchen und Hexen waren gutartig und freundlich, und es floß kein Tropfen Blut. Tränen dagegen flossen bei mir reichlich über die wechselnden Schicksale eines deutsche Pinocchio, der Das hölzerne Bengele hieß. Das erste Stück große Literatur, das in an jedem 24. Dezember hörte, die Geschichte von Christi Geburt aus dem Lukas-Evangelium, übte einen Zauber eigner Art auf mich aus, der nie verging, da sich von Jahr zu Jahr mehr vom dem enthüllte, was erst dunkel geblieben war.

Das Glück aber, in Literatur eigne Umwelt, eigne Innenwelt, sich selbst also wiederzufinden, begegnete mir zum erstenmal in einem Stück Prosa, das im Schullesebuch meiner Schwester stand. Da wurde von einem Wintermorgen erzählt, an dem ein Ich, ein Kind, durch ein Guckloch, das es in die Eisblumen der Fensterscheibe gehaucht hat, die von Schnee veränderte Umgebung beobachtet: schlitternde Nachbarskinder, schneefegende Straßenkehrer, die vermummte Milchfrau, die weißen Atemwolken der Pferde - reine Beschreibung also, die aber im Leser wunderbarerweise Gefühle weckt, von denen im Text nicht die Rede ist. Das Lesestück stand rechts oben und war etwas eine dreiviertel Seite lang.

In meinem ersten Schuljahr muß das gewesen sein. Im selben jahr noch verfiel ich vollständig einem Autor, der sich mit so kurzen Stücken nicht abgab, einem Lang- und Vielschreiber, dessen noch immer anhaltende Wirkung auch seinen Verächtern ein Rätsel ist. Von 1933 bis in die ersten Kriegsjahre hinein lebte ich lesend in einer Welt, die den Vorzug hatte, meiner in keiner Weise zu gleichen, in einer Welt der Freiheit, die Schul- und Uniformzwang nicht kannte, die geographisch vielgestaltig und moralisch eindeutig war, in der den Schurken das Böse vom Gesicht abgelesen werden konnte und das Gute siegreich blieb. Es war die Welt Karl Mays.

Die Ausgabe des Karl-May-Verlages in Radebeul (nur diese kannte ich) hatte 65 Bände, und es trieb mich dazu, sie alle zu lesen, was mit Hilfe einer privaten Leihbücherei in der Britzer Hannemannstraße leicht möglich war. So süchtig war ich danach, da0 ich schon auf dem Heimweg, an der langen Krankenhausmauer vorbei, zu lesen begann, mich im Akazienwäldchen auf eine Parkbank setzte und erst in der Dämmerung wieder zu Hause war, wo meine Mutter, der Lesen als Luxus galt, mich mit Aufträgen wie Kohlen-aus-dem-Keller-Holen oder Mülleimer-Runtertragen störte und mir immer wieder die quälende Frage stellte, ob ich mit den Schulkrbeiten schon fertig sei. Frühes Zu-Bett-Gehen war also, wenn ein neuer Band in meiner Hand war, eine Freude für mich; und wenn die Lampge gelöscht werden mußte, las ich unter der Decke weiter, bei Taschenlampenlicht.


© Bruyn, Günter de: Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin. Frankfurt/M.: S. Fischer, 1994


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