Die letzten Buchstaben

Kleine Typologie einer Leidenschaft


von Hugo Dittberner

Vielleicht beginnt jede lebenslange Leidenschaft in einer zerstreuten, unbeobachteten Stunde der Kindheit. Ich war als Siebenjähriger allein in der Wohnung und fand beim Stöbern im Bücherschrank ein in braunes, geriffeltes Packpapier geschlagenes Buch, das fast auseinanderfiel, als ich es herauszog. Es war dick, schwer und unhandlich für mich, es war in mir ungewohnter deutscher Druckschrift gedruckt - und doch fand man mich später in einem Sessel wieder, als ich schon viele Seiten darin gelesen hatte. Das Buch war, wohl nicht ganz zufällig, "Winnetou 1" von Karl May. Mein erstes Buch. Natürlich habe ich mich später gefragt, was mich an diesem Buch so gefesselt hat: welchen Anteil daran das Buch als Buch (sein Ort, sein Zustand, das Gefühl, es in der Hand zu halten und darin zu lesen), welchen Anteil Karl May und welchen dieses besondere Buch: sein Thema (das siegreiche Greenhorn), die spannende Geschichte, der Held darin hatte...Ja, ich weiß, Arno: der herrschaftlich-männliche Ritt durch die Landschaft und tief in die Schlucht hinein wird eine Rolle gespielt haben. Niemand verzichtet darauf, Pionier zu sein, und sei es an der entlegensten Stelle. Gibt es Verführerisches als den Angeber, der sich noch als Untertreiber erweist? Die behaglichen Stereotypen, Sam Hawkins' "wenn ich mich nicht irre!" (und er pflegt sich gewaltig zu irren!), lassen uns nie im Stich. Unvergeßlich die geschwellte Brust, die Lust am Kichern und Röhren, das Einkuscheln in der Nachbarschaft der Gefahr und eine merkwürdige Ahnung, als Nschotschi (das hieß: Schöner Tag) den zu Tode geschwächten Old Shatterhand stolz und doch fürsorglich fragt: "Kannst du schlingen?" (Meine Mutter ermahnte mich: "Schling nicht so!") Stunden und Tage, die ein einziges Schwanken zwischen Souveränität und Albernheit waren, die sich noch in den fernsten Ländern und unter größten Gefahren bewähren konnten... Wie anders ist das Lesen in einem inspirierenden, zum eigenen Schreiben drängenden Buch - und das Lesen beginnt immer schon lange vor dem Umsetzen der Schrift vor unseren Augen, und es endet nicht damit! Ich hatte, bald nach dem Abitur, ein Gedicht von Gregory Corso gelesen, und nun, allein in einer fremden Stadt, beschloß ich, zu meiner ersten studentischen Amtshandlung die Bestellung des Buches zu machen, dem das Gedicht entnommen sein sollte. Das Buch hieß "Gasoline"; es dauerte sechs Wochen, ehe ich das schmale Bändchen der City Light Press, San Francisco, in Händen hielt. Schon nach den ersten Versen begann ich zu zittern. Ich konnte nicht sitzenbleiben und wollte doch hin zu dem Platz des Buches. Eine unüberwindliche Lust zu gehen, zu laufen befiel mich, und fast jede Zeile stieß mich vorwärts: I am 25, I hate old poetmen...Das Merkwürdige an den inspirierenden Büchern ist: man braucht sie, ja man darf sie fast nicht zu Ende lesen! Der Impuls erreicht uns - und nun kommen wir. Gleichwohl haben wir das Gefühl, daß dies Buch ganz uns gehört. Den Bescheidwisser, der den Rest kennt, verachten wir. Wir hüten das Buch wie einen Liebesbrief; wir verstecken es und rühmen es zugleich; wenn unser Blick darauf fällt, fühlen wir uns stärker. (Und, Freunde, wenn ihr dies "wir" nicht gelten lassen wollt, so will ich es allein füllen!)

Es gibt Pflichtbücher, die wir uns mit moralischem Eifer verordnen. Wer Rückgrat hat, muß sie lesen und verstehen, kaufen und bearbeiten, beherzigen und in Diskussionen anführen. So habe ich den dreibändigen Raubdruck von Max Horkheimers "Kritische Theorie der Gesellschaft" erworben, vor der Mensa, an einem Büchertisch, der überladen war mit Schlüsselwerken zum Verständnis der verborgenen Gesetze von Herrschaft. Nun wollte ich die schwierige Kunst,nein zu sagen, lernen und mein eigener Herr werden. Mit einer kühnen Lust an Klarheit, Unbestechlichkeit, aufrechtem Gang. Ganz unabhängig vom Wetter, vom Leben hier und da, aber auch wieder nicht, stellt sich ein Gefühl des Unerledigten ein. Man streint umher, gerät in eine Buchhandlung (oder Bibliothek), stößt auf einen Namen, einen Titel, erinnert sich an eine uralte Empfehlung, an eine Lexikonnotiz oder an überhaupt nichts, greift das Buch, fängt an zu lesen - und hat das unabweisbare Gefühl: nun bist du gerettet, nun ist alles gut, du nimmst das Buch, gehst nach Hause und bist gerettet, wenn du es liest. Es ist eines von diesen wunderbaren Büchern, die man ein-, zweimal im Jahr findet, wenn man Glück hat, vielmehr: von dem man gefunden wird: das rettende Buch. Das erste Mal hatte ich dieses Gefühl vor Sherwood Andersons "Winesburg, Ohio". Ein beruhigender, tröstender Wärmestrom erreichte mich und machte mich geduldig und lebensfromm.

Wer auf sich hält, sucht das besondere Buch. Er kennt die Adressen und Regale, wo er das Exorbitante, nun, nicht erwarten, aber überraschen kann. Das besondere Buch kann nicht das Buch der vielen sein. Wohl kann es das einmal gewesen sein - um nun hier vereinsamt im Antiquariat zu stehen, zu einem lächerlichen, geradezu dümmlichen Preis (oder zu einer Summe, die man schon anlegen muß). Oft ist das Buch prachtvoll, so daß es ein Genuß ist, es in der Hand zu wiegen, in ihm zu blättern, beim Entdecken des Erscheinungsjahres zu erschrecken, das Geschriebene weihevoll aufzunehmen. Zuerst hat mich jedoch das Gefühl des Besonderen überwältigt, als ich es in der Gestalt des Unscheinbaren entdeckte: das zweite Jahrbuch der "Geistigen Überlieferung" von 1942 in einem Pappeinband, darin Martin Heideggers Aufsatz "Platons Lehre von der Wahrheit". Was vermittelt ein Heidegger 1942 als Wahrheit? Nach wenigen Sätzen wüßte ich, daß ich mich von keinem Vorurteil mehr besiegen lassen würde. Ich zahlte und ging still und überlegen nach Hause, um mich der kreislaufbedrohenden Wucht dieses Philosophierens zu stellen. Wie herrlich aber, hell und dauerhaft beglückend ist das Buch zum Verschwinden, das Ferienbuch! Wir tauchen ein und sind weg, anderswo, wie in Trance die unaufschiebbaren körperlichen Bedürfnisse befriedigend, in Wahrheit aber kraftvoll in einer anderen Welt schweifend, liebend und leidend. Dick muß dies Buch sein und mit einem langen Atem geschrieben, weitherzig und leidenschaftlich, nicht ohne Humor oder doch wenigstens Ironie, so daß wir nicht bedrängt oder eingeengt werden von dieser Welt, der wir uns ungeschützt zugesellen. So wie George Eliots "Middlemarch".

Ganz anders dagegen die Bücher, denen wir uns in der Gesellschaft nicht entziehen können. Alle reden davon, man muß es gelesen haben, man sollte sich wenigstens informieren und ein eigenes Urteil anstreben...Und um so trotziger schlägt man einen Bogen, nimmt das Buch allenfalls flüchtig in die Hand, liest Rezensionen, hört auf die Untertöne in den Briefen von Freunden, kurz: will herausfinden, ob dies Buch tatsächlich so überwältigend ist, ob es tatsächlich für mich, für mich speziell geschrieben ist und nicht eine von jenen Hülsen, in der sich sämtliche Hohlköpfe zu Hause fühlen. Dies ist das aktuelle, von den Wortführern und Meinungshütern verschlungene und beschwärmte Buch, das epochale Werk oder Kultbuch. Irgendein unergründlicher, jedenfalls nicht bis zur untersten Sohle ergründlicher Sog führt uns immer wieder zu diesem Buch, bis wir es doch noch kaufen (oder zu unserer Rettung das Ondit verstummt). Nun lesen und süffeln wir schließlich Peter Sloterdijks "Kritik der zynischen Vernunft" und sind überrascht, wie sympathisch und witzig, wie wenig lautstark das Buch ist, das solche Trommelwirbel begleiten.

Der Trommelwirbel, das Pathos der Epochen gebührt dem großen, wiedergelesenen Buch; doch angesichts des wahrhaft Großen wirkt der leichtfertige Superlativ eitel, und die rühmende Rede findet den würdevollen Ton - wie um zu beweisen, daß hier jedes Zusätzliche fehl am Platze ist, weil das Werk allein den Leser in seinen erzieherischen Bann zieht. Hier entspringt die Lust am Zitat, die Lust am Widerstand, dessen Überwindung und erneuert und bestätigt. Nun denken die meisten an "Ulysses" oder an andere Bastionen der Moderne; ich aber habe diese Erfahrung zuerst mit Fontanes "Effi Briest" und vor der erschütternden Weisheit seiner Relativsätze gemacht. Die Zeit, die man über dem alleswissenden Buch, dem Lexikon, dem Wörterbuch, verbringt, nimmt nicht ab, wie man eine Zeitlang meint, sie nimmt zu, und merkwürdigerweise werden die mit trockenen Nachrichten überfüllten Seiten immer lebendiger, ja poetischer. Man liebt das Bild des Mantelpavians, auf das man wieder einmal stößt. Man schweift vom Nachschlagen ab und fühlt sich beschlagener. Patagonien ist hier, und der Gastvogel fliegt vor meinen Augen. Ich ertappe mich, wie ich ein Wort laut spreche, als müßte ich mich noch immer vor meinem ersten Englischlehrer bewähren. Doch ebenso wichtig wie die Bücher des Speicherns ist das eine Buch des Vergessens. Das von dem Ehrgeiz des geistigen Raffens und Anhäufens befreit, bei dessen Lektüre die Schultern leicht werden und ich mir des winzigen und doch ausreichenden Platzes inne werde, auf dem ich eine Weile wandeln darf. Das Buch über das ganz andere, das ich dann bin, wenn ich die Lektion der Stille lerne und mich gesammelt und gefestigt und frei fühle; jedenfalls solange ich Eugen Herrigels "Die Kunst des Bogenschießens" lese.

Wer will nicht wissen, was sich mit ihm und gegen ihn entwickelt! Die Bücher der Freunde - und auch der Feinde liest, wer sich den Auseinandersetzungen der Zeit stellt, wer weiß, daß Bücher uns beschenken und berauben können, uns unterstützen und behindern, uns wichtig oder nichtig machen. Bücher des Betriebs, die man besser nicht nennt. Doch auch persönlich unbekannte, längst tote Autoren können sich als Freunde (seltener als Feinde) erweisen. Ich lese Jane Austen so, Emerson und Nietzsche. Zuletzt, am Ende des Tages, die letzten Buchstaben, vorm Einschlafen: Bücher, denen ich mich bis zur Sinnentlehrung und Sinnverquerung anvertraue, Lieblingsbücher, die monatelang auf dem Nachtschrank liegen oder dort liegen würden, wenn ich sie nicht verliehen und nicht zurückerhalten hätte, wie Mirok Lis "Der Yalu fließt". Bücher, die man nicht fragt, auf welcher Seite, in welcher Zeile man ihre Lektüre unterbrechen müßte, weil man sie in Wahrheit immer liest und ihnen beim ersten Buchstaben so nah ist wie beim letzten.


Auszug aus: Die letzten Buchstaben. In: Von Dichtersesseln, Eselsohren, Schusterjungen und Leseratten. Hrsg. von Günter Affholderbach; Klaudia Strohmann. Siegen: Affholderbach & Strohmann, 1985


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