Das Papierhaus

Bibliomanes von Carlos Maria Dominguez


Gefährlichkeiten
Mit Büchern umgehen
Bei Freunden
Bekommen und Loswerden
Ein Haus voller Bücher
Büchergespräch
Aussichtsloser Fall
Aus dem Schlafzimmer vertrieben
Nur kalt duschen
Notizen eines Lesers
Mit jedem Buch vögeln
Maßlos und ausgliefert
Bücher katalogisieren
Die Musikalität des Lesens
Im Kerzenlicht
Alptraum Feuer
Bücher & Schicksale


Gefährlichkeiten

Im Frühjahr 1998 kaufte Bluma Lennon in einer Buchhandlung von Soho eine alte Ausgabe der "Gedichte" von Emily Dickinson und wurde an der ersten Straßenecke, als sie gerade beim zweiten Gedicht angelangt war, von einem Auto überfahren. Bücher verändern das Schicksal der Menschen. So mancher hat "Der Tiger von Malaysia" gelesen und ist an einer fernen Universität Dozent für Literatur geworden. Demian hat Zehntausende Jugendliche zum Hinduismus geführt, Hemingway hat sie zu Sportlern gemacht, Dumas hat das Leben Tausender Frauen auf den Kopf gestellt und nicht wenige sind durch ein Kochbuch vor dem Selbstmord bewahrt worden. Bluma war ihr Opfer. Aber nicht nur sie. Der Professor für klassische Philologie, Leonard Wood, wurde auf seine alten Tage halbseitig gelähmt, weil in seiner Bibliothek fünf Bände der "Encyclopedia Britannica" ihren Platz verließen und ihm auf den Kopf fielen; mein Freund Richard hat sich das Bein gebrochen, als er versuchte, "Absalom, Absalom" von William Faulkner aus einer Ecke zu angeln, wo es so ungünstig stand, daß er von der Leiter fiel. Ein anderer Freund aus Buenos Aires hat sich in den Kellern eines öffentlichen Archivs die Tuberkulose geholt und ich habe mal einen chilenischen Hund gekannt, der sich an den "Brüdern Karamasow" den Magen verdarb und gestorben ist, nachdem er es an einem wütenden Nachmittag komplett verschlungen hat. Jedes Mal, wenn meine Großmutter mich beim Lesen im Bett erwischte, ermahnte sie mich: "Das solltest du lassen, weißt du denn nicht, wie gefährlich Bücher sind?" (Carlos Maria Domínguez, Das Papierhaus)


Mit Büchern umgehen

Ich kenne Leute, die jede Lektüre sorgfältig verbuchen, mit Tag, Monat und Jahr, sozusagen einen Kalender ihrer geistigen Erwerbungen führen. Andere schreiben ihren Namen auf die erste Seite und verleihen ein Buch erst, wenn sie den Empfänger mit Datum in ein Notizbuch eingetragen haben. Ich habe Bücher mit Stempeln wie in öffentlichen Bibliotheken gesehen und solche, in denen ein Kärtchen des Besitzer steckte. Niemand hat es gern, wenn ihm ein Buch abhanden kommt. Lieber verlegen wir einen Ring, ein Ihr oder unseren Schirm als ein Buch, das wir vielleicht nicht mehr lesen werden, das aber mit dem vertrauten Klang seines Titels ein altes, vielleicht verloren gegangenes Gefühl in uns wachruft. Tatsache ist, daß letztlich der Umfang einer Bibliothek zählt. Wie ein riesiges offenes Gehirn wird diese nämlich unter fadenscheinigen Entschuldigungen und falscher Bescheidenheit zur Schau gestellt. Ich kannte mal einen Professor für klassische Philologie, der die Zubereitung des Kaffees in seiner Küche absichtlich in die Länge zog, um den Gast die Gelegenheit zu geben, seine Bücherregale zu bewundern. Erst wenn das geschehen war, kehrte er befriedigt lächelnd mit dem Tablett ins Wohnzimmer zurück. (Carlos Maria Dominguez: Das Papierhaus, S 17)


Bei Freunden

Wir Leser spionieren die Bücherschränke unserer Freunde aus und sei es zur Ablenkung. Weil wir ein Buch entdecken könnten, das wir lesen wollen und nicht besitzen, oder weil wir einfach wissen wollen, was das Tier, das wir vor der Nase haben, in sich hingefressen hat. Wenn wir einen Kollegen allein im Wohnzimmer sitzen lassen, steht er bei unserer Rückkehr garantiert vor dem Bücherregal und schnuppert darin herum. (Carlos Maria Dominguez: Das Papierhaus, S 18)


Bekommen und Loswerden

Ich verschenke jedes Jahr mindestens fünfzig Bücher an meine Studenten und schaffe es trotzdem nicht, ein neues Bücherregal oder die nächste Doppelreihe zu vermeiden; schweigsam und unschuldig breiten sich die Bücher im ganzen Haus aus und es gelingt mir nicht, sie aufzuhalten. Ich habe mich schon oft gefragt, weshalb ich Bücher für einen eventuellen Gebrauch in ferner Zukunft aufhebe - von meinen heutigen Lesestrecken weitab gelegene Titel, die ich vielleicht nur einmal gelesen habe und in vielen Jahren kein zweites Mal aufschlagen werde. Vielleicht nie. Aber, wie könnte ich mich beispielsweise vom 'Ruf der Wildnis" trennen, ohne eine der wenigen Erinnerungen aus meiner Kindheit zu verlieren, oder von Zorba, mit dem ich die Tränen meiner Jugend verbinde, von 'Die fünfundzwanzigste Stunde' und all den anderen, vor vielen Jahren in die obersten Schrankfächer abgeschobenen Bücher, die mir in schweigender Vollständigkeit die gegenseitig geschworene heilige Treue halten. Häufig ist es schwerer, ein Buch loszuwerden, als es zu bekommen. Durch einen Pakt aus Bedürftigkeit und Vergessen sind sie an uns gebunden wie die Zeugen niemals wiederkehrender Augenblicke in unserem Leben. Solange sie da sind, können wir uns wenigstens einbilden, diese anzuhäufen. (Carlos Maria Dominguez: Das Papierhaus, S 16)


Ein Haus voller Bücher

Riesige Vitrinenschränke voller Bücher bedeckten die Wände vom Boden bis zur Decke. Nicht nur in diesem Raum, auch im Zimmer nebenan. Er führte mich durch das ganze Appartment und ich entdeckte in jedem Raum immer neue Vitrinen, bis zum Rand gefüllt mit Büchersammlungen, in den Fluren gewaltige Schwenkregale mit Nachschlagewerken und mit Vinylschallplatten vollgestopfte Schränke, Bücher im Bad, Bücher in der Toilette, Bücher in der Küche, Bücher in den hinteren Zimmern. Ich vermutete, daß er nicht dort wohnte, was er mir dann auch bestätigte, als wir uns in seinem Wohnzimmer in zwei großen Sesseln vor einer Stereoanlage niedergelassen hatten. "Ich wohne ein Stockwerk höher", antwortete er mir, "mit meiner Frau und bis vor kurzem auch noch mit meinem Sohn. Zuerst hatte ich vor, eine Innentreppe zu bauen, um die beiden Etagen miteinerander zu verbinden, aber dann wurde mir noch rechtzeitig bewußt, daß ich die Bücher vom Familienleben säuberlich getrennt halten mußte, weil es sie sonst beschmutzen würde." (Carlos Maria Dominguez: Das Papierhaus, S 35f.)


Büchergespräch

"Wieviele Bücher stehen hier?" fragte ich. "Offen gestanden, habe ich irgendwann aufgehört zu zählen. Aber ich nehme an, um die achtzehntausend. Ich habe Bücher gekauft, solange ich denken kann. Wer sich eine Bibliothek aufbaut, der baut sich ein ganzes Leben auf. Sie ist nämlich nie die Summe ihrer einzelnen Exemplare." "Das würde ich gerne verstehen." "Sie sammeln sich in den Regalen an und scheinen sich nur zu summieren, aber, verzeihen Sie, wenn ich das so sage: Das ist eine Illusion. Wir befassen uns ja mit ganz bestimmten Themen und haben nach einer gewissen Zeit eine ganz Welt definiert; oder, wenn Ihnen das besser gefällt, eine Reise zurückgelegt, mit dem Vorteil, daß uns ihre Spuren erhalten bleiben. Das ist aber nicht so leicht wie es klingt. Es ist ein Prozeß: Man stellt Bibliographien zusammen, indem man beispielsweise dem Verweis auf ein Buch folgt, das man nicht besitzt. Man schafft es an und läßt sich von ihm zum nächsten führen usw. Obwohl ich Ihnen nicht verheimlichen will, daß ich ein sehr langsamer Leser bin. Ich lese immer alle Anmerkungen mit und beleuchte den Sinn eines jeden Gedanken aus verschiedenen Blickwinkeln. Deshalb setze ich mich auch kaum zum Lesen hin, ohne zwanzig Bücher daneben zu legen, manchmal nur, um mir ein einziges Kapitel zu erarbeiten. Diese Beschäftigung fasziniert mich." (Carlos Maria Dominguez: Das Papierhaus, S 36f.)


Aussichtsloser Fall

Erstausgaben interessieren mich nicht. Meine Bücher sollten im bestmöglichen Zustand sein, sonst bekomme ich es mit der Angst zu tun. Diese Bücherwände hier sind aus Lapacho-Holz gefertigt, ein Holz, das weder Risse noch Spalten aufweist, so daß sich kein Ungeziefer einnisten kann. Die Regale sind eine Sonderanfertigung und bestehen aus zehn Hartholzschichten, mit einem insektenabweisenden Klebstoff verleimt. Ich habe sie mit Glastüren versehen, weil Bücher ja bekanntlich Staub anziehen. Ab und zu lasse ich sie trotzdem vorsorglich ausräuchern, man kann nie wissen. Die Silberfischchen haben Brauer wahnsinnig gemacht." "Hatte der seine Bücher auch in Glasvitrinen?" griff ich das Stichwort auf. Er lächelte und schwieg ein paar Sekunden. "Er hatte sie irgendwo, weil er nicht über die Mittel verfügte, seine beeindruckende Sammlung zu erhalten. Ich habe häufig mit ihm darüber diskutiert. Aber Brauer ist immer ein zwanghafter Leser gewesen. Kaum hatte er Geld, schon setzte er es in Bücher um. Als ich ihn vor etlichen Jahren an den Bücherständen in der Tristan Navaja kennengelernt habe, wußte ich auf Anhieb, daß er ein aussichtsloser Fall war. Man kann das an der Haut erkennen; bei den Abhängigen ist sie leicht pergamentartig." (Carlos Maria Dominguez: Das Papierhaus, S 39)


Aus dem Schlafzimmer vertrieben

"Er hatte im Außenministerium einen guten Posten", fuhr er fort, "lebte allein in seinem Haus in der Calle Cuareim und hat jede Lektüre verschlungen, die ihm in die Finger kam, dazu unzählige Karamelbonbons, die seinen ganzen Fußboden übersäten. Das Bonbonlutschen war bei ihm ein Ersatz für das Rauchen, das ihm die Ärzte verboten hatten, und er hat es genauso exzentrisch betrieben wie das Lesen. Die Bücher nahmen jede Wand von oben nach unten und von links nach rechts ein; sie türmten sich in der Küche und im Bad genauso wie im Schlafzimmer. Nicht im ursprünglichen, denn daraus hatten sie ihn längst vertrieben, sondern in einer Mansarde mit einem kleinen angrenzenden Bad, wo er zum Schlafen hinging. Selbst die Treppe nach dort oben war mit Büchern tapeziert. Die französischen Literatur des 19. Jahrhunderts hielt sozusagen Wache über seinen dürftigen Schlaf. (Carlos Maria Dominguez: Das Papierhaus, S 39)


Nur kalt duschen

Irgendwann hatte er so viele Bücher - über zwanzigtausend, glaube ich -, daß er die Bücherregale in seinem keineswegs kleinen Wohnzimmer quer stellen mußte wie in einer öffentlichen Bücherei. Sogar im Bad standen an allen Wänden Bücher, und sie sind ihm nur deshalb erhalten geblieben, weil er kein warmes Wasser mehr laufen ließ, um den Dampf zu vermeiden. Er duschte kalt, im Sommer wie im Winter." (Carlos Maria Dominguez: Das Papierhaus, S 40)


Notizen eines Lesers

Er war ein heißhungriger Leser und verbrachte nicht bloß vier Stunden, sondern den größten Teil des Tages und die ganze Nacht mit seinen Büchern. Seine Exemplare waren immer hoffnungslos vollgeschrieben. Ich schreibe nie etwas in meine Bücher. Ich mache mir auf einem Extrablatt Notizen und lege diese beim Arbeiten an die entsprechende Stelle ins Buch. Am Schluß hole ich sie heraus und werfe sie in den Papierkorb." "Warum heben Sie die Notizen nicht auf? " fragte ich ihn erstaunt. "Wissen Sie, nicht jeder schreibt. Ich will damit sagen: Nicht jeder sollte es tun. Ich schreibe mir auf, was ich interessant finde. Assoziationen, Hinweise auf andere Bücher und den einen oder anderen Gedankengang. Es sind die Notizen eines Lesers. (Carlos Maria Dominguez: Das Papierhaus, S 41)


Mit jedem Buch vögeln

Ich habe mich oft mit Brauer über diese Dinge ausgetauscht. Ich wollte ihn davon abbringen, seine wertvollen Ausgaben mit diesen häßlichen Kritzeleien vollzuschmieren. Aber er hat natürlich nicht auf mich gehört. Ich warf ihm fehlendes Feingefühl vor, er mir Heuchelei, Dinge, die wir uns im vollsten Vertrauen vorhielten, verstehen Sie mich nicht falsch. Er hat behauptet, daß er die Ränder vollschrieb und den Text manchmal sogar mehrfarbig unterstrich, weil ihm das half, den Sinn zu erfassen. Ich hoffe, ich trete Ihnen nicht zu nahe, wenn ich ihn in seiner recht derben Ausdrucksweise zitiere: 'Ich vögele mit jedem Buch, keine Markierung bedeutet für mich kein Orgasmus.' Ich empfand seine Kritzeleien dagegen als einen Gewaltakt und genauso seine großmäulige Reden. Ich genieße es, ein Buch irgendwo aufzuschlagen, ohne daß sich die Seiten aufstellen, einen gelungenen Zeilenabstand zu betrachten oder ein Druckbild mit breiten, makellosen Seitenrändern, an jedem Geburtstag ein unberührtes Buch aufzuschneiden." (Carlos Maria Dominguez: Das Papierhaus, S 42)


Maßlos und ausgliefert

Das Hauptproblem war, und das sage ich Ihnen unumwunden, daß er in seinem Haus einfach viel zu viele Bücher hatte. Er hätte ein Vermögen gebraucht, um sie vor Feuchtigkeit, Silberfischchen, Motten, Staub und Spinnweben zu schützen. Seine Leselust war in gewisser Weise unkontrollierbar geworden. Was mich betrifft, so finde ich, daß ich viel zu wenig Zeit für meine Lektüre habe. Aber stellen Sie sich einen Mann vor, der den ganzen Tag, und, wenn er will, auch noch die Nacht zur Verfügung hat. Und genügend Geld, um sich jedes Buch zu kaufen, das er haben möchte. So jemand wird maßlos. Er ist seiner Leidenschaft hoffnungslos ausgeliefert. (Carlos Maria Dominguez: Das Papierhaus, S 44)


Bücher katalogisieren

Ich kann mich erinnern, daß er, trotz dieser unhaltbaren Situation, eine Zeitlang versuchte, seinen Katalog auf den neuesten Stand zu bringen. Er konnte die Bücher, die er suchte, nämlich nicht mehr finden. Und das regelmäßig. Ein Buch, das du nicht findest, sagt der Volksmund, gibt es nicht. Aber es kam noch schlimmer. Er besaß einen alten Mahagonischrank von denen, wie sie früher in den Büros standen, mit Schiebetür und Schubkästen. Darin hatte er, wie in einer Leihbücherei, seine Karteikarten untergebracht. Zwanzigtausend Bände kann man nicht einfach so sortieren. Man braucht dafür eine strenge Ordnung, eine geradezu übermenschliche Ordnung, finde ich, ein Ordnungsprinzip und genügend Zeit, sich der leidigen Aufgabe zu widmen, Werke zu katalogisieren, deren Inhalt mit ihren Kennnummern nicht allzuviel zu tun hat. Man muß den Titel und den Autor auf die Karte schreiben, sowie eine knappe Zusammenfassung der besonderen Bedeutung des Buches für einen selbst. Wenn Sie zum Amazonas fahren wollen, dann werden Sie ihre Reise auch gründlich planen, weil Sie wissen, daß das notwendig ist, um dorthin zu kommen oder sich dort zurechtzufinden. Wenn Sie ein Gedicht schreiben wollen, dann brauchen Sie dafür ein Blatt Papier und einen brauchbaren Stift, und wenn Sie eine Frau für sich gewinnen, dann müssen Sie sich in unterschiedlicher und vielleicht lästiger Weise darauf vorbereiten, zum Beispiel indem Sie sich die Fußnägel schneiden. Wenn man eine Bibliothek besitzt wie Brauer, dann ist ein Katalog unerläßlich. Ein Mann kann viele Bücher erobern, aber ein Eroberer hat die Pflicht, sie zu verwalten. Ihm, der immer nur darauf aus war, ein Buch nach dem anderen zu verschlingen, war das natürlich lästig. Seine Kartei war überholt, wie ich glaube, sogar sehr. Ich traute ihm nicht zu, das zu schaffen, aber nach einigen Monaten teilte er mir mit, daß er so gut wie fertig sei. 'Das schlimmste', sagte er, 'was mich am meisten Arbeit kostet, sind die Emotionen.' Das war der erste Hinweis, daß etwas mit ihm nicht stimmte. Genau dort, wo Sie jetzt sitzen, saß er eines Nachmittags und schilderte mir, wie mühselig es sei, die zerstrittenen Autoren in verschiedenen Regalfächern unterzubringen. So wagte er beispielsweise nicht, ein Buch von Borges neben eins von Garcia Lorca zu stellen, den der Argentinier einmal als 'Berufs-Andalusier' beschimpft hatte. Auch nicht, ein Werk von Shakespeare neben eins von Marlow, wegen der Plagiats-Vorwürfe beider Autoren, obwohl dadurch die fortlaufende Numerierung seiner Sammlung durcheinander geriet. Natürlich auch nicht einen Martin Amis neben einen Julian Barnes, nachdem die Freunde sich verstritten hatten, oder einen Vargas Llosa neben einen Garcia Marquez. (Carlos Maria Dominguez: Das Papierhaus, S 48f.)


Die Musikalität des Lesens

Seit zwei Monaten, so erzählte man mir, gönne Carlos sich den Luxus, die Franzosen des 19. Jahrhunderts im Kerzenlicht zu lesen und verwende dafür einen silbernen Kandelaber. Wir hatten uns vor längerem darüber unterhalten, weil auch ich meine Freude daran habe, Goethe zu lesen, während aus meiner Stereoanlage eine Wagneroper erklingt, oder Baudelaire mit Debussy zu begleiten. Es gehört zum Reisen dazu, und ich kann Ihnen versichern, daß es in jeder Beziehung ein Lustgewinn ist. Vielleicht wissen Sie ja, daß man beim stillen Lesen die Buchstabenlaute in einer nicht wahrnehmbaren Frequenz aussendet. Eine Lektüre ist also nie stumm, denn die Stimme ist immer ganz leise beteiligt. Sie führt die Zeile aus wie ein Instrument die Partitur und glauben Sie mir, dieses Lauschen ist genauso wichtig wie das Sehen. Man erschafft einen Ton, eine Melodie aus Worten und Sätzen, und wenn Sie diese mit einer leisen Musik unterlegen, dann entsteht tief innen in Ihrem Trommelfell ein harmonischer Kontrapunkt zwischen Ihrer Stimme und den Klängen aus dem Lautsprecher. Wenn diese nur wenige Dezibel zu laut sind, dann übertönt die Musik Ihre Stimme und bringt den Text zum Schweigen. Oder verzerrt ihn. So kann man schlechte Prosa um einiges aufwerten, indem man ein gutes Konzert dazu hört. (Carlos Maria Dominguez: Das Papierhaus, S 53)


Im Kerzenlicht

Wir hatten also die Idee, unseren Lesegenuß durch Kerzenlicht zu verfeinern, aber nur bei Werken aus der Zeit vor dem elektrischen Licht. Wenn Ihnen das exzentrisch und überspannt vorkommt, dann schauen Sie sich mal ein Ölgemälde im Kerzenschein an. Sie werden feststellen, daß es völlig anders aussieht als bei der allerbesten künstlichen Beleuchtung. Es ist ein neues Bild, die Schatten werden lebendig, und es scheint fast als würde das aus Pigmenten und Öl geschaffene Licht in das umgebende Zimmer hineinfließen. Die Räume weiten sich aus, und Sie betreten eine ungeahnte Dimension. Dasselbe gilt für bestimmte Bücher, eine Buchseite ist nämlich gleichzeitig eine großartige Zeichnung, ein Spiel aus Linien und kleinen, von Vokal zu Konsonant immer wiederkehrenden Figuren, die ihren eigenen Gesetzen von Rhythmus und Komposition folgen. Man sollte daher niemals den Satzspiegel geringschätzen, ebensowenig wie den Schriftgrat, die Randmaße, die Beschaffenheit des Papiers, die rechtseitige oder mittige Seitennumerierung, all diese Details, aus denen das Gesamtbild entsteht. Ein Buch kann noch so neu sein und sein Papier noch so weiß, im Kerzenlicht wird es von einer Patina überzogen und offenbart Nuancen von großem Reiz. (Carlos Maria Dominguez: Das Papierhaus, S 54f.)


Alptraum Feuer

Jeder Erwähnung des Feuers läßt bei einem Bücherfreund einen Traum verbrennen. Wir wissen, daß es etwas ganz Reales ist, das irgendwo lauert und uns für immer vernichten kann. Deshalb vermeiden wir, davon zu sprechen und bilden uns ein, daß es uns nicht treffen wird, wenn wir nicht darüber reden. (Carlos Maria Dominguez: Das Papierhaus, S 58)


Bücher & Schicksale

Im Laufe der Jahre habe ich Bücher den Zweck erfüllen sehen, einen wackeligen Tisch zu stützen oder, zu einem Turm aufgeschichtet und mit einem Deckchen darüber gebreitet, einen Beistelltisch abzugeben; viele Wörterbücher haben öfter Dinge geglättet und gepresst, denn als Nachschlagewerke gedient; und die Anzahl der heuchlerisch in den Regalen aufgestellten Bücher, die in Wirklichkeit Depots für Briefe, Geld und Geheimnisse sind, ist nicht zu unterschätzen. Die Menschen verändern auch das Schicksal der Bücher. Eher geht eine Vase zu Bruch, versagt uns eine Kaffeemaschine oder ein Fernseher seinen Dienst als ein Buch. Das geht nicht kaputt, außer sein Besitzer zerstört es mutwillig, reißt ihm die Seiten aus oder verbrennt es. In Argentinien haben während der letzten Militärdiktatur viele Menschen ihre Bücher in der Toilettenschüssel oder der Badewanne verbrannt und ganze Sammlungen im hintersten Gartenwinkel vergraben, weil sie ihnen gefährlich wurden. Sie schwangen sich zu Richtern über sie auf, und die Leute mußten zwischen ihnen und dem Leben wählen. Bücher, die ausführlich studiert und diskutiert worden waren, Bücher, die Leidenschaften geweckt und zu unwiderruflichen Verpflichtungen abseits von alten Freundschaften geführt hatten, stiegen als Asche, vom Wind zerstreut, zum Himmel auf. Dazu hat mir der Mut gefehlt. Ich habe meine Zeitschriften in das Duschvorhangrohr gerollt und die bedrohlichsten Werke in der letzten Schrankecke und der hintersten Reihe im Bücherregal versteckt, weil ihr plötzliches Verbuddeln mich nur verraten hätte. Bücher haben damals viele Menschen angeklagt. Und ihr Leben zerstört. Das Verhältnis der Menschheit zu diesem resistenten Objekt, das imstande ist, ein, zwei oder zwanzig Jahrhunderte zu überdauern und wenn nötig auch noch im Sand der Zeit zu überleben, war nie harmlos. Eher kann man sagen, daß die weiche, unverwüstliche Holzfaser oft schicksalhaft mit uns Menschen verknüpft ist. (Carlos Maria Dominguez: Das Papierhaus, S. 64)


© Carlos Maria Dominguez: Das Papierhaus, Frankfurt/M.: Eichborn, 2004. 93 Seiten. ISBN 3-82218-5730-7)


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