Bücherüberschwemmung


von Jose Maria Eça de Queiroz

Oh, die Bücherüberschwemmung in Nr. 202! Einzeln, paarweise, in Paketen, in Kisten, dünn- oder dickleibig, strotzend von Wissen und Autorität, in plebejisch-gelbe Pappdeckel gehüllt oder in Ziegenleder und Gold gebunden, fluten sie in ununterbrochenem Strom durch alle Türen der Bibliothek, wo sie sich über den Teppich ergossen, auf den weichen Stühlen breit machten, sich auf den schweren Tischen türmten und besonders an den Fenstern in gierigen Stapeln hochkrochen, als strebten sie, erstickt durch die eigene Menge, beklommen nach Raum und Luft. In dem gelehrten Schiff, wo kaum ein paar höhergelegene Fensterscheiben frei geblieben waren, herrschte fortwährend eine nachdenkliche Oktoberdämmerung, während draußen der Junitag leuchtete. Das ganze Haus schien eine einzige Bibliothek geworden zu sein. Man konnte keinen Schrank öffnen, ohne daß einem haltlos ein Bücherstapel entgegenstürzte. Zog man einen Vorhang zurück, stieg dahinter ein behäbiger Haufen Bücher in die Höhe. Aber maßlos war meine Empörung, als ich eines Morgens, die Hände am Hosenträger, durch den Gang eilte und die Türe zum WC durch eine umfangreiche Sammlung von "Sozialen Studien" versperrt fand. Mit noch größerer Erbitterung aber erinnere ich mich an jene historische Nacht, wo ich, von einer Spazierfahrt nach Versailles gerädert und mit staubverklebten, halbgeschlossenen Lidern zurückkehrend, von meinem Bett fluchend ein grausiges "Technisches Wörterbuch" in siebenunddreißig Bänden herunterwälzen mußte! Damals empfand ich einen Überdruß am Buch im höchsten Grade.

Während ich mit Püffen mein Kissen und Federbett aufschüttelte, verwünschte ich den Buchdruck, ich fluchte der menschlischen Beredsamkeit... Und schon streckte ich mich aus und war im Begriff, einzuschlafen, als ich - fast hätte es mich meine Kniescheibe gekostet - gegen den Rücken eines Bandes stieß, der sich tückisch zwischen Wand und Matraze eingenistet hatte. Wütend und wild fluchend packte ich das unverschämte Buch und schleuderte es weit fort. Es stieß eine Wasserkaraffe um, die den kostbaren Daghestanteppich überschwemmte. Ich weiß nicht mehr, ob ich nachher eingeschlafen bin, weil ich - wie von einem sanften Windhauch fortgetragen, so daß ich meinen eigenen Schritt weder hörte noch spürte-, fortfuhr, über Bücher zu stolpern, in dem dunklen Gang, im Kies des Gartens, der im Mondlicht weiß schimmerte, in der Avenue des Champs-Elysees, die wie bei einem Volksfest von lärmenden Menschen wimmelte. Und welches Wunder! Alle Häuser zu beiden Zweigen der Kastanien flatterten Buchblätter. Die Herren und vornehmen Damen waren in bedrucktes Papier gekleidet; ihre Rücken wiesen Buchtitel auf, statt des Gesichts zeigten sie ein aufgeschlagenes Buch, dessen Seiten eine leichte Brise sacht umwendete. Im Hintergrund sah ich auf der Place de la Concorde einen steil aufragenden Bücherberg, den ich keuchend zu erklimmen suchte, bald knietief in einer wabbeligen Schicht von Versen versinkend, bald gegen den kieselharten Rücken von Bänden der Exegese und Kritik stoßend.

Ich erkletterte so weite Höhen über dem Erdball, über den Wolken, daß ich mich auf einem bestürzt unter den Sternen wiederfand. Groß, heiter und stumm zogen sie ihre Kreise, überzogen von einer dicken Bücherkruste, aus der da und dort zwischen zwei locker aufeinanderliegenden Bänden ein schwacher Strahl halb erstickten, sehnsüchtigen Lichts hervorbrach. So stieg ich bis zum Paradies empor. Sicherlich war es das Paradies, da ich mit meinen staubgeborenen Augen den Urewigen erkannte. Den, der weder Abend noch Morgen hat. In der Helligkeit, die, leuchtender als alles übrige Licht, von ihm ausstrahlte, saß der Allerhöchste zwischen hohen goldenen, mit Gesetzesbüchern vollgepfopften Bücherregalen auf uralten Folianten, während die Flocken seines endlosen Bartes über Stöße von Flugschriften, Broschüren, Zeitungen und Katalogen niederwallten, und - las. Die übergöttliche Stirn, die die Welt ersonnen hatte, ruhte in der überstarken Hand, die die Welt geschaffen hatte, und der Schöpfer las und lächelte. Von heiligem Schrecken durchschauert, wagte ich über seine strahlende Schulter zu spähen. Es war ein broschierter Dreifrankenband. Der Ewige las Voltaire in einer wohlfeilen Ausgabe und lächelte. Eine Tür blitzte und knarrte, wie wenn jemand ins Paradies eingetreten wäre. Ich meinte, ein neuer Heiliger sei von der Erde angekommen. Es war Jacinto mit brennender Zigarre, eine Nelke im Knopfloch, drei gelbgebundene Bücher unter dem Arm, die ihm die Prinzessin von Carman zum Lesen geliehen hatte!


Jose Maria Eça de Queiroz: Stadt und Gebirg. Manesse, 1963. S. 105ff.


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