Die Unendliche Geschichte


von Michael Ende

Bastian wurde sich bewusst, dass er die ganze Zeit schon auf das Buch starrte, das Herr Koreander vorher in Händen gehalten hatte und das nun auf dem Ledersessel lag. Er konnte einfach seine Augen nicht abwenden davon. Es war ihm, als ginge eine Art Magnetkraft davon aus, die ihn unwiderstehlich anzog. Er näherte sich dem Sessel, er streckte langsam die Hand aus, er berührte das Buch - und im gleichen Augenblick machte etwas in seinem Inneren „klick!“, so als habe sich eine Falle geschlossen. Bastian hatte das dunkle Gefühl, dass mit dieser Berührung etwas Unwiderrufliches begonnen hatte und nun seinen Lauf nehmen würde. Er hob das Buch hoch und betrachtete es von allen Seiten. Der Einband war aus kupferfarbener Seide und schimmerte, wenn er es hin und her drehte. Bei flüchtigem Durchblättern sah er, dass die Schrift in zwei verschiedenen Farben gedruckt war. Bilder schien es keine zu geben, aber wunderschöne, große Anfangsbuchstaben. Als er den Einband noch einmal genauer betrachtete, entdeckte er darauf zwei Schlangen, eine helle und eine dunkle, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen und so ein Oval bildeten. Und in diesem Oval stand in eigentümlich verschlungenen Buchstaben der Titel: Die unendliche Geschichte Es ist eine rätselhafte Sache um die menschlichen Leidenschaften, und Kindern geht es damit nicht anders als Erwachsenen. Diejenigen, die davon befallen werden, können sie nicht erklären, und diejenigen, die nichts dergleichen je erlebt haben, können sie nicht begreifen. Es gibt Menschen, die setzen ihr Leben aufs Spiel, um einen Berggipfel zu bezwingen. Niemand, nicht einmal sie selbst, könnten wirklich erklären warum. Andere ruinieren sich, um das Herz einer bestimmten Person zu erobern, die nichts von ihnen wissen will.

Wieder andere richten sich zugrunde, weil sie den Genüssen des Gaumens nicht widerstehen können - oder denen der Flasche. Manche geben all ihr Hab und Gut hin, um im Glücksspiel zu gewinnen, oder opfern alles einer fixen Idee, die niemals Wirklichkeit werden kann. Einige glauben, nur dann glücklich sein zu können, wenn sie woanders wären, als sie sind, und reisen ihr Leben lang durch die Welt. Und ein paar finden keine Ruhe, ehe sie nicht mächtig geworden sind. Kurzum, es gibt so viele verschiedene Leidenschaften, wie es verschiedene Menschen gibt. Für Bastian Baltasar Bux waren es die Bücher. Wer niemals ganze Nachmittage lang mit glühenden Ohren und verstrubbeltem Haar über einem Buch saß und las und las und die Welt um sich her vergaß, nicht mehr merkte, dass er hungrig wurde oder fror Wer niemals heimlich beim Schein einer Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen hat, weil Vater oder Mutter oder sonst irgendeine besorgte Person einem das Licht ausknipste mit der gutgemeinten Begründung, man müsse jetzt schlafen, da man doch morgen so früh aus den Federn sollte Wer niemals offen oder im geheimen bitterliche Tränen vergossen hat, weil eine wunderbare Geschichte zu Ende ging und man Abschied nehmen musste von den Gestalten, mit denen man gemeinsam so viele Abenteuer erlebt hatte, die man liebte und bewunderte, um die man gebangt und für die man gehofft hatte, und ohne deren Gesellschaft einem das Leben leer und sinnlos schien Wer nichts von alledem aus eigener Erfahrung kennt, nun, der wird wahrscheinlich nicht begreifen können, was Bastian jetzt tat. Er starrte auf den Titel des Buches, und ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Das, genau das war es, wovon er schon oft geträumt und was er sich, seit er von seiner Leidenschaft befallen war, gewünscht hatte: Eine Geschichte, die niemals zu Ende ging! Das Buch aller Bücher! Er musste dieses Buch haben, koste es, was es wolle!

Koste es, was es wolle? Das war leicht gesagt! Selbst wenn er mehr als die drei Mark und fünfzehn Pfennig Taschengeld, die er bei sich trug, hätte anbieten können - dieser unfreundliche Herr Koreander hatte ja nur allzu deutlich zu verstehen gegeben, dass er ihm kein einziges Buch verkaufen würde. Und verschenken würde er es schon gar nicht. Die Sache war hoffnungslos. Und doch wusste Bastian, dass er ohne das Buch nicht weggehen konnte. Jetzt war ihm klar, dass er überhaupt nur wegen dieses Buches hierher gekommen war, es hatte ihn auf geheimnisvolle Art gerufen, weil es zu ihm wollte, weil es eigentlich schon seit immer ihm gehörte! Bastian lauschte auf das Gemurmel, das nach wie vor aus dem Kabinett zu hören war. Ehe er sich's versah, hatte er plötzlich ganz schnell das Buch unter seinen Mantel gesteckt und presste es dort mit beiden Armen an sich. Ohne ein Geräusch zu machen ging er rückwärts auf die Ladentür zu, wobei er die andere Tür, die zum Kabinett, ängstlich im Auge behielt. Vorsichtig drückte er auf die Klinke. Er wollte verhindern, dass die Messingglöckchen Lärm machten, deshalb öffnete er die Glastür nur so weit, dass er sich gerade eben durchzwängen konnte. Leise und behutsam schloss er die die Tür von außen. Erst dann begann er zu rennen.


"Eins steht fest: Du hast mir dieses Buch nicht gestohlen, denn es gehört weder mir noch dir, noch sonst irgendeinem anderen. Wenn ich mich nicht irre, dann stammte es selbst schon aus Phantásien. Wer weiß, vielleicht hat es genau in diesem Augenblick gerade jemand anders in der Hand und liest darin." "Dann glauben Sie mir also?" fragte Bastian. "Selbstverständlich", antwortete Herr Koreander, "jeder vernünftige Mensch würde das tun." "Ehrlich gesagt", meinte Bastian, "damit habe ich nicht gerechnet." "Es gibt Menschen, die können nie nach Phantásien kommen", sagte Herr Koreander, "und es gibt Menschen, die können es, aber sie bleiben für immer dort. Und dann gibt es noch einige, die gehen nach Phantásien und kehren wieder zurück. So wie du. Und die machen beiden Welten gesund." "Ach", sagte Bastian und wurde ein wenig rot, "ich kann eigentlich nichts dafür. Um ein Haar wäre ich nicht zurückgekommen. Wenn Atréju nicht gewesen wäre, säße ich jetzt bestimmt für immer in der Alten Kaiser Stadt." Herr Koreander nickte und paffte nachdenklich vor sich hin. "Tja", brummte er, "du hast Glück, dass du einen Freund in Phantásien hast. Das hat, weiß Gott, nicht jeder." "Herr Koreander", fragte Bastian, "woher wissen Sie das alles? - Ich meine - waren Sie auch schon mal in Phantásien?" "Selbstverständlich", sagte Herr Koreander. "Aber dann", meinte Bastian, "dann müssen Sie doch auch Mondenkind kennen!" "Ja, ich kennen die Kindliche Kaiserin", sagte Herr Koreander, "allerdings nicht unter diesem Namen. Ich habe sie anderes genannt. Aber das spielt keine Rolle." "Dann müssen Sie doch auch das Buch kennen!" rief Bastian, "dann haben Sie ja doch die Unendliche Geschichte gelesen!"

Herr Koreander schüttelte den Kopf. "Jede wirkliche Geschichte ist eine Unendliche Geschichte." Er ließ seinen Blick über die vielen Bücher schweifen, die bis unter die Decke hinauf an den Wänden standen, dann zeigte er mit dem Stiel seiner Pfeife darauf und fuhr fort: "Es gibt eine Menge Türen nach Phantásien, mein Junge. Es gibt noch mehr solche Zauberbücher. Viele Leute merken nichts davon. Es kommt eben darauf an, wer ein solches Buch in die Hand bekommt." "Dann ist die Unendliche Geschichte also für jeden anders?" "Das will ich meinen", versetzte Herr Koreander, "außerdem gibt es nicht nur Bücher, es gibt noch andere Möglichkeiten, nach Phantásien und wieder zurück zu kommen. Das wirst du noch merken." "Meinen Sie?" fragte Bastian hoffnungsvoll, "aber dann müsste ich Mondenkind doch noch mal begegnen, und jeder begegnet ihr doch nur ein einziges Mal." Herr Koreander beugte sich vor und dämpfte seine Stimme. "Lass dir etwas von einem alten, erfahrenen Phantásienreisenden sagen, mein Junge! Es ist ein Geheimnis, das in Phantásien niemand wissen kann. Wenn du nachdenkst, wirst du auch verstehen, warum das so ist. Zu Mondenkind kannst du kein zweites Mal kommen, das ist richtig - solang sie Mondenkind ist. Aber wenn du ihr einen neunen Namen geben kannst, wirst du sie wiedersehen. Und so oft dir das gelingt, wird es jedes Mal wieder das erste und einzige Mal sein" Über Herrn Koreanders Bulldoggengesicht lag für einen Augenblick ein weicher Schimmer, der es jung und beinahe schön erscheinen ließ. "Danke, Herr Koreander" sagte Bastian. "Ich muß mich bei dir bedanken, mein Junge", antwortete Herr Koreander. "Ich fände es nett, wenn du dich ab und zu hier bei mir blicken lassen würdest, damit wir unsere Erfahrungen austauschen. Es gibt nocht so viele Leute, mit denen man über solche Dinge sprechen kann." Er streckte Bastian die Hand hin. "Abgemacht?" "Gern", sagte Bastian und schlug ein "Ich muss jetzt gehen. Mein Vater wartet. Aber ich komm' bald wieder."


Michael Ende: Die Unendliche Geschichte. Stuttgart 1979, S. 10ff.


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