Schnüffelstückglück


von Till Frommann

Japaner schnuppern gerne an gebrauchten Unterhöschen. Nicht, dass das etwas Neues wäre – unsere kleinen, gelben Freunde sind schon immer ein merkwürdiges Völkchen gewesen. Doch es soll nun nicht um Japaner und ihre sexuellen Vorlieben gehen, viel eher geht es wieder einmal um mich. Ich schnüffle zwar nicht an getragenen Frauenslips und Japaner bin ich genauso wenig, doch die Parallelen sind deutlich sichtbar. Antiquariate sind toll. Was man dort alles finden kann, wenn man nur lang genug sucht! Alte, vergilbte Fotos aus Urururgroßmutters Zeiten. Steinzeitliche Möbelstücke, denen man auf den ersten Blick ansieht, dass sie in ihrem Leben schon viel erlebt haben und beileibe nicht viel mehr erleben wollen beziehungsweise können – bald schon werden sie in sich zusammenfallen, und einzig und allein eine gigantische Staubwolke wird von ihnen übrig bleiben. Das Allerschönste an Antiquariaten ist jedoch der Geruch alter Bücher. Das süßlich-vergilbte Kribbeln in der Nase, wenn man an ihnen schnuppert. Herrlich! Ich gestehe: Ich rieche wirklich und wahrhaftig gerne an alten Büchern und Papier im Allgemeinen. Die alten Nachkriegszeit- Taschenbücher! Wer seine Nase einmal in diese Lektüre vergraben hat, der wird nicht wieder zwischen den Buchdeckeln hervorkrabbeln wollen. Was interessiert schon, was in den Asbach-Uralt-Werken geschrieben steht, wenn der Geruch jedem süßlichen Deodorant das Wasser reichen kann.

Und der Unterschied zwischen Alt und Neu ist leicht nachvollziehbar: Zum Vergleich rieche man zuerst an der heutigen Ausgabe der Tageszeitung und dann an einem alten, zerlesenen Buch. Die Zeitung riecht nach Fabrik und Plastik, das Buch aus der weit entfernt zurückliegenden Zeitepoche riecht nach vergessenen Augenblicken, nach einer bewegten Vergangenheit und nach dem Mysterium des Vergessenen. Welche Menschen dieses Buch wohl schon in den Händen gehalten haben mögen? Was werden sie erlebt haben? Und waren sie glücklich? Wie sah ihr Alltag in ihrer vorsintflutlichen Steinzeitwelt ohne Mikrowelle, DVD- Player und Kabelfernsehen aus? Plötzlich tippt mir jemand auf die Schulter, und ich zucke erschrocken zusammen. "Walum liechen Sie an Bücheln?", fragt mich ein vier Köpfe kleinerer Japaner und winkt mir mit einem roten Frauenslip zu. "Das ist viel bessel", will er mir einreden, "viel, viel bessel als Büchel sind Flauenuntelhöschen!" Ich sehe den Schlitzäugigen voller Verachtung an und drücke ihm ein vergilbtes Buch mit integriertem Wohlfühlgeruch in die Hand. "Stimmt überhaupt nicht. Hier! Riechen Sie mal."

Und so stehen wir beide, der überzeugte Japaner und ich, noch mehrere Stunden in dem Antiquariat und diskutieren darüber, ob die Erstausgabe von Franz Kafkas "Amerika" besser riecht als eine leicht lädierte Gutenbergbibel, ob "Krieg und Frieden" angenehmer in der Nase juckt als "Krieg der Welten" und ob Kants "Kritik der reinen Vernunft" ein anspruchsvolleres Riechvergnügen bietet als Friedrich Nietzsches "Also sprach Zarathustra". Ich nehme noch einen letzten Zug aus der Zeitmaschine in Form eines Fünfziger-Jahre- Science-Fiction- Taschenbuchs, dann schließt das Antiquariat, und ich falle zurück in die Gegenwart. Der Japaner und ich gehen getrennte Wege, aber für morgen haben wir uns wieder verabredet. Es gibt noch soviel Unentdecktes zu erschnuppern, das wird eine wahrhaft gehörige Riechorgie morgen. Hier in der Gegenwart stinkt alles nach Plastik! Nach Künstlichem! Nach modernem Mief! Nichts kann vergilbtem Papier das Wasser reichen. Nichts! Nicht einmal der Geruch getragener Slips. Meinen neu gefundenen Freund, den Japaner, hatte ich jedenfalls ohne großartige Probleme missionieren können. "Nie wiedel Flauenuntelhöschen", hat er mir hoch und heilig versprochen, "nie, nie wiedel."


Mit freundlicher Genehmigung: Quelle und © Till Frommann, 2002


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