Lesen ist gefährlich!


Horst Günther

Wir gewöhnen uns zu schnell daran, daß sich die Erfahrung der Welt in Büchern konserviert und durch Bücher vermittelt. Uns begegnen die Bücher in großer Menge, in ermüdender Vielfalt und Wiederholung und stapelweise. Man kann sich einmal die Welt vor Augen führen, als Bücher selten und geheimnisvoll waren. Nur wenige konnten lesen. Die Herstellung eines einzigen Buches dauerte Wochen des Schreibens, und dabei mußten die Vorarbeiten längst geleistet sein. Die Schafe oder Ziegen geschlachtet, aus ihren Häuten das Pergament bereitet und liniert. Dazu die Tinte und die Federkiele. Ging es um ein Exemplar, so schrieb einer es nach dem Vorbild ab, oft ohne es zu verstehen. Randbemerkungen eines Lesers etwa konnten in den Text eingefügt werden, Lesefehler, Zeilenspruenge usw. Brauchte man mehrere Exemplare, so las einer den Text vor, und die anderen schrieben ihn, nun mit der Gefahr von Hörfehlern, Verwechslungen von Laut und Sinn usw. Das Ergebnis war kostbar und selten, man mußte weit suchen, um ein bestimmtes Buch zu finden. In den wenigen guten Bibliotheken wurden die wichtigen Werke angekettet, damit sie nicht verlegt und verschleppt wuerden; von einem Buch zehrten viele. Lange Zeit las man laut, und man las oft zusammen. Bücher wurden mit ihren Inhalt identifiziert. Heilige Schriften waren heilige Gegenstände. Vergil galt als Zauberer.

Dante berichtet in der "Göttlichen Komödie" von einer gefährlichen Lektüre. Nur "zum Vergnügen" lasen Francesca und Paolo da Rimini, ihr Schwager, in dem höfischen Roman des Lancelot du Lac. "Wir waren ganz allein und ohne Arg. Zum öfteren trafen schon sich unsere Blicke beim Lesen, es entfärbte sich das Antlitz. doch was uns ganz besiegte, war die Stelle, da man liest, wie das ersehnte Lächeln ein Kuß der hohen Liebenden erweckt. Da küßte mich, der sich nie von mir trennt, ganz bebend auf den Mund. Verführer wurde uns das Buch und der's geschrieben hatte." "An diesem Tage lasen wir nicht weiter." Das macht auf Dante einen ungeheuren Eindruck. Er ist bei seiner Reise durch das Jenseits - Unterwelt, Fegefeuer und Paradies - noch nicht weit gekommen (Inferno, 5. Gesang). Es sind höfische Liebende, denen er begegnet. Ihr Seufzen läßt ihn voller Schwermut weinen. Aber ihn leitet die Suche nach Erkenntnis, und so muß er nach der Ursache ihres Leidens fragen. Und während Francescas Schatten ihm Bericht erstattet, weint in höllischer Qual und seliger Erinnerung der Schatten Paolos so, "daß ich vor Mitleid ohnmächtig wurde, als ob ich stürbe, und niederfiel, wie tote Körper fallen". Das sind wir nicht gewohnt. Schriftsteller des Schreckens spielen seither die Tapferen. Dante wird auf seiner nie zuvor gewagten Jenseitsreise mehrfach, wie er berichtet, ohnmächtig. Er teilt Entsetzen, Abscheu, Hohn und Mitleid jeweils mit. Er kann nicht den kühlen Beobachter spielen. Neuere Autoren hätten davor Angst, eine Ohnmacht wäre wie eine Sendestörung im Funk. In diesem Buch hingegen, in dem sehr viel Erschreckenderes geschildert wird, ist ein Kuß die Sünde, die über die Verdammung entscheidet. Anlaß, Verführer, waren das Buch und sein Autor.

Das Buch im Buch. Der Leser nimmt, vielleicht mit einer Leserin, an der Lektüre teil. Francesca schildert, wie ihr und Paolo geschah, als sie gemeinsam lasen und das Gelesene ihr unausgesprochenes Gefühl in Worte und zur Tat brachte, zur Sünde und ewigen Verdammnis. An manchen Stellen warnt Dante den Leser vor der gefährlichen Fahrt. "Don Quijote" war durch das uebermäßiges Lesen von Ritterbüchern, die er ernst genommen hatte, um den Verstand gekommen. Deshalb verbrennt der Pfarrer mit der Magd die gefährlichen Schriften. Ein großes ironisches Werk der Literatur beginnt mit einer Bücherverbrennung. Und wie der Pfarrer einige der Bücher nennt, kommentiert und ein paar vor dem Feuer rettet, entsteht eine merkwürdige Bibliographie mit der Empfehlung von ein paar Büchern, durch die man anscheinend nicht närrisch wird. Das beste sei der (erst jüngst ins Deutsche übersetzte) Roman vom weißen Ritter Tirant lo Blanch, von dem Katalanen Martorell.


© Horst Guenther: Lesen ist gefährlich in: Derselbe: Das Bücherlesebuch, Berlin: Wagenbach , 1994. S. 14 bis 15.


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