Die Magie des Erzählens


von Kjell Johannson

Es gibt eine Geschichte über... Welche Erwartung weckt nicht dieses Wort! Worüber, über wen? Es gibt eine Geschichte über... Ich habe eine kurze Geschichte, eine über mich; über mich als ganz kleinen Jungen, so daß ich nicht einmal weiß, wer dabei gewesen ist. Vermutlich bat ich meine Mutter, zu mir zu kommen. "Mama, komm!" Und sie kam! Sie kam zu mir, weil ich gesagt hatte, sie solle es tun. Eine starke Erregung ergriff mich, eine unerhörte Freude darüber, wie meine Worte wirkten. Ich hatte die Macht des Wortes entdeckt; mit dem Wort herrschte ich über ein Reich unendlicher Möglichkeiten. Mit der Zeit stellte sich natürlich die Enttäuschung darüber ein, daß das Wort nicht immer wirkte; offensichtlich war die Sprache unzureichend. Aber das frühe Erlebnis lebte doch viel stärker in mir. Die Überzeugung, daß die Sprache über die Wirklichkeit bestimmt, mag falsch sein; gleichwohl kommt dieser magische Glaube immer wieder mit voller Kraft zurück, wenn ich ein Buch lese - oder eines schreibe.

Eine andere frühe Erinnerung: ein Abend, an dem die Dämmerung im Begriff ist, sich herabzusenken und unsere Welt zu verändern. Es gibt eine Geschichte über ..., sagte Vater, und wir lauschten, und dann kommen seine Worte ohne Hast. Er erzählt für uns, die wir zuhören, liebevoll und offenbar mit Respekt; seine Stimme ist ruhig, obgleich der Inhalt der Geschichte unangenehm ist. Und ich bekomme keine Angst, sondern - im Gegenteil - seine Worte dringen ganz tief in mich und erfüllen mich mit großer und heller Freude. Mitunter finde ich in den Büchern, die ich lese, dieselbe Einstellung wieder: einen Autor mit dieser Ruhe und diesem Respekt für seine Leser. Ich habe in meiner Kindheit vielen Geschichten gelauscht: so Großmutters Geschichten, die weder realistisch waren noch richtige Märchen oder anders phantastisch. Sie handelten von mächtigen Burgherren, mächtigen Herren überhaupt, aber auch vom Aufruhr gegen diese Herren. Erst viel später begriff ich, daß sie, meine Großmutter, um mich in die rechte Lehre einzuführen, spannende Abenteuergeschichten aus den sozialistischen Schriften erschaffen hatte.

Und so Mamas Geschichten; auch wenn sie nur höchst Alltägliches erzählte, so hörte ich ihren Worten genußvoll zu. Wichtig war eigentlich nicht so sehr das Erzählte, sondern die Situation selbst war es, die ich sehr genoß; diese Urszene, wo jemand einem anderem etwas erzählt, wobei alle diese drei Elemente gleich wichtig sind. Soweit ich mich erinnere, wurde in Midsommarkransen, dem Stockholmer Vorort, wo ich aufwuchs, immer und überall erzählt, zu Hause, an der Straßenecke, im Badehaus; überall dort gab es Zuhörer, nicht zuletzt im Café Svanen. Dort versammelten sich die geschicktesten Erzähler rund um den großen Erzähltisch, rund um die Phantasie und die Freude und den sonderbaren Ernst. Sie erzählten von der Geschichte der Gegend, von Häusern und Arbeitsplätzen, genaugenommen über alles. Und mit ihren Geschichten bewahrten sie Ereignisse und Personen, die es wert waren, erinnert zu werden, für die Zukunft auf. Stor-Evald Eriksson hieß der eine, Ljug Lagom nannte man den anderen. Es gibt eine Geschichte über...

Er ist kein Zufall, daß ich bislang soviel vom mündlichen Erzählen gesprochen habe. Es traf mich einmal mit großer Kraft, und für mich ist dies der Beginn allen Erzählens; das ist auch heute noch so, wenn ich darüber in einem Buch lese. Deutlich höre ich die Stimme des Autors, die durch das geschriebene Wort zu mir spricht, und dann bilde ich mir nahezu ein, daß dieser neben mir sitzt und erzählt. Aber natürlich ist es nicht so, da Autoren nicht allen Lesern einen Hausbesuch abstatten können; und insbesondere verstorbenen Autoren dürfte das nur schwer möglich sein. Aber es gibt Bücher, welche uns alle einladen, zuzuhören, aber auch zu sprechen, teilzunehmen in der Hoffnung, daß aus diesem gemeinsamen Gespräch eine bessere Welt entstehen möge. Eine Welt ist auch jeder Roman; eine Welt, deren Wahrheit aus Lüge und Fiktion geschaffen ist. Diese Welt ist wirklich und unwirklich zugleich, aber ihr eignet eine Ordnung, welche die Realität um uns herum selten zeigt, oder dem Teil von uns - fremd, wie wir uns selbst sind -, der unsicher, betrübt und traurig ist. Solange aber die Erzählung fortdauert, solange wir lesen, können wir uns geborgen fühlen. Das ist wie in "Tausendundeine Nacht": Solange die Erzählung andauert, kann kein Unglück passieren. Geborgenheit und Trost, aber auch noch mehr: Kenntnisse und Einsichten. Oder gibt es etwas Besseres als das Lesen, das uns wahrhaft tiefergehende Einsichten in die Gesellschaft und den Menschen geben könnte?

Die in Romanen dargestellte Wirklichkeit erkennen wir wieder und sollten sie wiedererkennen; aber jedes Buch enthält mehr als das; das Fremde nämlich, das wir nicht wiedererkennen, sondern vielmehr nur ahnen. Und noch eine Wirklichkeit tritt hervor, die wir Möglichkeit nennen wollen, über die wir bislang nichts wissen, deren Existenz wir nun aber schemenhaft fort wahrnehmen, wo die Worte aufblitzen, und in diesem plötzlichen Schein sehen wir dunkle Schatten über die Grenze schleichen. Auf dem Weg wohin? Zu uns, nicht mit der Antwort, sondern mit Fragen, so groß und bedeutend, daß sie unser Leben verändern können, zum Beispiel Fragen wie diese: "Kann ein Mensch auf Dauer ein unwürdiges Leben führen?" Diese Fragen handeln immer vom Menschen, von seiner Willkür; und ist es nicht so, daß die besten Bücher ständig einen Kampf führen gegen alles, was den Menschen erniedrigt, was dem Menschen seine Würde nimmt? Solange die großen Rätsel des Lebens nicht gelöst sind, werden wir uns Büchern zuwenden; manchmal, um Trost zu suchen; vielleicht auch, um ein hartes Dasein ertragen zu können, aber eigentlich nie, um der Wirklichkeit zu entfliehen, sondern um uns mit Hilfe der Bücher in das anregende Mysterium hineinzubohren, welches das Leben ist. Kommt, wir wollen uns richtig zusammensetzen, wir wollen das Buch aufschlagen. Es gibt eine Geschichte... Und die Geschichte geht weiter, während die Dunkelheit um uns herum immer dichter wird. Verlassen wir für einen Augenblick das Buch, und stehen wir auf und schauen aus dem Fenster, so können wir die Sterne da oben weit weg glitzern sehen. Welch' ein schöner Anblick! Nun setzen wir uns wieder und hören zu, und das Buch weiß: Der Himmel ist unendlich. Die Zeit ist unendlich. Die Geschichte hat kein Ende.


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