Neue Welten


von Anna Louisa Karsch

Zehn Jahr war ich alt, mein Stiefbruder ward meine einzige Beschäftigung. Traurig saß ich an seiner Wiege, weil mir Bücher fehlten, denn an meinem Geburtsort auf der Meierei fand ich keine. Endlich machte die stürmische Gemütsart meines Pflegevaters, daß wir den Ort verlassen mußten. Wir zogen nach Tirschtiegel, einem Städtchen im glogauischen Fürstentume, nicht fern von meinem Geburtsort. Meine Eltern pachteten ein Vorwerk, und ich ward eine Hirtin. Frühe, ehe noch die Sonne den Tau trank, nahm meine alte, wirtschaftliche Großmutter dreien Kühen die Milch, und dann trieb ich sie vor mir her, stolz auf die Zufriedenheit, die ich fühlte, wenn über meinem Haupte die Lerche ihren langtönigen Gesang fortsetzte. Ich genoß alle die Annehmlichkeiten des Sommers, und oft dachte ich mir kleine Geschichten aus, die den biblischen Historien ähnlich waren. Ich bauete Türme von Sand, mauerte sie mit Steien und stürmte sie mit hölzernem Geschoß darnieder Ich führte in meiner rechten Hand einen Stab, und indem ich mit mir selbst redete, war ich das Haupt einer Armee! Alle Disteln waren meine Feinde, und mit kriegerischem Mut hieb ich allen die Köpfe ab. Die Taten Davids und der Makkabäer waren meine Muster, und es ergötzte mich, wie sie zu siegen. Nach vielen wichtigen Schlachten saß ich an einem Herbsttage am Rande eines kleinen Flusses und ward jenseits des Wassers eines Knaben gewahr, welchen einige Hirtenkinder umgeben hatten. Er war ihr Vorleser, und ich flog hin, um die Zahl seiner Zuhörer zu vermehren. Welch ein Glück für mich! Ich nahm in den folgenden Tagen einen Umweg, trieb meine Rinder durch den Fluß, wo er am seichtesten war, und fand meine so lange entbehrte Wollust, die Bücher, wieder. Da waren Robinsons, irrende Rotter, Gespräche im Reiche der Toten; o da waren neue Welten für mich! Der Herbst verging mit zu bald; ich weinte, doch wir setzten unsere Versammlung fort. Ich schlüpfte, so oft meine Mutter mich verschickte, in das Haus des Hirtenknaben. Er war ein Äsop von Gestalt, aber seine Bücher waren desto schöner. Unsere Zusammenkünfte blieben nicht lange verborgen. Mein Stiefvater donnerte wegen meiner Lesesucht auf mich los! Ich versteckte meine Bücher unter verschwiegene Schatten eines Holunderstrauches und suchte von Zeit zu Zeit mich in den Garten zu schleichen, um meiner Seele Nahrung zu geben. Diese verstohlenen Vergnügungen dauerten beinahe ein Jahr.

Wenige Wochen nach diesem Tage gab meine Mutter ihrem Mann das dritte Kind, und ich hatte wieder meinen Posten bei der Wiege! Mein Trieb zum Bücherlesen schien hier völlig unterdrückt zu werden; es fehlte mir an Gelegenheit, und alle Klagen waren unnütz. Mein Stiefvater glaubte meine Bekehrung und überhäufte mich deshalb mit Lobsprüchen. [...] Ich ward Frau und wußte mir noch kein anderes Ansehen als das einen Kindermädchens zu geben. Mein Mann erkundigte sich vor unserer Verheiratung nicht nach meinem väterlichen Erbteil; er unterließ dies aus einer angenommenen Großmut, aber ich empfand in der Folge, daß mein Vermögen für ihn zu klein gewesen. Unsere Gemüter harmonierten schlecht; mein reiches schmelzendes Herz, meine Zärtlichkeit und seine Begierde nach Reichtümern waren viel zu verschieden, als daß eine Glückseligkeit in unserer Vereinigung möglich war. Meine einzige Erquickung fand ich in Büchern, mit welchen der Hirtenknabe mich noch immer versorgte; denn ich lebte wieder in derjenigen Stadt, auf deren Wiesen Rinder vor mir hergingen. Nun hingegen waren meine Tage arbeitsam; ich zerzauste entweder mit einem Holzblatt voll krummgebogener Stacheln Wolle und bereitete sie der Spinnerin zu, oder ich drehte mit meiner Hand unaufhörlich ein kleines Rad, Garn aufzuwinden für den schnelllaufenden Weberspul. Hundert geistliche Lieder hinderten mich nicht, die schönsten davon zu singen. Vorzüglich waren Loblieder meine Wahl; ich fühlte Zufriedenheit, wenn ich sie sang, und tat mir selbst die Frage: sollte es wohl möglich sein, ein Lied zu machen? Ich kannte noch keinen Poeten außer einigen zerstreuten Blättern von Johann Franck, der durch verschiedene Kirchengesänge sein Gedächtnis verewigt hat.

Seine Lieder waren meine Lieblinge, und die Überbleibsel seiner weltlichen Gedichte schwebten mir noch vor; ich fand sie in meinen Mädchenjahren auf dem Söller des Hauses meines Oheims bestäubt und voneinandergerissen. Es waren Hochzeitsgedichte, mit viel Mythologie gemischt; ich verstand ihren Inhalt nicht, aber sie kamen mir schön vor. Ich besinne mich auf den Anfang des einen Gedichts, das die Aufschrift führte: "Cupido, ein Korbmacher", denn der Bräutigam hieß Korb; der Dichter sang also: Frau Venus lud einmal auf ihren Kahn von / Schnecken, / Den sie mit Teppichen von Purpur ließ bedecken, / Ein Haufen Nymphenvolk, mit ihr zu fahren, ein etc. - Ich vergaß das übrige, und ich wundere mich, daß die Werke diese Sängers so ganz verloren gingen. Ich fand unter anderm auch die Auferstehung und Himmelfahrt des Messias zwei prächtige Gedichte. Tausend Mal hieß ich den ehrlichen Franck einen göttlichen Mann und war nun bei der Zunahme meiner Kenntnis unwillig auf mich, daß ich jene Reime nicht in Verwahrung genommen hatte. Aber ich beschloß nun, selbst Versuche zu machen; ich wählte die Melodie irgend eines geistigen Liedes, saß bei dem mirrenden Rade und wiederholte den jetztgedichteten Vers so lange, bis er in meinem Gedächtnis haften bleibe: Mein Herz verschloß das Lied bis nach den / Werkeltagen / Der stille Sabbat kam, dann erst entwarf mein Kiel / Die heimliche Geburt, die mir allein gefiel! - Immer lag ein Buch unter dem Kopfkissen meines Kindes; ich holte es hervor, so oft ich die Pflichten einer mütterlichen Amme erfüllte oder die Stelle der Wärterin vertrat. ich las die "Asiatische Banise", die arabische Geschichte "Tausend und eine Nacht" und einen syrischen Roman "Aramena". Es waren hin und wieder Verse eingestreut, aber ihr Zwang mißfiel mir; ich faßte den stolzen Entschluß, etwas Besseres als der Romanendichter zu denken, und fand einen Band voll schwärmerischer Lieder; es waren leichte fließende Reime, welche mir dazu dienten, mich kühn zu machen.


Anna Louisa Karsch: Das waren neue Welten für mich, aus: Brief an J.G. Sulzer vom 1.9.1772. In: Gedichte und Lebenszeignisse. Hrsg. von Alfred Anger. Stuttgart: Reclam, 1987


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