Schreiben unter Hitler


von Irmgard Keun

Algin ist gekommen. Blaß und dunkel sitzt er da, düstere Höhlen sind seine Augen, seine Hände liegen bleich auf dem Tisch. Wieder hat er einen Brief von der Reichsschrifttumskammer bekommen. Eine neue Säuberungsaktion unter den Schriftstellern soll stattfinden, bei der man Algin wahrscheinlich aussieben wird. Vielleicht würde es ihn retten, wenn er jetzt ein längeres Gedicht auf den Führer macht, was ihm bisher immer noch widerstrebte. Aber auch das kann ihm gefährlich werden. Denn vielleicht werden die nationalsozialistischen Schriftsteller böse, daß er wagt, den Führer anzudichten, ohne alter Kämpfer zu sein. Er darf auch nicht wagen, einen nationalsozialistischen Roman zu schreiben, weil ihm das nicht zukommt. Wenn er aber keinen nationalsozialistischen Roman schreibt, ist er unerwünscht. Er wird noch immer gern gelesen und gedruckt, das soll auch nicht sein. "Man möchte sich umbringen", sagt Algin. "Gib mir bitte zehn Mark, Algin", sagte Heini.

"Danke, Algin. Wer weiß, wie lange du noch was hast. Das mit dem Umbringen ist eine gute Idee von dir, du solltest es wirklich tun. Du hattest mal Talent, du hattest mal Erfolg. Jetzt ist dein Leben arm geworden, schmutzig auch. Deiner Frau zuliebe, deiner albernen Wohnung zuliebe, deinen Möbeln zuliebe hast du lächerliche Konzessionen gemacht, bist zusammengesessen mit Leuten, die dir minderwertig schienen, und hast gegen dein Gefühl, gegen dein Gewissen geschrieben. Ein armer Literat bist du. Einen historischen Roman willst du jetzt schreiben? Als Eunuch wirst du diesen Roman schreiben. Ein Schriftsteller, der Angst hat, ist kein Schriftsteller. Aber abgesehen davon: du bist überflüssig. Durch die Diktatur ist Deutschland ein vollkommenes Land geworden. Ein vollkommenes Land braucht keine Schriftsteller. Im Paradies gibt es keine Literatur. Ohne Unvollkommenheiten gibt es keine Schriftsteller und keine Dichter. Der reinste Lyriker bedarf der Sehnsucht nach Vollkommenheit. Wo Vollkommenheit ist, hört die Dichtung auf. Wo keine Kritik mehr möglich ist, hast du zu schweigen.

Was willst du im Paradies über Gott schreiben? Was willst du über die Flügel der Engel schreiben? Das sie kurz geschnitten sind oder zu lang? Sie sind weder das eine noch das andere. Das Vollkommene macht jedes Wort überflüssig. Man schreibt und spricht, um sich verständlich zu machen und sich untereinander zu verständigen. Die vollkommene Einigkeit unter den Menschen ist das Schweigen. Jedes Wort ist Krieg, ob es Kampf heißt oder Frieden. Solange es Worte gibt auf der Welt, wird es Kriege geben. Und wenn es keine Kriege mehr gibt, ist auch das Wort erlegen dem ewigen Frieden. Bring dich um, Algin - du lebst im Paradies. Wo's nichts mehr zu kritisieren gibt, hat der Schriftsteller sein Brot verloren. Bring dich um oder lern Harfe spielen und Sphärenmusik." "Ich werde es tun", sagt der Algin, "ich werde mich umbringen. ich muß einen Menschen umbringen, der minderwertiger ist als ich. Den muß ich finden, den muß ich suchen." Algin ist jetzt auch betrunken, ich weiß nicht wovon. (Irmgard Keun: Nach Mitternacht, S. 113f.)


Irmgard Keun: Nach Mitternacht, Bergisch-Gladbach: Gustav Lübbe, 1982. S. 113-115)


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