Beim Betrachten eines Buches


von Leena Krohn

Mein Blick fiel auf ein Buch, das aufgeschlagen auf dem Tisch liegengeblieben war. In der Dämmerung des Sommerabends betrachtete ich es aus der Entfernung. Von dort, wo ich saß, konnte ich nichts entziffern, und ich wußte nicht einmal, was es für ein Buch war. Das Halblicht des vergehenden Tages fiel auf seine Blätter. Und dann, gerade im Licht jenes Abends, was plötzlich zu sehen, was für ein außergewöhnlich schöner und geheimnisvoller Gegenstand ein Buch ist, sinnlich und - wenn ich es wagen darf, das zu sagen - übersinnlich zugleich.

Wieder einmal lernte ich, was ein Buch ist, und was lesen bedeutet. Wir greifen nach einem Buch, öffnen es, schöpfen daraus. Es ist ein Gefäß, gefüllt mit dem Bewußtsein eines anderen Menschen. Wenn die Augen über das Buch hinweg streifen, wenn der Blick sich den Seiten des Buches zuwendet und beginnt, sich von Zeile zu Zeile fortzubewegen, geschehen merkwürdige Dinge. Die Fähigkeit zu lesen macht den leblosen, stummen Gegenstand zu etwas Lebendigem und Sprechendem!

Lesen ist das Übertragen einer Erfahrung von einem Menschen über ein Artefakt zu einem anderen Menschen. Das, was in einem Buch, in seinen Zeichen einmal begraben worden ist, steht wieder auf und wird neu geboren. Einst hat der Schreiber Bedeutungen in Zeichen übertragen, nun begegnet der Leser ihnen wieder als Bedeutungen. Und: Über das Buch wird das Private öffentlich, aber diese Öffentlichkeit verwandelt sich beim Umblättern der Seite in die private Erfahrung des Lesers. Die passiver äußere Gestalt des Buches ist ist bloß eine Täuschung, denn es gibt keinen dynamischeren Gegenstand als ein Buch. In all seiner Unbeweglickeit ist das Buch voller Energie. "Es gibt keine andere Explosion als das Buch.", schrieb Mallarme. (Wenn es nur so wäre! Wir, heute, wissen, daß Mallarme umrecht hatte.) Die Tatsache, daß wir lesen können, daß die schwarzen Zeichen in Bedeutungen übergehen können, ist für den Menschen ein ebenso wesentlicher Prozeß wie für die Natur das, was bei der Fotosynthese geschieht. Zugleich Sakrament und Transformation, das Verwandeln von Wasser in Wein oder von Brot in lebendiges Fleisch. Auch die Bedeutungen sind dem Menschen Sauerstoff, Luft zum Atmen. Etwas geht von außen in den Menschen hinein und haucht ihm den Atem des Lebens ein, die Wechselwirkung. Die Bedeutungen befreien den Menschen aus der Isolation, zu der er sonst verurteilt wäre. Sie ermöglichen - über die Schrift den Kontakt einander unbekannter Menschen, die einander nie in einer physischen Situation, in einer Zeit oder an einem Ort begegnen, auch von Lebenden und Toten.

Das Buch ist also ein Raum, ein Ort, ein Treffpunkt. (Und an diesem Umstand ändert sich nichts, auch wenn das Buch als physischer Gegenstand aufhören sollte zu existieren und sein Inhalt in das nicht-physische Universum des Datennetzes übergehen sollte. Ich denke, daß es in der Literatur überhaupt nicht um die Literatur geht. Motivkreise, Themen, Strukturen usw. sind alle Nebensächlicheiten. Ich denke, daß es in der Literatur um das Zusammentreffen jener Entscheidungen geht, vor denen niemand fliehen kann. Um Verhältnisse, deren Natur im Leben mehr mehr oder weniger dringende Behandlung und Verständnis - ich wage nicht, "Lösung" zu sagen - verlangt.


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