Pathologie der Bücherwürmer


von Susanne K.

Fast alle meine Freunde meinen, ich hätte einen Büchertick (eigentlich sagen sie, ich hätte eine Riesenmacke). Als Vielleser und Bücherwurm hat man es nicht einfach. Mal ehrlich: Wie stellen Sie sich eine 27jährige Frau vor, die sich am Wochenende lieber hinter ihrem Bücherberg verkriecht, anstatt sich in der Disco zwei oder drei leidlich gutaussehende Männer zu angeln, die offensichtlich unter Hormonstau leiden? Ganz richtig: Sie muß auf jeden Fall eine blasse Person mit Brille und Kohliesels-Töchter-Haarknoten sein. Ich muß zugeben, daß ich diesem Aussehen nicht ganz gerecht werde und es tut mir jetzt ehrlich leid, Ihre Illusionen zerstört zu haben (meine Haare sind für den Knoten noch etwas zu kurz, aber ich arbeite daran). Sie fragen sich nun bestimmt, was denn einen Bücherwurm ausmacht? Ich habe mich zu allem Unglück in diese schwierige Situation manövriert, Ihnen dies erklären zu müssen. Zum einen werden Sie niemals eine echte Leseratte kennenlernen, die je vergessen würde, ein Buch mit sich herumzutragen - unabhängig davon, wohin sie des Weges ist. Nicht selten vergessen diese besonderen Menschen dabei, daß sie sich mit ihrer Lektüre gerade mitten auf einer verkehrsreichen Kreuzung befinden. Nein, tatsächlich reiten sie nämlich gerade mit ihrem schwarzen Hengst durch das England des 12. Jahrhunderts oder befreien eine Geisel aus den Fängen eines irren Mörder im New York dieser Tage.

Wen sollte ein unwichtiges Hupkonzert stören, steht man doch kurz vor der Erfüllung dieser gefährlichen Mission. Doch auch ungefährlichere Orte stellen ein beliebtes Ausflugsziel in andere Welten dar. Die Wartezeit vor der Supermarktkasse oder auch um sich das Zähneputzen oder Haareföhnen zu versüßen: Nichts ist einer wahren Leseratte zu unbequem oder ungewöhnlich. Auch die Badewanne soll ein beliebtes Ausflugsziel sein - so man denn regelmäßig badet. Das wahre Leseerlebnis für alle Bücherwürmer ausnahmslos ist jedoch das heimische Sofa, inklusive Tee (wahlweise mit Whiskey), Wolldecke, Telefonstecker aus der Wand und Mann/Frau und Kinder auf den Spielplatz verbannt. Glücklich ist, wer ein Kamin sein eigen nennen kann. Die Toiletten bleiben vor unserer Heimsuchung übrigens auch nicht verschont - so kommt dann auch manch Bücherwurm auf die glorreiche Idee, sich Essen und Trinken auf das stille Örtchen bringen zu lassen, um dort in aller Ruhe weitere Stunden mit seinem Buch verbringen zu können. Langweilige Vorlesungen werden mit einem Buch aufregender und Bücherwurm-Mütter entspannen sich und ihr Kind beim Stillen mit einem leidenschaftlichen Liebesroman.

Diese Leseratten entwickeln natürlich schon nach kurzer Zeit ihre ganz eigene Beziehung zu den Büchern. Vereine zum Schutz der Bücherrechte werden gegründet und Regeln zur Sortierordnung in Regalen (nach Genre, Autor, Größe, Farbe aufsteigend) werden erstellt. "Leihleser, die der ihnen übertragenen Verantwortung nicht nachkommen, oder den Empfehlungen und Anweisungen der "Pfleger und Heger" nicht folgeleisten, so daß es im Buchbestand zu Verwahrlosungen, Vorkommnissen der "I- Ah"-Klasse oder gar zu Fett- oder Wasserschäden kommt, gehören auf der Stelle standesrechtlich erschossen oder ihnen werden Leihberechtigung, aber auch Freundschaft und familiäre Bindungen aufgekündigt. Auch Verbannung, der Verlust von Fingern oder Händen, oder Peitschenhiebe sind je nach Schwere der Mißhandung des Buches in Betracht zu ziehen." Zu allem Überfluß sind Bücherwürmer an jeder Mängelexemplarkiste zu finden - mit der Nase bis auf den Boden versunken – ein irres, aber glückseliges Grinsen im Gesicht. Keinesfalls gehen sie ohne ein gekauftes Buch wieder nach Hause (meistens jedoch sind es mehrere Bücher). Das Fachjargon der Vielleser durchlebte in den letzten Jahren evolutionäre Entwicklungen. War es Anfangs noch ein SUB (Stapel ungelesener Bücher), handelt es sich nun um RUBs und PUBs (Regale und Planeten ungelesener Bücher). Und doch sind die Bücherwürmer Leute wie Du und ich - sie essen, trinken, lieben, existieren. Mit dem Unterschied, daß sie zudem noch mit ihren Büchern leben und mehr gute Freunde haben, als sich normale Menschen jemals wünschen könnten.


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