Reiner Kunze: Packpapier



Herr Kunze, erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Buch?

Nein, ich erinnere mich daran, daß es bei uns zu Hause keine Bücher gab. Mein Vater war Bergmann, meine Mutter Heimarbeiterin in der Strumpfindustrie. Als ich später selbst Bücher zu schreiben begann und meinen Eltern zeigen wollte, daß man das, was ich machte, auch anfassen kann, nahm mein Vater das jeweils neu veröffentlichte Buch in die Hand, betrachtete es und sagte: "Hm, schön!" Dann ging er in die Schlafstube, wo eine Rolle sauberen Packpapiers lag, und packte das Buch ein. Er schlug es nicht etwas ein, sondern verpackte es, versah es mit einem Gummi und legte das Buch in die Schublade, in der die Untersetzer aufbewahrt wurden, denn das Buch hatte ein ähnliches Format. "Damit es keine Flecken bekommt", sagte mein Vater. Die ersten Bücher, an die ich mich erinnere, waren die Märchen der Gebrüder Grimm. Ich erwarb sie als Schüler der ersten oder zweiten Klasse, indem ich Papier und Buntmetall sammelte. Es war Krieg, und für eine bestimmte Menge dieser Rohstoffe erhielt man ein Märchenheft. Ein großer Teil der Lektüre, die ich anschleppte, mußte aber alles andere als empfehlenswert gewesen sein. Meine Mutter hütete jahrzehntelang einen Zeitungsausschnitt oder den Programmzettel einer Veranstaltung, auf dem ein paar Verse abgedruckt waren, die ich mit zehn Jahren geschrieben hatte. Sie waren durch einen Herrn, der uns dienstlich besucht und das Schreibheft auf einem Küchenhocker entdeckt hatte, an die örtliche Öffentlichkeit gelangt und ließen auf eine für ein Kind abweggige Lektüre schließen.

Bedeutete Lektüre für Sie immer schon den Rückzug an einen Ort, an dem man für sich sein oder von dem aus man die Welt entdecken konnte?

Ich litt als Kind am ganzen Körper an einem nässenden Ekzem und war viel allein. Ich habe ungezählte Tage mit Eichenrindenumschlägen zu Hause liegen müssen, und da ich sonst meist mit verbundenen Armen und Beinen herumlief, nahmen die Eltern der anderen Kinder an, ich hätte die Krätze, die bekanntlich ansteckend ist. So wurde ich gemieden. Ihre Frage bringt mich zum ersten Mal auf den Gedanken, daß dieses Isoliertsein nicht nur für mein frühes Schreiben mitverantwortlich sein dürfte, sondern auch für mein noch früheres leidenschaftliches Lesen.

Dieses positive Sich-zurückziehen-Können mit der Lektüre war in der gesellschaftlichen Isolation, der Sie im späteren Leben ausgesetzt waren, so etwas wie Trost und Widerstand. In einer Rede berichten Sie, wie Sie in der DDR Camus "Der Mythos des Sisyphos" exzerpierten, als man Ihnen eins der raren Exemplare für eine Nacht überlassen hatte.

Der Widerstand bestand vor allem darin, daß man durch das Lesen Maßstäbe gewann, Werte, die in der Gesellschaft mißachtet wurden, in sich selbst stabilisierte und nicht der Provinz anheimfiel. Das Lesenswerte zu lesen bedeutete, den Geist hochzuhalten.

So ließe sich jede Lektüre charakterisieren, und es mußte in einer Gesellschaft noch mehr stimmen, in der der Besitz eines bestimmten Buches von Camus oder Kafka zum Indiz für eine Geisteshaltung werden konnte, die einem Repressalien einbrachte. Es gehörte ja vielleicht auch zum Milieu Ihrer Herkunft, daß man aus Hochachtung Büchern gegenüber gewissen Gefahren nicht richtig einschätzte. So hat Ihnen doch einmal jemand einen Band Kafka zugesteckt, der das "Dritte Reich" überlebt hatte, die DDR aber eher nicht überleben sollte.

Das Institut für Publizistik an der Leipziger Universität 1951 war nicht der Ort, ein Buch von Kafka im Studentenwohnheim auf das Bücherboard zu stellen. Das hatte ich eines Morgens getan, weil ich die Erzählungen irgendwann lesen wollte, doch am selben Tag noch wurde eine Versammlung sämtlicher Studenten und Lehrkräfte einberufen, auf der mir vorgeworfen wurde, bürgerlich-dekadente Literatur zu verbreiten. Das Verbreiten sah man darin, daß ich das Zimmer mir drei Kommilitonen teilte und auch andere Personen Zutritt hatten. Ich wurde eine ganze Woche von einme Gremium zum anderen befördert und verhört. Man hatte schon gefordert, mich zu exmatrikulieren und für ein Jahr zur Bewährung in die "Produktion", also in eine Fabrik, zu schicken. Erst, als die Funktionäre überzeugt waren, daß ich den Namen Kafka bis dahin nie gehört hatte, kam ich mit einer Verwarnung und der strikten Auflage davon, mich, wenn mir das Buch eines mir unbekannten Autors in die Hände käme, sofort an einem Professor oder an die Parteileitung zu wenden.

Als Sie 1977 in den Westen kamen, muß es ja fast eine Art Kulturschock gewesen sein, daß alle Bücher in den Bibliotheken frei zugänglich waren. Sie äußern immer wieder Ihre Freude darüber, all das jetzt öffentlich lesen zu dürfen, was man in der DDR im geheimen las, vorausgesetzt, daß man es sich hatte beschaffen können.

Diese zwanzig Jahre, die wir jetzt im Westen leben, waren und sind - bei allen Schwierigkeiten und Desillusionierungen - die großen Jahre unseres Lebens. Es sind die weltgebenden Jahre - und dazu gehört das Lesendürfen jedes Buches -, und es sind die schöpferichsten Jahre. Mir in der Tat jedes Buch beschaffen zu können, das ich lesen will, gehört zu den Grundelementen des Gefühl, ein freier Mensch zu sein.

Nun kann die Fülle des Verfügbaren auch ratlos machen. Ich entsinne mich eines Ihrer Bücher, in dem Sie beschreiben, wie man sich einen eigenen Literaturkosmos aufbaut: Man liest ein Buch, findet einen Hinweis auf einen anderen Autor und geht dem nach. So entwickelt sich Buch für Buch eine eigene Leselandschaft mit Landmarken. Erst so kann aus der Vielzahl der Bücher eine lebendige Landschaft werden.

Wir holen immer noch nach. Wir entdecken immer wieder Neues, das für Sie längst das bewährte Alte ist. So habe ich mich in den letzten Wochen erstmals intensiv mit Christine Lavants Gedichten und mit Ingeborg Teuffenbachs Lavant-Biografie beschäftigt. Natürlich wußte ich von dieser Dichterin, aber ich kannte sie nicht so, wie man sie kennen sollte. Unsere Lücken sind so groß, daß wir nicht genügend Zeit finden, sie zu schließen. Vor allem im Bereich der philosophischen und historischen Literatur. Meine Frau liest auf diesen Gebieten besonders viel, fertigt Exzerpte an und sagt mir dann, was ich unbedingt selbst lesen muß. Den Rest bekomme ich von ihr exzerpiert geliefert.

Das ist natürlich ein Liebesdienst. Doch die Fülle des zu Lesenden bleibt unendlich. George Steiner hat in seinem letzten Buch "Der Garten des Archimedes" eine Liste der Bücher veröffentlicht, von denen er annimmt, sie in seinem Leben nicht mehr lesen zu können, und das hat wer auch als Entschuldigung gegenüber den Büchern gemeint. Jeder von ins hat irgendwann diese Liste im Kopf, trotzdem darf man die Ruhe nicht verlieren und die Lektüre fahrig werden lassen: Lesen, so wie Sie es verstehen, auch weiterhin als Prozeß zuzulassen, der das Geschriebene rekonstruiert, der das Gedicht aus der Sicht des Lesers noch einmal schreibt, um die Welt, die vor dem Gedicht liegt, einzuholen und zu entdecken. Das ist eine Lektüre, die Zeit braucht.

So gesehen ist Lesen Arbeit, aber eine der köstlichsten, die es gibt.


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