Sabine Lang: Der Fluch


Als Peter aus dem Haus trat, hatte es begonnen zu schneien. Eigentlich mochte er Schnee, seine Lautlosigkeit behagte ihm, aber heute fielen die Flocken schwer und schnell, nur halb gefroren. Keine weiße Zauberwelt, sondern gräulich brauner Schneematsch. Das bedeutete wohl einen nassen Mantel und kalte Füße, denn Peter nahm nie seinen Wagen, wenn er arbeitete. Also klemmte er sich die Aktentasche fester unter den Arm und machte sich auf den Weg zur nächsten Bushaltestelle. Doch schon auf dem Weg dorthin wurde der Schneefall immer heftiger und zugleich langsamer. So dicht schwebte es schließlich herab, daß er die Frau an der Bushaltestelle gar nicht bemerkte, bis sie ihn ansprach. "Entschuldigung", kam plötzlich eine sanfte Stimme von links. Peter zuckte vor Schreck zusammen und überlegte, wie groß in seinem Alter wohl das Risiko war, einem Herzanfall zu erliegen. "Fährt der Bus von hier in die Innenstadt?" "Das will ich doch hoffen", erwiderte er. "Laut Fahrplan tut er es jedenfalls." Er atmete durch, verdaute den Schrecken und wandte sich ihr zu. Als er sie ansah, bedauerte er die schnippische Antwort, denn sie war bildschön. Groß, schwarzhaarig, schwarze Augen, schlank. Von der Figur erkannte er allerdings nicht viel, denn sie trug einen langen, weißen Pelzmantel. Während er noch überlegte, ob der echt oder ein "politisch korrekter" Webpelz war, lächelte sie und er gab das Denken vorübergehend auf. "Tut mir leid", lachte sie nun, "ich habe Sie erschreckt!" Und ehe er noch das Übliche von "nicht so schlimm" murmeln konnte, hatte sie ihn schon auf einen Kaffee zur Entschuldigung eingeladen. Das fand er zwar etwas übertrieben, aber das sagte er natürlich nicht laut. Wenn dieses Zauberwesen einen Vorwand brauchte, um sich an ihn ranzumachen: aber gerne, nur zu!

Sie nahmen den Bus, entschieden sich auf dem kurzen Weg in die Stadt für ein Cafe und saßen sich schließlich bei Cappuchino und Käsesahne gegenüber. Und trotz ihrer spürbaren Freude am Kuchen: ihre Figur hielt alles, was die exclusive Verpackung versprochen hatte. Denn unter dem Mantel trug sie einen hautengen schwarzen Hosenanzug, der ihre Rundungen aufs Wohlgefälligste modellierte. Sie hieß Anna und hatte mit Büchern zu tun, was ihn den Blick losreißen und aufhorchen ließ. "Besonders mit alten Handschriften aus dem Mittelalter," ergänzte sie. "Ach wie seltsam", begann er. Dann keimte ein leises Mißtrauen in ihm und er fügte schnell hinzu: "Ich bin nämlich auch ein Bücherfreund, obwohl ich beruflich Programmierer bin, äh, freiberuflich." Das war nicht einmal gelogen. Nur, daß er das Programmieren eigentlich eher als Hobby machte, aus Spaß und zur Tarnung, um einen "ordentlichen" Beruf vorweisen zu können. Hauptberuflich war er ein Dieb, und zwar ein sehr geschickter. Spezialisiert auf Kunst, insbesondere seltene Bücher. Er klaute nicht einfach irgendwas und versuchte es dann einem Hehler zu verscherbeln. Nein, er konnte es sich leisten, nur Auftragsarbeiten anzunehmen. Und genau in diesem Moment ruhte am Grund seiner Aktentasche ein handgeschriebenes Buch aus dem dreizehnten Jahrhundert. Es war nicht unerhört wertvoll, aber für einen gewissen Sammler immerhin auf legalem Wege so unerreichbar, daß er, über Mittelsmänner, Peter mit dem Diebstahl dieses Bandes betraut hatte. Und nun traf er eine Frau, die genau mit solchen Büchern zu tun hatte...? Ein Zufall war möglich. Möglich. Aber war er auch wahrscheinlich? Sie war schön, sexy und interessant und offenbar auch an ihm interessiert - immerhin saßen sie schon beim zweiten Cappuchino. Aber wenn sie nun, ja, was eigentlich war? Ein Polizeispitzel? Dann hätte man ihn doch sicher schon festgenommen und die Tasche durchsucht, oder?

Er beschloß, sie nicht einfach gehen zu lassen - dafür war sie zu gut. Und wenn er diese Chance sausen ließe, nur weil sie einfach ein Büchernarr wie er war... nein, er hätte sich vor Reue in den Hintern gebissen. Er würde eben etwas vorsichtiger sein, was das Thema "Bücher" anging. Und in der Tat, sein Plan ging auf. Anna schien weniger an seiner Vorliebe fürs Geschriebene interessiert als an ihm. Sie verbrachten den Rest des Tages zusammen und unterhielten sich so prächtig, daß sie am frühen Abend in Peters Wohnung landeten. Und er fand Anna im Bett mindestens ebenso interessant wie im Gespräch... Irgendwann fiel ihm eine Verabredung ein und er tauchte mit entsetztem Blick aus den zerwühlten Laken auf. Gottseidank! Es war erst halb neun, so daß er den Termin in einer halben Stunde noch wahr nehmen konnte. Ein weißer Arm wand sich unter der Decke hervor, angelte nach ihm und Anna seufzte träge:"Was tust Du? Komm lieber her, ich bin noch gar nicht müde." Sein Blick fiel auf runde Hüften, ein halb entblößtes Bein und er verfluchte die Verabredung, bei der er das gestohlene Buch an seinen langjährigen Verbindungsmann übergeben sollte. Anna ließ ihn wirklich auf Hochtouren laufen. Aber Geschäft war Geschäft, Termin war Termin und er wollte sich nicht in den Ruf der Unzuverlässigkeit bringen. "Liebling, ich muß ganz kurz weg", erklärte er in beschwörendem Ton, "ich bin in spätestens einer Stunde wieder da. Und dann haben wir die ganze Nacht nur für uns. Und ich bin auch noch nicht müde." Zerzauste schwarze Haare tauchten aus den Kissen auf und tiefe, schwarze Augen sahen ihn ruhig an. "Wirst Du noch da sein, wenn ich wieder komme?", hauchte er mit einem Flehen. Ein leises Lächeln. "Mal sehen." Er nahm es als ein Versprechen.

Er irrte sich. Sie war weg. Ohne Nachricht, ohne Telephonnummer, ohne irgendetwas zu hinterlassen. Vergebens suchte er in seinem Schafzimmer nach ihrem Duft - nach welchem Parfum hatte sie eigentlich gerochen - aber er fand nur den Geruch der Bücher, die sich in seiner Wohnung stapelten. Am nächsten Tag ging er mit Sascha einen trinken. Ihm war nach Alkohol zumute, nachdem er den ganzen Tag vergeblich das Telephon bewacht hatte. Herrje, warum hatte er sie nicht nach ihrem Nachnahmen gefragt? Eine Anna, die etwas mit Büchern zu tun hatte - pfff... Das war schließlich eine Großstadt hier. Ihm war jetzt nach viel Alkohol zumute. Sascha kannte er noch aus Kindertagen und der Freund wußte, womit Peter sein Geld verdiente. Sie kannten sich so gut, daß sie sich, wenn es sein mußte, ohne viel Gequatsche zusammen besaufen konnten. Genau das hatte Peter jetzt vor, nachdem er Sascha zum drittenmal erzählt hatte, wie seine Traumfrau sich erst in sein Bett hinein geschlichen hatte und dann spurlos Verschwunden war. Er wollte gerade sein fünftes Bier bestellen, als die Gesuchte höchstpersönlich zur Türe hereinkam und schnurstracks auf ihrem Tisch zusteuerte. "Das.. das ist sie!", stotterte er. Wieder trug sie nur Schwarz und Weiß und Saschas starrer Blick bewies, daß er nun sehr wohl begriff, was sein Kumpel an dieser Frau gefunden hatte. "A... Anna!" Ein Teil seines Gehirn flüchtete sich aus der Überraschung in etwas Vertrautes: Manieren. "Anna, das ist Sascha Fehner, mein bester Freund, sozusagen. Sascha, das ist Anna, äh, Anna...?" Er sah fragend zu ihr hinüber und beglückwünschte sich zu diesem Schachzug. So schnell würde sie ihm nicht wieder auskommen. "Tema", lächelte Anna. "Tema?", echote Sascha und sah fasziniert drein. "Wie ungewöhnlich. Osteuropäisch?" Doch Peter hatte schon geschaltet und fühlte sich nun auf den Arm genommen. "Anna Tema?", deklamierte er. "Soll das ein Witz sein?" Was Anna nun aufsetzte konnte man nur als breites Grinsen bezeichnen. Sascha sah verständnislos von einem zum andern. "Könnte mir hier mal jemand was erklären?" "Anna Thema - Anathema", fauchte Peter. "Ja, und? Und wenn Du den Namen noch so oft wiederholst: ich kapier' den Witz nicht. Müßte ich sie etwa kennen?"

"Das ist kein Name, das ist ein Fremdwort. Aus der Bücherwelt." Schiefer Blick zu Anna. "Im Mittelalter waren Bücher schier unerschwinglich, da sie alle von Hand kopiert werden mußten. Und manche Leute glaubten, sie könnten..." Kurzer Blick zu Sascha. "...Diebe abschrecken, indem sie einen Fluch vorne in ihre Bücher hineinschrieben, so etwa: ‚Dieses Buch ist mir lieb, wer es stiehlt ist ein Dieb und soll am Galgen hängen'. Das nennt man ein Anathem, einen Bücherfluch, Plural:..." "Anathema", ergänzte Anna und nickte, "sehr gut. Und genau das bin ich. Ein Anathem. Ein Bücherfluch." Ein zweifaches "Hä?" gab kund, daß nunmehr beide Männer den Witz nicht kapierten. "Keine Polizei", schoß es durch Peters Hirn, "vielleicht Versicherung?" "Nun", Anna setzte sich und wandte sich an Peter, "Du hast gestern ein Buch gestohlen. Nein, Du brauchst nicht zu dementieren, ich weiß es. Es war nämlich mein Buch. Der Band, auf dem ich als Fluch quasi liege." Die Frau war wunderschön aber offensichtlich völlig durchgeknallt. Peter fiel keine Erwiderung ein, doch Anna sprach auch schon weiter. "Natürlich muß man sich der Zeit anpassen. In Deinem Beispiel hätte der Fluch es wohl ziemlich schwer, heutzutage einen Galgen aufzutreiben. Aber ich könnte mir gut vorstellen, daß sich der Dieb dieses Buches, hmm, erhängen würde." Peter schluckte, denn er hatte das Beispiel nicht zufällig gewählt. Noch vor einem Jahr hatte er darüber gelacht, daß der "Kollege", der das Buch mit diesem Fluch entwendet hatte, ausgerechnet den Strick genommen hatte. Und das, wie ihm nun einfiel, anscheinend völlig grundlos... Unsinn. Wahrscheinlich hatte diese Irre einfach den gleichen Zeitungsartikel gelesen, wie er... Er schluckte. "Und was willst Du von mir?" Seine Stimme war ungehalten, um die Betrügerin in die Schranken zu weisen, ungehalten und fest. Fast. Sie ging nicht darauf ein. "Nun, bei mir liegt die Sache anders, denn mein Text beginnt: ‚Wer dieses Buch unrechtmäßig seiner Bibliothek zuführt...' Tja, mein Lieber." Sie bedachte Peter mit einem zärtlichen Blick. "Du hast das Buch zwar gestohlen, aber wenn man es genau nimmt, dann blieb es in der Aktentasche und wanderte nicht in Deine Bibliothek, sondern in die Deines Auftraggebers, oder?

Leider ist man als Anathem an sein Buch gebunden und kommt so recht selten aus dem Haus, oder gar zum Einsatz. Du weißt ja nicht, wie anstrengend es für mich ist, jetzt hier zu sein. Aber eben deshalb: ich habe den gestrigen Abend sehr genossen...", das schnurrte sie geradezu und die Härchen in Peters Nacken begannen, sich aufzurichten - von anderem ganz zu schweigen. "Und deshalb werde ich es genau nehmen und Dich in Ruhe lassen. Ich bin nur hier, um Dir für das zauberhafte Erlebnis zu danken und Dir für die Zukunft zu etwas mehr Vorsicht zu raten." Sie wandte sich zum Gehen. "Moment", haspelte der verwirrte Peter, "kannst Du mir nicht Deine Telephon... äh, nein, sicher nicht..." Sie ging so in ihrer Rolle auf, daß er sie sicher nicht davon überzeugen konnte, daß Bücherflüche Telephonanschlüsse hätten. Und sein Hirn war sich auch gar nicht mehr sicher, ob er sie wiedersehen wollte, auch wenn sein Körper da ganz eindeutiger Meinung war. Aber woher wußte sie von dem Diebstahl? Offenbar wollte sie ihn weder festnehmen noch anzeigen. Und dann der Fall vom letzten Jahr... "Ach, nur interessehalber", warf er ein, um zu sehen, wie sie sich da rauswand, "was passiert denn nun mit meinem Auftraggeber...?" "Ungläubiger Peter", murmelte sie mit belustigt hochgezogenen Augenbrauen. Dann wies sie mit einem Kopfnicken auf den Nebentisch. "Da liegt die Zeitung von heute morgen. Noch nicht gelesen? Auf Seite drei. Leb' wohl, mein Lieber." Und sie verschwand. Einfach so. Löste sich in Luft auf. Weg. Saschas Unterkiefer hing fast auf seinem Brustkorb. Die anderen Gäste schienen nicht das Geringste bemerkt zu haben. "Hast Du...", stammelte Sascha, "hast Du das..." "Ja, ich habe.", ächzte Peter und schnappte sich die Zeitung. Seite drei. ‚Seltsamer Tod eines bekannten Sammlers'. Dann sank er zurück auf seinen Stuhl. Er war plötzlich so nüchtern, daß ihm fast schlecht war. "Eins schwör' ich Dir: ich klau' nie wieder eine Handschrift. Nie wieder." "Na, das wird Anna ja freuen.", stellte Sascha mit einem schiefen Grinsen fest. Und sie orderten die nächste Runde.


© Sabine Lang / Mit freundlicher Genehmigung der Autorin
Original veröffentlicht beim SF-Club, BadenWürttemberg



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