Gertrud Lehnert: Die Leserin


Im Buch finden wir...
Die gute Erziehung
Wandel des Leseverhaltens
Lesen damals
Geschlechterdifferenz
Typen von Leserinnen
Verständigungsmedium
Von Leserinnen
Fruchtbares Wechselverhältnis
Androgynität & Schöpferkraft
Buch als Luxusartikel


Im Buch finden wir...

Im Buch finden wir echte Abenteuer statt Alltagsstreitereien; im Buch finden wir die Autonomie, so handeln zu können, wie wir es für richtig halten, ohne von den Kontrollen mißgünstiger Erzieher gehindert zu werden; im Buch finden wir Gefühle, die echt und eindeutig, Menschen, die gut oder böse sind. Eine Phantasiewelt ersteht vor dem inneren Auge, in der die Ereignisse anderen als den alltäglichen Gesetzen gehorchen, eine Welt, die bevölkert ist von Lebewesen, die erwachsenen Augen leblos scheinen, in der es Helden gibt und Geheimnisse, Freiheit und Geborgenheit. Im Buch finden wir eine Welt, die anders, oft bedrohlicher und beängstigender, aber meist doch schöner, anregender und überschaubarer ist als die wirkliche. Denn Romane lehren uns frühzeitig, das Leben als geordnet zu betrachten, als sinnvoll und strukturiert, als ausgerichtet auf bestimmte Ziele, die man eines Tages erreichen wird, und dann wird alles gut sein. (Gertrud Lehnert: Die Leserin. Das erotische Verhältnis der Frauen zur Literatur, S. 9)


Die gute Erziehung

Bereits im 17. Jahrhundert gab Bischof Fenelon in seinem Traktat 'Über Mädchenerziehung' (1687) bestimmte Grundzüge vor, an denen sich die Erziehungsvorschriften der darauffolgenden Jahrhunderte orientierten. Man dürfe jungen Mädchen, so empfiehlt er, wenn überhaupt, dann nur solche profanen (also nicht religiösen) Bücher zu lesen geben, "welche die Leidenschaften nicht in gefährlicher Weise reizen. Auf diese Weise wird man ihnen die Lust an Komödien und Romanen nehmen." Spanisch und Italienisch solle ein Mädchen nicht lernen, denn diese beiden Sprachen dienen nur dazu, "gefährliche Bücher zu lesen, welche geeignet wären, die Fehler der Frauen noch zu verschlimmern." Das Problem bei der Lektüre gefährlicher Bücher scheint ihm nämlich zu sein, daß sie bei "Mädchen von lebhafter Phantasie" zu starke Erregung auslösen: "Alles, was Liebesgedanken erwecken kann, scheint mir um so gefährlicher, ja anmutiger und verhüllter es dargestellt ist". Mädchen seien "von Natur aus" sinnlich und zügellos, und wenn sie das Falsche lesen, werde diese gute Erziehung bewirken sollte, domestiziert und unterdrückt. (Gertrud Lehnert: Die Leserin. Das erotische Verhältnis der Frauen zur Literatur, S. 24)


Wandel des Leseverhaltens

Während jedoch heute kaum noch jemand die Lektüre als Ursache für das eigentliche Erwachen der Sinnlichkeit betrachtet, schien den Menschen des 18. Jahrhunderts der Zusammenhang zwischen Romanlektüre und (Auto)Erotik fraglos: Die Debatten über die Lesewut verliefen analog zu den Anti- Masturbations-Debatten. Das hängt eng mit dem Wandel des Leseverhaltens und der Funktion des Lesens im Zeitalter der Aufklärung zusammen: Lesen wird zu einer säkularisierten und der Freizeit vorbehaltenen Tätigkeit (zuvor las man - als Mann - entweder berufsmäßig oder aber - als Frau - aus religiös-erbaulichen Gründen; die bürgerliche Trennung der Geschlechter und die Ausdifferenzierung ihrer gesellschaftlichen Funktionen macht die Lektüre von Romanen zu einer vorwiegend weiblichen Tätigkeit; und last but not least liest man zunehmend nicht mehr laut und in Gesellschaft, sondern leise und in der Regel zurückgezogen von der Gesellschaft, in bequemer Haltung. Der Körper wird stillgelegt, und das macht ihn um so empfänglicher für die rege Tätigkeit der Phantasie. Alles das weckte das Mißtrauen der Zeitgenossen, denn ein solches lesendes Individuum entzieht sich der Kontrolle von außen: ihm ist in der Privatheit seiner Lektüre alles möglich. (Gertrud Lehnert: Die Leserin. Das erotische Verhältnis der Frauen zur Literatur, S. 63)


Lesen damals

Die bürgerliche Trennung der Geschlechter und die Ausdifferenzierung ihrer gesellschaftlichen Funktionen macht die Lektüre von Romanen zu einer vorwiegend weiblichen Tätigkeit; und last but not least liest man zunehmend nicht mehr laut und in Gesellschaft, sondern leise und in der Regel zurückgezogen von der Gesellschaft, in bequemer Haltung. Der Körper wird stillgelegt, und das macht ihn um so empfänglicher für die rege Tätigkeit der Phantasie. Alles das weckte das Mißtrauen der Zeitgenossen, denn ein solches lesendes Individuum entzieht sich der Kontrolle von außen: ihm ist in der Privatheit seiner Lektüre alles möglich. (Gertrud Lehnert: Die Leserin. Das erotische Verhältnis der Frauen zur Literatur, S. 64)


Geschlechterdifferenz

Die Lektüre eines Knaben wäre in jener Zeit möglicherweise duch Erzieher kontrolliert worden; ein Knabe hätte Anleitungen, Interpretationen und so weiter erhalten. Die Erziehung der Mädchen beschränkte sich, selbst wenn es eine "feine" Erziehung wie die Emmas (Bovary) war, vor allem auf bestimmte im Haushalt, in der Ehe, in der Kinderaufzucht, eventuell noch für das Gesellschaftsleben nützliche Fähigkeiten und ließ die Intelligenz verwildern und buchstäblich verwahrlosen. (Gertrud Lehnert: Die Leserin. Das erotische Verhältnis der Frauen zur Literatur, S. 89)


Typen von Leserinnen

Im 20. Jahrhundert vervielfältigen sich die literarischen Bilder von lesenden Frauen, wie sich ja auch die Bilder von Weiblichkeit allgemein sowie die tatsächlichen Lebensentwürfe von Frauen ausdifferenzieren. Es gibt nicht mehr einen dominanten Typus der Leserin, die zugleich den gesellschaftlich dominanten Typus von Weiblichkeit verkörpert, sondern viele verschiedene Typen. Gewisse Tendenzen bleiben jedoch bestehen. Was fast ganz und gar verschwindet, ist die Idee, daß Lektüre in der Weise schädlich sein könnte wie für Emma Bovary oder auch Arabella. Es gibt aber durchaus eine andere Gefährdung, die in der populären Phantasie vom Lesen für Frauen ausgehen kann. Die kulturelle Imagination des 19. Jahrhunderts hat den "Blaustrumpf" - ein ursprünglich gar nicht so negativ gemeinter Begriff - als abschreckendes Klischee hervorgebracht. Blaustrümpfe sind unverheiratete, an Kindern und Männern wenig interessierte, ganz in ihren wissenschaftlichen Studien aufgehende Frauen, die also als denkbar unweiblich (und damit als asexuell und unsinnlich) gelten. Die Art der Gefährdung, die für sie von Büchern ausgeht, ist zwar eine andere als die, die von den Romanen für Emma Bovary ausgeht, aber gemeinsan ist beiden Typen, daß sie das eigene Leben verfehlen: die Romanleserin, weil sie zuviel, und der Blaustrumpf, weil sie zuwenig Phantasie hat. (Gertrud Lehnert: Die Leserin. Das erotische Verhältnis der Frauen zur Literatur, S. 95)


Verständigungsmedium

Was den frühen Lesbenromanen (...), den sexualwissenschaftlichen Texten (...) und der heutigen Lesebenliteratur gemeinsam ist - oder besser gesagt: was der Art und Weise gemeinsam ist, wie sie gelesen werden (und was sie strukturell wiederum mit der Literatur der Frauenbewegung teilen), ist ihre Funktion als Verständigungsmedium. Sie schaffen eine Gemeinschaft der Lesenden, die die Gemeinschaft der Lebenden vorausnimmt oder ersetzt oder erweitert, und zwar eine Gemeinschaft von höchst lebenspraktischer Bedeutung. Wenn Petrarca im 14. Jahrhundert davon spricht, daß er sich mit seinen Büchern unterhalte wie mit guten Freunden, so trifft das durch díe Jahrhunderte hindurch um so mehr zu auf die Lektüre von solchen Menschen, die gesellschaftlich marginalisiert werden, deshalb vereinsamen und ohne ihre Bücher niemals von anderen Menschen erfahren würden, die das gleich Schicksal teilen. (Gertrud Lehnert: Die Leserin. Das erotische Verhältnis der Frauen zur Literatur, S. 98)


Von Leserinnen

Lesen ist in unserer Zeit zu einem höchst komplizierten Vorgang geworden. Lesen kann den Verlust der Unschuld bedeuten, der am Anfang aller Dinge steht; Lesen kann ein vermitteltes, unspontanes und distanziertes Verhältnis zur Welt bezeichnen. Es kann stehen für die Furcht vor dem Leben und die Flucht in ein papierenes Leben aus zweiter Hand, statt für den Hunger nach Leben, der die lesenden Romanheldinnen des 18. und 19. Jahrhunderts noch charakterisierte. Für sie war Lektüre die Flucht aus der Enge der Wirklichkeit, Zeichen für die Suche nach dem eigentlichen Leben jenseits der engen Mauern, in denen die durchschnittliche weibliche Leserin ihren Alltag verbrachte. Das Lesen ersetzte ihr die Bewegungsfreiheit, die sie anders nicht hatte, während für Leserinnen a la Maud Bailey im Gegensatz dazu die Lektüre Schutz und Zuflucht vor allzuvielen realen Möglichkeiten bietet, zwischen denen sich die normale Frau des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts entscheiden muß. Und dann plötzlich passiert es: der Text findet seine Leserin, eine Begegnung zwischen zwei Seelen findet statt, die niemand vorhersehen konnte. Die Abgründe von Zeit und Raum werden plötzlich ganz nebensächlich. Lesen wird zu einer existentiellen Erfahrung, die das Leben der Leserin zu verändern vermag. Die Leserin ist auch nicht mehr die zufällige Konsumentin eines Textes, vielmehr sucht der Text die Leserin. (Gertrud Lehnert: Die Leserin. Das erotische Verhältnis der Frauen zur Literatur, S. 111f.)


Fruchtbares Wechselverhältnis

...ein fernes Echo der Literaturwissenschaft, die seit den späten 1970er Jahren die Rezeption der Texte als ebenso wichtig erkannte wie ihre Produktion. Der Text als materielles Artefakt ist nichts, er gelangt erst zum Leben im Prozeß der Lektüre. Und der Leser / die Leserin tut ebensoviel dazu wie die Autorin / der Autor, aber ohne, wie die naiven Leserinnen des 18. Jahrhundert, nur sich selbst in den Text hineinzulesen, dessen eigenständige Existenz damit geleugnet wird, sondern indem Text und Lektüre in ein fruchtbares Wechselverhältnis treten. Das Interesse an Menschen wird damit rehabilitiert, ein Interesse, das eine Zeitlang über dem reinen Text verlorenzugehen schien. (Was natürlich nicht stimmt, denn in jedem Text geht es um Menschen, wenn auch vielleicht nicht um den Autor / die Autorin.) Und hier kommt zusätzlich ein romantisches Moment ins Spiel: Dem romantischen Dichterbild wird erstmals ein vergleichbares Leserinnenbild an die Seite gestellt; die Beziehung zwischen Autor und Leserin wird als geradezu mystische aufgefaßt. (Gertrud Lehnert: Die Leserin. Das erotische Verhältnis der Frauen zur Literatur, S. 112)


Androgynität & Schöpferkraft

Wahre Dichter, so meint Virginia Woolf, in "Ein Zimmer für sich allein", seien notwendig geistig androgyn: "Vielleicht kann ein Geist, der nur maskulin ist, ebensowenig schöpferisch sein wie ein Geist, der rein weiblich ist." Der "androgyne Geist" sei resonant und durchlässig, seinem Wesen nach schöpferisch, "weißglühend und ungeteilt." (...) Nicht nur der wahre Dichter muß androgyn sein, sondern auch der wahre Leser. Nur dann kann er kongenial dem Werk des Dichters, kann er dem Dichter begegnen; nur die Schöpferkraft des Lesers vermag die Schöpferkraft des Dichters zu erkennen und zu würdigen. (Gertrud Lehnert: Die Leserin. Das erotische Verhältnis der Frauen zur Literatur, S. 116)


Buch als Luxusartikel

Die Literatur hat sich, so könnte es scheinen, vom Leben emanzipiert, und das kann sie um so mehr, je überflüssiger sie wird. Denn im Zeitalter der Medien scheint Lesen eine altmodische, überflüssige Betätigung für beide Geschlechter. Wozu lesen, wenn es Computer und Fernsehen gibt? Roald Dahls Matilda aus dem gleichnamigen Kinderbuch wünscht sich von ihrem Vater ein Buch, weil sie sich - mit drei Jahren - selbst das Lesen beigebracht hat und nun nach Lesbarem verlangt: "Vati", sagte sie, "meinst du, daß du mir ein Buch kaufen könntest?" "Ein Buch?" fragte er. "Wozu brauchst du denn ein verdammtes Buch?" "Zum Lesen, Vati." "Und was hast du gegen das Fernsehen, um Himmels willen? Wir haben einen fabelhaften Fernsehapparat mit einem Riesenbildschirm, und jetzt kommst du und willst ein Buch haben? Du bist ganz schön verwöhnt, mein Mädelchen!" Das Buch als Luxusartikel - hier schließt sich der Kreis zum frühen Mittelalter, in dem Bücher ein wertvoller Besitz waren, so wertvoll, daß die wenigsten Menschen sich auch nur ein einziges leisten konnten, so wertvoll, daß Bücher in Bibliotheken angekettet waren, damit niemand sie stehlen konnte, so wertvoll, daß reiche Herrschaften sich mit einem oder mehreren Büchern porträtieren ließen, was mit ihrer Bildung weniger zu tun hatte als mit ihrem Wohlstand. Heute zeichnet sich ab, daß Bücher, obgleich sie Massenware sind und für alle Welt erschwinglich, wieder wertvoll zu sein beginnen, weil sie ersetzbar geworden sind. Das macht sie zum Objekt der Begierde einiger altmodischer Leserinnen und Leser, die sich das Wohlgefühl, ein echtes Buch in der Hand zu halten und jede Seite einzeln umzublättern, nicht nehmen lassen wollen und denen die Gestaltung eines Buches nicht zu ersetzen vermag. (Gertrud Lehnert: Die Leserin. Das erotische Verhältnis der Frauen zur Literatur, S. 119)


Gertrud Lehnert: Die Leserin. Das erotische Verhältnis der Frauen zur Literatur. Berlin: Aufbau, 2000. 127 S. ISBN: 3-351-02790-7


[Fundstücke]  [LB-Startseite]  [E-Mail]