Der Bücherschrank


von Ossip Mandelstam

Der Bücherschrank der frühe Kindheit ist ein Begleiter des Menschen für sein ganzes Leben. Die Anordnung seiner Fächer, die Auswahl der Bücher, die Farbe der Buchrücken gilt ihm als die Farbe, Höhe und Anordnung der Weltliteratur selber. Ja, jene Bücher, die nicht im ersten Bücherschrank gestanden haben, werden es nie schaffen, ins Weltgebäude einzudringen, das die Weltliteratur bedeutet. Ob man will oder nicht, ist jedes Buch im ersten Bücherschrank klassisch, und auch nicht einen einzigen Buchrücken könnte man daraus entfernen. Diese seltsame kleine Bibliothek hatte sich im Laufe der Jahrzehnte wie geologische Schichtungen, nicht zufällig so abgeladen. Das väterliche und das mütterliche Element in ihr hatten sich nicht vermischt, sondern existierten getrennt voneinander, und der kleine Schrank war ein Längsschnitt durch die Geschichte der geistigen Bemühungen eines ganzen Geschlechts und  des mit ihm vereinigten fremden Blutes. Das unterste Fach ist in meiner Erinnerung stets das chaotische: die Bücher standen nicht Rücken neben Rücken, sondern lagen da wie Ruinen. Rötlichbraune Sammlungen der Fünf Bücher Moses mit zerrissenen Einbänden, eine Geschichte der Juden, in der schwerfälligen und zaghaften Sprache russisch schreibenden Talmudisten. Es war das in den Staub gestürzte jüdische Chaos. Auch meine althebräische Kinderfibel fiel sehr bald dorthin, da ich ohnehin kein Hebräisch lernen mochte.

In einem Anfall heimatverbundener Reue stellten meine Eltern für mich einen richtigen jüdischen Hauslehrer ein. Da kam er dann aus seinem Händlerquartier und gab mir Unterricht, ohne seine Mütze abzunehmen, was mich verlegen machte: Sein Russisch war fehlerlos, doch klang es falsch. Meine hebräische Kinderbibel zeigte auf allen Bildern - je nachdem mit einer Katze, mit einem Buch, einem Eimer oder einer Gießkanne - ein und denselben Jungen, der eine Schirmmütze trug und eine sehr trauriges Erwachsenengesicht hatte. In diesem Jungen erkannte ich mich nicht wieder und lehnte mich deshalb mit meinem ganzen Wesen gegen dieses Buch und gegen die Wissenschaft auf. Etwas an diesem Lehrer war für mich verblüffend, auch wenn es ganz unnatürlich klang: sein Stolz auf das jüdische Volk. Er sprach von den Juden, wie eine Französin von Hugo oder Napoleon spricht. Doch ich wußte, daß er seinen Stolz verbergen würde, sobald er auf die Straße hinaustrat, und deshalb glaubte ich ihm nicht. Über den jüdischen Ruinen begann eine Ordnung der Bücher. Es waren Deutsche: Schiller, Goethe, Kerner und Shakespeare in deutscher Sprache - alte, in Leipzig oder Tübingen erschienene Ausgaben, dickbauchig und knirpsig, in bordauxroten, bedruckten Einbänden, mit kleinem, für jugendliche, gesunde Augen gedachtem Druck und weichen Kupferstichen in leicht antikisierendem Stil: flehend händeringende Frauen mit gelöstem Haar, eine Lampe, die eher wie ein großer Leuchter gezeichnet war, Reiter mit hoher Stirn, und als Vignetten - Weintraubengrappen.

Es waren die Bücher meines Vaters, der sich als Autodidakt aus dem Talmuddickicht in die germanische Welt durchgeschlagen hatte. Weiter oben standen die russischen Bücher meiner Mutter - unter anderem Puschkin in der Ausgabe von Issakow aus dem Jahr 1876. Noch heute finde ich, daß das eine herrliche Ausgabe ist, und sie gefällt mir besser als die Akademieausgabe. In ihr gibt es nichts Überflüssiges, das Schriftbild ist harmonisch schön, die Verskolonnen strömen frei dahin wie fliegende Bataillone und werden angeführt von klugen, exakten Jahreszahlen bis hin zum Todesjahr 1837. Die Farbe Puschkins? Jedes Farbe ist zufällig - welche müßte man sich für ein Sprachengemurmel ausdenken? Ach, dieses idotische Farbenalphabet Rimbauds! Mein Puschkin hatte ein Gewand, das gar keiner bestimmten Farbe angehörte, er stand da Kalikoeinband der Schulbücher, in einem schwarzbraunen, ausgeblichenen Gewand mit sandig-erdfarbenem Einschlag; er fürchtete weder Flecken noch Tinte, weder Feuer noch Kerosin. Ein Vierteljahrhundert lang hatte das sandigschwarze Gewand liebevoll alles in sich aufgesogen - und die gesitige Schönheit dieses Alltagskleides, die fast körperliche Anmut des Puschkins meiner Mutter ist für mich eine lebendige Empfindung geblieben: In diesem Buch steht mir rötlichbrauner Tinte die Widmung: "Der Schülerin der 3. Klasse für ihren Fleiß".

Mit diesem Puschkin verknüpft sind Erzählungen über ideale Lehrer und Lehrerinnen mit Schwindsuchtröte auf den Wangen und durchlöcherten Stiefelsohlen - die achtziger Jahre in Wilna. Meine Mutter und besonders meine Großmutter sprachen das Wort "Intellektueller" mit großem Stolz aus. Bei Lermontow war der Einband blaugrün und irgendwie soldatisch - er war ja auch Husar. Nie ist er mir als Bruder oder Verwandter Puschkins erschienen, während ich Goethe und Schiller für Zwillinge hielt. Dort jedoch erkannte ich das Andersartige und trennte die beiden bewußt. Denn nach Puschkins Tod im Jahre 1837 rauschten sowohl das Blut wie auch die Verse ganz anders. Und was waren Turgenjew und Dostoevskij? Eine Beilage zur Zeitschrift "Ackerland". Äußerlich sahen sie sich wie Brüder ähnlich, Pappbände mit einer dünnen, durchsichtigen Hülle überzogen. Auf Dostoevskij lag ein Verbot, eine Art Grabplatte, und man sagte von ihm, daß er "schwer" sei; Turgenjew war vollkommen erlaubt und stand offen mit seinem Baden-Baden, den "Frühlingsfluten" und seinen gemächlichen Gesprächen. Doch ich wußte bereits, daß es ein so ruhiges Leben wie bei Turgenjew nicht mehr gab und mehr geben konnte.


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