Heilige meiner Jugend


von Klaus Mann

Ich las gierig, enthusiastisch, unersättlich. Indessen war es doch nicht mehr ein wahlloses Verschlingen von Massen gedruckter Worte wie in den früheren Jahren meiner Lesewut. Mein Geschmack entwickelte sich in einer bestimmten Richtung; ich fing an, mit der eigenen Neigungen und Bedürfnisse bewußt zu werden. Ich fand meine Meister, meine Götter; ich entdeckte meinen Olymp. Ich schaue sie mir an, die Heiligen, die Dämonen meiner sechszehn Jahre, und ich finde keinen unter ihnen, dessen ich mich heute schämen müßte. Freilich, manche dieser frühgeliebten Figuren haben heute in meinem Herzen nicht mehr den zentralen Platz, den ich ihnen damals im Überschwang erster Ergriffenheit, erster Dankbarkeit so willig einräumte. Der Glanz, der mich einst blendete und berauschte, mag in einigen Fällen schwächer geworden sein; auch sind andere Sterne hinzugekommen, die jenen ersten Konstellationen den Rang streitig machen, Aber sie leuchten doch noch, die Sonnen meiner Jugend; ihr Feuer, selbst wo es an Stärke verloren hat, ist rein geblieben. Nein, ich habe mich nicht täuschen lassen von Irrlichtern und künstlichen Flammen; ich habe keine falschen Götter angebetet. In unverminderter Glorie strahlt das Vierergestirn, das um diese Zeit meinen Himmel beherrschte und dem ich mich noch heute gerne anvertraue: Sokrates, Nietzsche, Novalis und Walt Whitman.

Ich liebte den Sokrates des "Gastmahl" und des "Phaidon", weil er die Schönen liebte - ach, mit welcher Verschlagenheit! welch zärtlicher Ambivalenz und schillernder Ironie! - und weil er alles vom Eros wußte und nichts von seinem furchtbaren Wissen verriet. Es waren nur einige Andeutungen und suggestive Winke, die er uns zukommen ließ. Er sagte uns auch, daß Eros die unschöne, schönheitsdurstige Gottheit beim Liebenden sei, nicht beim Geliebten. Wie gern ich dies hörte! Welch bittersüße Genugtuung mir solche Weisheit bereitete! Ich wußte, daß Sokrates die Wahrheit sprach. Ja, Eros ist häßlich, nicht schön. Ja, die Gottheit ist beim Liebenden, nicht beim Geliebten. Hatte Sokrates auch recht, wenn er das Leben eine Krankheit nannte? Da man ihm den Schierlingsbecher reichte, bemerkte er lächelnden Mundes, nun sei es Zeit für ihn, dem Gott der Heilkunst einen Hahn zu weihen: "Denn, meine Freunde, ich bin lange krank gewesen." Ist auch dies die Wahrheit? Ich habe nie aufgehört, mir diese Frage zu stellen. Und je länger ich mich bemühe, seinem letzten Orakel auf den Grund zu kommen, desto mehr verfalle ich dem Zauber dieses unwiderstehlichen Dämons und abgefeimten Heiligen, dieses großen Liebenden und Sophisten, desto inniger liebe ich den Sokrates.

Rainer Maria Rilke gehört zur gleichen Gruppe der wandernden Gottsucher und vereinsamten Beter. Diejenigen seiner Werke, die mir heute die kostbarsten sind --""Die Sonette an Orpheus" und die Duineser Elegien" - waren mir damals noch nicht bekannt; aber mit welch andächtiger Zärtlichkeit liebte ich das "Stundenbuch", den "Malte Laurids Brigge"! Noch seine Manieriertheiten waren mir ergreifend und bedeutungsvoll, noch seine künstlichsten Schnörkel und Arabesken verehrte ich als Ausdruck mönchischen Eifers. In hold gezierten Tönen sang er von der Armut und vom Tode, sein reiner Fleiß huldigte dem Herrn in perziösen Reimen und augefallenen Metaphern. Eine Seite meines eigenen Wesens antwortete auf diesen sublimen Ästhetizismus, teilte verspielte Prädilektion für seltene Worte und schöne Dinge: Fontänen, Orchideen, Gemmen, Spiegel, Edelsteine, Engel. Vor allem diese. Noch ehe ich mir den Swedenborg entdeckte und mich mit Jean Cocteaus anrüchigen Cherubim anfreundete, lernte ich bei Rilke die Grundlagen der Engelskunde. "Jeder Engel ist schrecklich", wie ich später aus den "Duineser Elegien" erfahren sollte; aber damals ergötzte ich mich noch den "tödlichen Vögeln der Seele", deren sanfter Flügelschlag mir aus dem "Buch der Bilder" und dem "Stundenbuch" so lieblich entgegenkam. Was mich an Rilke vor allem anzog, war die schillernde Zusammengesetztheit seiner geistigen Physiognomie, die Vielschichtigkeit seines Idioms, seiner Erbschaft. Dieser deutsche Dichter österreichisch-böhmischer Abkunft schien halb in Paris zu Hause (er konnte auch französische Verse schreiben), halb in einem kuppelreich-byzantinischen Moskau. Zu den slawischen und lateinischen Komponenten kommt, besonders im "Malte Laurids Brigge", ein skandinavischer Einschlag. Rilkes Prosadichtung, die mir noch heute sein bedeutendstes Werk neben den "Sonetten" und den "Elegien" scheint, gehörte zu den Schätzen, den Offenbarungen  meiner Jugend. Die schwermutsvolle Melodie der "Aufzeichnungen" begleitete mich durch die Jahre geistigen und physischen Erwachens, die für jede sensitive Natur Jahre krisenhafter Problematik sind. Vielleicht gab es nur noch einen zweiten Prosaisten, der mir ebensoviel bedeutet, den ich mit derselben Hingabe liebte und bewunderte: Herman Bang. Ich liebte alles seine Bücher, von den "Hoffnungslosen Geschlechtern" bis zu den "Vaterlandslosen". Ich liebte seine Technik, die raffinierte Diskretion eines Impressionismus, dessen Wirkungen an Monet und Debussy gemahnen. Das eigentliche Drama spielte sich bei bang stets zwischen den Zeilen ab, kaum ausgesprochen, nur angedeutet im nervösen Staccato der Dialoge. Die Menschen Bangs scheinen immer aneinander vorbei zu sprechen: Keiner versteht die scheue Bitte, den Hilferuf, den Verzweiflungsschrei des anderen. Eine furchtbare Aura von Einsamkeit umgibt sie alle, die versteinten Alten im "Grauen Haus", die Akrobaten und Abenteurer der "Exzentrischen Novellen", die umgetriebenen, gehetzten, todmüden Virtuosen in den "Vaterlandslosen" die liebende, ach, wie hoffnungslos liebenden Mädchen und jungen Frauen in "Das weiße Haus", "Am Wege", "Tine", "Ludwigshöhe".

Büchner war meine große Liebe unter den Dramatikern - zusammen mit einem Modernen, der zur Familie des "Wozzek"-Dichters gehört: Frank Wedekind. Was mich an ihm faszinierte, war die steile Gebärde, der schneidende, unberittliche, dabei immer leicht diabolisch-sarkastisch gefärbte Ernst, mit dem er seine gewagten, mir aber durchaus einleuchtenden moralischen Thesen künstlerisch demonstrierte und kämpferisch vertrat. So nimmt er seinen Platz ein zwischen meinen Heroen, noch im Dunstkreis Nietzsches, nicht weit von Heine und Büchner, aber doch feierlich isoliert: eine plumpe, gedrungene Gestalt von aggressiver Würde, halb Hanswurst, halb Prediger, der messerscharfen Mundes die "Wiedervereinigung von Moral und Schönheit" fordert. Er doziert, grimassiert, gestikuliert, vollführt barocke Sprünge; er wechselt das Kostüm, aber nie den sarkastisch-weihevollen Akzent, die stilisierte Gebärde: Sein Pathos ist immer das gleiche und für mich immer gleich überzeugend, ob er sich nun als Dr. Schön, Liebhaber der Lulu, präsentiert oder als Marquis von Keith, als König oder als Mädchenhändler. Am liebsten sehe ich ihn in der Rolle des Vermummten Herrn, der in der Schlußszene von "Frühlings Erwachen" seine sardonische Weisheit hören läßt. Der Vermummte Herr nimmt den Knaben Melchior bei der Hand und führt ihn ins Leben hinein, dessen Gefahr und Lockung er in grimmig pointierter Rede preist. Er ist vieldeutig, witzig und geheimnisvoll, der Vermummte Herr; er ist etwas schaurig und sehr attraktiv; er ist liebenswert wie das Leben.

Bei aller Buntheit scheint mein Olymp von etwas einseitiger Zusammensetzung. Das erotisch-religiöse Element überwiegt, während das soziale fast völlig vernachlässigt bleibt. Der Realismus findet sich kaum vertreten in meinem Knaben-Olymp; auch Klassiker im strengen Sinn des Wortes sind dort nicht zugelassen. Das Pantheon des Sechzehnjährigen bevorzugt eine Romantik, in der Ironie und Schwermut, Wollust und Frömmigkeit, metaphysische Ahnung und sexuell-emotionelle Ekstase einander begegnen und durchdringen. Freilich blieb die Auswahl meiner Heiligen bis zum gewissen Grade dem Zufall überlassen. Meine Neugier war nicht exklusiv. Ich bedurfte der Führung; ich wollte lernen, verehren; vor allem aber suchte ich nach Deutung  und Bestätigung des eigenen wirren, ringenden Gefühls. Mein unreifer, ungefestigter Geist öffnete, ergab sich jedem Einfluß, in dem ich auch nur die entfernteste Affinität zu meiner eigenen Art, meinem eigenen Erleben zu spüren glaubte. Unter meinen Papieren aus dieser Zeit finden sich diese Zeilen, die ich, wie mir noch erinnerlich, eines Nachts, aus dem Schlafe fahrend, mit flüchtiger Hand auf einen Zettel schrieb: Eine fremde Stimme, süß und gebieterisch, weckt mich aus tiefem Schlaf. Woher kommt mir der Ruf? Willkommen, mein Führer! Hier bin ich - zu folgen bereit: kich kümmert's nicht, wenn ... Wer du auch seiest: mit deiner Hilfe find ich am Ende - mich selbst!


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