Marianna liest...


von Dacia Maraini

Draußen ist es dunkel. Die Stille, die Marianna umgibt, ist absolut und steril. In ihren Händen hält sie einen Liebesroman. Die Worte, sagt der Schriftsteller, werden von den Augen gepflückt wie Trauben von der Rebe, sie werden ausgepreßt vom Verstand, der sich wie ein Mühlstein dreht, dann rinnen sie in flüssiger Form glücklich durch die Adern. Ist das die göttliche Ernte der Literatur? Mit den Menschen zu zittern, die durch die Seiten spazieren, den Saft fremder Gedanken zu trinken, die Trunkenheit auszukosten, die aus den Erlebnissen der anderen strömt? Die eigenen Sinne anzuregen durch das sich stets wiederholende Schauspiel einer stellvertretenden Liebe, ist das nicht auch eine Art Liebe? Was macht es schon, daß diese Liebe niemals direkt von Angesicht zu Angesicht durchlebt worden ist? Der Umarmung fremder Körper beizuwohnen, die uns mittels der Lektüre gleichwohl nah und bekannt sind, ist das nicht so, als würde man die Umarmung selbst erleben, obendrein mit dem Vorteil, Herr seiner selbst zu bleiben? Ein Verdacht geht mir durch den Kopf: daß sie nämlich die Seufzer der anderen nur belauscht. So wie sie versucht, denen, die um sie sind, den Rhythmus der Sätze von den Lippen zu lesen, verfolgt sie auf diesen Seiten das Gelingen und Mißlingen der Liebe von anderen Menschen. Gibt sie da nicht eine eher mitleiderregende Gestalt ab?

Wie viele Stunden hat sie nicht in der Bibliothek verbracht und gelernt, das Gold aus dem Sand zu sieben, es Tag für Tag zu wenden und zu reinigen und mit den Augen die trüben Wasser der Literatur zu durchdringen. Was hat sie daraus gewonnen? Ein paar grobe, krumme Körnchen Wissen. Von einem Buch zum nächsten, von einer Seite zur anderen. Hunderte von Liebesgeschichten, heitere, verzweifelte, Erzählungen vom Tod, von der Lust, von Morden, Begegnungen, Abschieden. Sie selbst aber sitzt immer in einem Sessel mit dem abgenutzten, kreisförmigen Strickmuster hinter dem Kopf. Auf den unteren Regalen, die auch für Kinderhände erreichbar sind, stehen vor allem Heiligenlegenden: Die Leiden der heiligen Eulalia, Das Leben des heiligen Leodegario: ein paar französische Bücher: Le jeu de Saint Nicolas, das Cymbalum mundi; ein paar spanische: Rimado de palacio oder Lazarillo de Tormes. Eine Menge von Almanachen: von Der Neumond über Liebe im Zeichen des Mars zu Die Ernte und Die Winde; dazu ein paar Romane für junge Fräulein, in denen auf heuchlerisch harmlose Weise von der Liebe gesprochen wird. Weiter oben, in Mannshöhe, stehen die Klassiker: von der Vita Nuova über den Rasenden Roland zu De rerum natura und den Dialogen des Platon sowie ein paar modische Romane wie Der getreue Colloander und die Jungefrauenlegenden. Das waren die Bücher in der Bibliothek der Villa Ucria, als Marianna sie erbte.

Doch seit sie sich so beharrlich dort aufhält, hat sich der Bestand an Büchern verdoppelt. Anfangs hat sie sich damit entschuldigt, daß sie Französisch und Englisch lernen wolle. Also wurden Wörterbücher, Grammatiken, Kompendien angeschafft. Sodann ein paar Reisebücher mit Zeichnungen von fernen Ländern, und endlich, mit wachsender Kühnheit, moderne Romane, Geschichtsbücher, philosophische Werke. Seit die Kinder aus dem Haus sind, hat sie sehr viel mehr Zeit. Die Bücher reichen nicht mehr aus. Sie bestellt Dutzende davon, doch oft dauert es Monate, bis sie eintreffen. Wie jenes Paket mit Miltons Verlorenem Paradies, das fünf Monate lang im Hafen von Palermo lag, ohne daß jemand davon wußte. Oder auch die Histoire comique de Francion, die auf dem Seeweg zwischen Neapel und Sizilien verlorenging, weil das Boot, auf dem sie sich befand, in der Nähe von Capri Schiffbruch erlitt. Andere Bücher hat sie verliehen und erinnert sich nicht mehr an wen; wie die Lais der Marie des France, die nicht mehr zurückgekehrt sind. Oder der Romance de Brut, auf dem wohl ihr Bruder Carlo im Kloster von San Martino delle Scale sitzt. Die Lesestunden, die sich bis in die Nacht hineinziehen, sind zwar anstrengend, aber auch voller Freuden. Marianna kann sich nie dazu entschließen, ins Bett zu gehen. Und wenn der Durst nicht wäre, der sie fast immer von der Lektüre wegtreibt, würde sie bis in die Morgenstunden weiterlesen.


Dacia Maraini: Die stumme Herzogin, München 1991


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