Beim Büchersortieren


von Robert Menasse

Er suchte im Bücherregal Hegels Phänomenologie. Es dauerte eine Zeit, bis er das Buch fand. Die Bücher waren völlig ungeordnet in seinem Regal eingeräumt. Auch früher sind die Bücher immer ungeordnet in seinem Regal gestanden, aber er hatte stets gewußt, wo etwa er welches fand. Das war jetzt eine völlig neue Unordnung, in der er sich nicht auskannte. Er mußte ein System in ein Bücherregal bringen, vorher war an Arbeit nicht zu denken. Er räumte alle Bücher aus den Regalen und stapelte sie auf dem Boden. Er überlegte, für welches System er sich entscheiden sollte. Alphabetisch nach den Autorennamen? Dadurch würde Hegel, den er täglich brauchte, entweder im obersten Regal, das er nur mit Hilfe eines Stuhls erreichen konnte, oder, wenn er umgekehrt begänne, im untersten Regal, wo er immer auf den Knien rutschen müßte, eingeordnet werden, nicht zuletzt auch deswegen, weil er keine vollständige Goethe- Ausgabe hatte, deren Bände Hegel wenigstens ins zweite Fach hätte rücken lassen. Gefühlsmäßig tendierte er daher zu einer Ordnung gemäß den Vorlieben. Die ihm wichtigen Bücher in Griffhöhe, die seltener benötigten darüber, die ungeliebten darunter. Andererseits konnte er in seinem Regal, das die ganze Seitenwand seines Arbeitszimmers einnahm, unmöglich neunzig Prozent seiner Bücher auf dem mittleren Brett zusammendrängen. Außerdem wäre das auch kein System, es würde sich erneut die Frage aufwerfen, in welcher Reihenfolge er die Bücher aufstellen solle. Und nicht zu vergessen die Bücher Judiths. Die Entscheidung, alle ihre Bücher in einer Bibliothek zusammenzufassen, war ja der Grund gewesen, daß sie dieses riesige Regal von einem Tischler haben machen lassen. Beim ersten Einräumen hatten sie seine Bücher und die ihre vermischt, weshalb er sich nun nicht mehr auskannte.

Er konnte jetzt doch nicht die Bücher wieder trennen, und ihre unter die ungeliebten unten einordnen. Eine solche Trennung würde auch das Projekt einer gemeinsamen Bibliothek wieder aufheben. Hilflos betrachete er die leere Regalwand, die gestapelten Bücher auf dem Fußboden. Er riß die Tür auf und rief nach Judith. Ihre Empfehlung, die Bücher nach Fachbereichen, und innerhalb der Fachbereiche historisch, also nach der Entstehungszeit zu ordnen, war natürlich die vernünftigste Methode. (...) Er haßte Lukacs, von dem er gerade einen Band zur Hand genommen hatte. Sollte er seine Ästhetik in der Abteilung "Philosophei" einordnen, oder gehörte sie in die Abteilung "Kunsttheorie"? Gehörte 'Geschichte und Klassenbewußtsein' zu "Geschichte" oder zu "Politische Theorie"? Und Lukacs' Schriften zur Literatursoziologie? Abteilung "Literaturgeschichte" oder "Soziologie"? 'Der junge Hegel' gehörte wohl zur "Sekundärliteratur zur Philosophie", wenn es auch darin um die Beziehung von Didaktik und Ökonomie ging, im Grunde müßte er ihn aber in den Handapparat für seine eigene Arbeit einordnen. Aber er konnte doch nicht das Werk eines Autors in fünf Fachbereiche zerreißen, sechs, denn irgendwo hatte er ja noch Lukacs' politische Schriften. "Politik", das auch noch. Diese Idee mit den getrennten Fachbereichen war ganz ohne Zweifel ein Unsinn, widersprach sie doch augenscheinlich seinem universalistischen Geistesbegriff. Er warf Lukacs' Ästhetik wieder auf den Boden und stampfte mit dem Fuß auf, natürlich nicht wirklich, sondern gewissermaßen innerlich. Judith! schrie er. An Arbeit war überhaupt nicht zu denken, solange dieses Bücherchaos in seinem Zimmer herrschte, ein unlösbares Problem.


Seine Bücher lagen immer noch auf dem Boden. Er mußte, erkannte er, das Problem der herumliegenden Bücher sinnvoll und definitiv lösen, diese halbe Lösung würde ihn nur ganz behindern. Er erinnerte sich an ein Geschäft in der Avenida Ibirapuera, in dem ihm damals, als er Judith bei ihrem Einrichtungsrausch begleitet hatte, eine besonders reiche Auswahl an Bücherschränken und Regalen aufgefallen war. Er mußte, dachte Leo, die Konsequenz aufbringen und zu diesem Geschäft fahren. Er befand sich schließlich an einem historischen Schnittpunkt seiner Entwicklung: Er war endlich zur Arbeit befreit. Jetzt konnte er nur noch alles ganz richtig oder ganz falsch machen. Es konnte kein Zufall sein, daß seine Arbeit, gewissermaßen eine ideale philosophische Studie, ihn zu idealen Arbeitsbedingungen zwingen wollte. Dieser zwingenden Tendenz durfte er sich nicht aus Bequemlichkeit entziehen. Außerdem, dachte er in plötzlich sehr eigentümlicher Gestimmtheit, halb Euphorie, halb Schmermut, außerdem war nun wirklich schon ein Ende abzusehen: dies würde der letzte notwendige Einkauf sein.

Er fuhr also zu diesem Regalgeschäft und fand dort zwei Bücherschränke, die, so wie sein Schreibtisch, in Mahagoni gearbeitet waren, wodurch sie, wie er fand, gut zu seinem Schreibtisch passen würden. Die Schränke hatten Glastüren, die seine Bücher vor Staub schützen würden. Hinter Glastüren war grüne Seide gespannt, was Leo ebenfalls äußerst sinnig fand: dadurch wären die Bücher seinem Blick entzogen und könnten ihn nie demütigen und mutlos machen, nur weil sie angeschlossene Werke waren, während er an seinem Werk erst arbeitete. In diesen Schränken würden seine Bücher ihren wahren Stellenwert erhalten, sie wären abgeschlossen im Sinn von aufgehoben, nämlich weggesperrt, bis er sie bei Bedarf konsultieren würde. Er kaufte die Schränke, schon am nächsten Morgen wurden sie geliefert. Den restlichen Tag verbrachte Leo damit, seine Bücher einzuräumen. Manche der Bücher, die er abstaubte und einordnete, schlug er auf und begann er zu lesen, zunächst im Stehen, dann bequem in seinem Sofa sitzend, die Beine auf einem der Stühle gelagert, er war momentan so glücklich, daß er plötzlich nicht mehr weiterlesen konnte, sondern das Buch, das er gerade in Händen hielt, nur noch gerührt anblickte. Es wurde Nacht, kein Buch lag mehr auf dem Boden, das Arbeitszimmer zeigte sich vollendet in funktionaler Ordnung.


© Robert Menasse: Selige Zeiten, brüchige Welt. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1994. S. 275 u. 317 f.


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