Sechs Wochen Magie ohne Musik



von Irmtraud Morgner

Im Frühjahr 1946 mußte die Mietpartei Krummbiegel, die über uns wohnte, ihre Bodenkammer räumen, weil die dem Umsiedler Blasek für seine Kinder zugesprochen worden war. Ich half beim Entrümpeln und beim Abfahren des Mülls. Als ich meinen Handwagen in den Steinbruch entlud, kam mir ein kleiner verschlossener Koffer in die Hände. Vulkanfieber. Er schien mir zum Kartoffelhamstern geeignet. Und er war so schwer, daß ich Hartholz drin vermutete. Vielleicht schon gehackt? Ich fuhr das schwere Behältnis also zurück und brach es daheim auf. Der Koffer war voll Reclamhefte. Ein Gymnasialsortiment deutscher Literatur. Ich schnitt die Hefte auf und schwartete sie durch. Worte, die ich noch nie gehört, geschweige denn gelesen hatte. Sechs Kilo Papier voll unbekannter, ungeahnter Worte, Klänge, Beschwörungen. Sechs Wochen Magie ohne Musik und nicht von schlechteren Eltern. Ich erlebte das Gymnasialsortiment als Naturereignis. Der Schock überzeugte mich, daß die Geheimnisse der Welt auch in Worten ausdrückbar sind. Am liebsten las ich Don Carlos, Die Räuber, Kabale und Liebe und Faust, ohne zu begreifen natürlich. Mein unbedarfter Kopf konnte sich in den komplizierten Gebilden nicht zurechtfinden. Aber mein Unvermögen ärgerte oder plagte mich nicht wie sonst, wenn mein Vater mit dem Laut "na" meine Dummheit rügte. Kurzes "na" hieß "Du hast wohl zwei linke Hände", langes "na": "Wann fällt denn endlich der Groschen?" Mit diesen Lauten erschütterte Johann Salman mein Selbstbewußtsein.

Als ich die unbegreiflichen Bücher durchhastete, fühlte ich mich nicht von Ungeschick deprimiert. Ich fühlte mich erhoben. In der orakelhaften Dunkelheit vermutete ich Lebensgeister, die in mir selber waren, wer-weiß-wo. Die Vermutung wurde genährt durch Lichter. Mitunter wurde mir nämlich beim wilden Schwimmen in der Dunkelheit ein Licht aufgesteckt. In Form eines Satzes. Ich unterstrich solche Sätze mit Rotstift, um die Besitzverhältnisse anzuzeigen. Ich verdächtigte die Dichter des Diebstahls. Ich fragte mich, wie gestorbene Dichter in einem jetzigen Kopf langen können und aus der Unordnung herausholen, was der Kopfbesitzer selbst nicht findet. Und ich unterstrich den Satz "Es möcht kein Hund so länger leben, drum hab ich mich der Magie ergeben" zweimal rot. Und meine Mutter Johann Salmans Vorhaltungen wegen ihrer mißratenen Tochter zu erparen, las ich anfangs im Keller. Ich gab vor, Spanholz zum Anfeuern schneiden zu wollen, und schnitt auch ein Bündel. Kälte, Dunkelheit und das durch Anschlag an der Kellertür bekanntgemachte Verbot des Umganges mit offenem Licht und Feuer trieben mich bald in die Bodenkammer. Wegen Laubsägearbeiten, sagte ich den Eltern, legte aber Säge und Holz nur griffbereit. Schließlich aber war ich von den großen Worten in solche Höhen entführt, daß ich die Niederungen der Notlügen und Alibis aus den Augen verlor.

Ich verfügte mich also ohne Angabe von Gründen in unser Vorstadtwäldchen, erstieg eine Eiche und erlebte mich an diesem angemessenen Ort als Karl Moor, Marquis Posa, Ferdinand, Faust und Mephisto. Die Astgabel, auf der ich saß, war Pferderücken, Gelehrtensessel und Thron. Um mich verzweigten sich die böhmischen Wälder, König Philipps Schloß, Millers gute Stube, Fausts Hexenzimmer, der Brocken und die Hexenküche. Die väterliche Devise "nicht auffallen" erschien mir vier Meter überm bombenzerpflügten Waldboden feige. Die auffälligen Kerle aus den Büchern machten mir Mut zum Auffallen. Die beschriebenen alten Zeiten erfuhr ich als Gegenwart, und die Gegenwart sank weg oder verschmolz mit diesen Zeiten oder wer weiß. Als mein Vater über Hausbewohner von meinem Treiben Wind bekam und mich vom Baum meiner Erkenntnis pflückte, steigerte er seinen Überzeugungssatz "Lesen ist Zeittotschlagen" zum Bekenntnissatz "Lesen macht krank". Meine Mutter sagte zu mir "Lesonkel" und lachte bei dieser Gelegenheit so laut, daß der Bauch hüpfte. Je lauter die Lache, desto ambivalenter die Bedeutung, die dahinter zu vermuten war. Meine Mutter konnte sogar lachend weinen. Wenn meine Mutter nicht so unmäßig sparsam gewesen wäre, hätte sie mein Vater gewiß zu den Sonderlingen gerechnet. Ihres Gelächters wegen, das mit den Jahren immer rätselhafter wurde. Er nannte es aber nicht "efelsch", hochdeutsch "einfältig", sondern "albern". Und albern war normal. Jedenfalls bei Frauen. Und das Wort "Lestante" gab's gar nicht. Ich lief dreistimmig herum. Die erzählte Zeit war als Medodie zu hören, die Gegenwart als Unterstimme, Künftiges als Oberstimme.


Aus: Irmtraud Morgner: Der Koffer oder Faust in der Küche. In: Texte, Daten, Bilder. Hrsg. von Marlis Gerhardt. Frankfurt/M.: Luchterhand, 1990.


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