Das ultimative Buch


von Marcel Möring

"Hinter der Tür zum Dachboden liegt noch ein ganzer Gletscher an Stühlen, und notfalls verheizen wir das Bett." Ich mußte grinsen, als ich das sagte, aber ich wußte, sie würde nicht zurückgrinsen. Sie ging zu ihrem Sessel und nahm bedächtig Platz. "Ein Tag. Ich denke, wir haben noch genug für einen Tag." Ich antwortete nicht. "Warum hast du gesagt, wir haben genug?" "Weil", ich richtete mich etwas auf, um an die Zigaretten in meiner Jackettasche zu kommen, "weil wir immer noch die Bibliothek haben." Ich gab ihr eine Zigarette, nahm mir selbst eine und versorgte uns mit Feuer. Nina schüttelte ganz leicht den Kopf. Ich wußte, daß sie meine Antwort erwartet hatte. "Vor noch nicht mal einer Stunde hast du gesagt, das ist eine einzigartige Sammlung." "Leben ist einzigartiger als Bücher." Sie reagierte nicht. Das Feuer im Kamin entwickelte sich prächtig. Es war spürbar wärmer geworden. "Sind das Bücher, die Onkel Herman und du gekauft haben?" "Einige. Die meisten hat Zeno zusammengetragen. Zeno kannte sich ausgezeichnet mit alten Büchern aus."

"Woher wußte er, was in der Sammlung noch fehlte?" Ich gab ein kurzes Lachen von mir, das ich selbst nicht recht einschätzen konnte, halb Stolz (auf meinen genialen kleinen Bruder, der zur einen Hälfte ein verrückter Professor und zur anderen ein falscher Messias war), halb Scham (weil Onkel Herman und ich in unserer Gier eine Liste nach der anderen zusammenstellten und in die Hände klatschten, wenn Zeno wieder mit einem Karton alter Bücher ankam). "Er hatte selber schon eine ganz nette Bibliothek beisammen. Die wollte er gerade verkaufen, als Onkel Herman sich dafür zu interessieren begann. Und dann haben Herman und ich ständig nach möglichen Ergänzungen der Sammlung gesucht, und die ließen wir dann von Zeno aufstöbern. Bis er Wichtigeres zu tun bekam." "Und was war der Zweck der ganzen Übung?" Ich legte den Kopf an die Rückenlehne meines Sessels und schaute zur Decke, zu den im Dämmerlicht nur zur Hälfte erkennbaren Ornamenten aus Weinranken, wurmstichigen Äpfeln und Lorbeerzweigen hinauf.

"Für Zeno? Eine Art Beschwörung, denke ich. Der Versuch, einen Zustand der Stille herzustellen, einen Zustand, der nicht der Entropie ausgesetzt ist. Daneben suchte er wahrscheinlich, wie alle Bibliomanen, das Buch." Das Feuer prasselte. Das trockene Holz der Stühle und des Klaviers knallte und krachte so laut, daß man hätte meinen können, jemand schlüge mit einer Peitsche in die Flammen. "Was für ein Buch?" "Das Buch." Sie wartete. Aber worauf? Was konnte ich ihr schon vom ultimativen Buch erzählen? Was konnte ich ihr schon über Bücher sagen, die Menschen (nie die Welt, aber Menschen) verändert hatten? Franny Glass, die Der Weg des Pilgers las. Herr O. und die Bhagavadgita. Danny Saunders und Freuds Krankheitsgeschichte. Onkel Herman und Tolstois Eheglück. "Es ist eine Art Mythos. Sehr viele Menschen glauben, daß es so etwas gibt wie Das Buch. Das Buch vom Weihnachtsmann. Die erste Version der Genesis. Einen verborgenen Text von Aristoteles." "Ohne zu wissen, ob es überhaupt existiert?" "Zum Teil. Von bestimmten Texten wissen wir, daß es sie gegeben hat. Es muß zum Beispiel eine Urversion der Genesis gegeben haben.

Es würde uns eine Menge sagen, wenn wir ihrer je habhaft würden." "Und welches Buch hat Zeno gesucht?" fragte Nina. "Das wissen wir nicht." "Wir?" "Ich. Onkel Herman wußte es auch nicht. Allerdings hatten wir unsere Mutmaßungen angesichts der Sammlung, die Zeno zusammengetragen hat." Ich erhob mich aus meinem Sessel, Gelenke wie sprödes Holz, Kleider aus Blei, und drehte mich mit dem Rücken zum Feuer. "Vielleicht ist es ja gar kein besonderes Buch. Niemand weiß das. Das heißt: Wir wissen so ungefähr, wovon es handeln muß." Die Glut der Flammen erreichte als Hitzewelle meine Haut und begann langsam meine Knochen zu wärmen. "Mit Büchern ist es wie mit Menschen: Man kennt jemanden auch durch dessen Freunde, seine Umgebung. Wie oft bist du nicht schon auf die Idee gekommen, ein bestimmtes Buch zu lesen, weil du in einem anderen Buch davon gelesen hast?" (Marcel Möring: In Babylon, S. 281-283)


Marcel Möring: In Babylon, Rowohlt-Taschenbuch, S. 281-283


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