Ein Lesetier


von Hanns-Josef Ortheil

In dieser geschlossenen Sphäre gab es nur eine Fremdheit, nur ein schwer zu erforschendes Unbekanntes: die Bücher. Meine Mutter war von Beruf Bibliothekarin, vor dem Krieg hatte sie die einzige Bibliothek des Ortes, eine katholische Pfarrbibliothek, aufgebaut und geleitet, bis sie von den Nationalsozialisten von diesem Amt vertrieben worden war. Sie hatte sich geweigert, ihnen die Benutzerlisten der Bibliothek auszuhändigen, und mit dieser Weigerung hatte sie ihren Beruf verloren. Aber sie hatte weiter gelesen, das Lesen war ihre liebste Beschäftigung, und auch als sie sich nicht mit Worten verständigen konnte, hörte sie nicht auf zu lesen. Lesend, mit einem Buch in der Hand, auf einem Sofa liegend, im Park auf einer Bank war sie mit dem Buch allein. Wenn sie las, rückte ich um ein weniges von ihr weg, das Buch war der Fremde, der sie von mir entfernte, und die Verständigung, die sich, jedes Mal, wenn sie las, zwischen ihr und dem Fremden herzustellen schien, schloß mich aus. Ich glaube, ich begriff früh, was mit ihr geschah, jedenfalls spürte ich, wie sie sich lesend von mir trennte, nur für Stunden, aber doch so, daß ich sie nur vermindert erreichte. Zwischen ihr und dem Buch entstand eine Art von Kontakt. Das Buch, seine schmächtigen, mageren Zeilen, sein bunter Umschlag, sein meist dumpfer, schwerer Geruch, dem ich nachschnüffelte, als entströmte er einer geheimnisvollen Küche, deren Zutritt mir verwehrt war - das Buch nahm meine Mutter gefangen. Lesend, den verschlungenen Pfaden der Buchstaben und Zeilen folgend, geriet sie in eine Art Trance.

Ich erkannte die Veränderungen an ihren Zügen, an den Augen, die etwas Entrücktes, Weites bekamen, als starrten sie auf die offene See, an den Mundwinkeln, die sich entspannten und weich wurden wie zu einem Kuß, an den Lippen, die sich einen kleinen Spalt öffneten und langsam zu schwingen begannen wie die zuckenden Kiemen eines Fisches. Das Lesen war eine Verzauberung, im Lesen verbündete meine Mutter sich mit fernen Mächten, es war eine Art Träumen, ein Wachtraum, in dem die Bilder sich aneinanderzureihen schienen zu einer nicht mehr lösbaren Kette. Die Glieder dieser Kette aber waren mir unergründlich, und da ich nur ahnte, daß sie in den Seiten der Bücher entstanden, versuchte ich, die Bücher an mich zu reißen. Ich trug sie zusammen, stapelte sie, riß Seiten heraus, blätterte lange in ihnen, ich begann sie anzufressen, löste den Umschlag ab, zerzupfte die Seiten, trennte sie in Streifen, klumpte sie zu Bällen, es heißt sogar, ich hätte eine Art Vorrat an Büchern angelegt, heimlich, in einem Versteck, als wäre es darauf angekommen, Vorsorge zu treffen für eine harten, kalten und buchlosen Winter. In meiner Erinnerung sind die Bücher die ersten schweren Lasten meiner Kindheit. Ich trug sie zu zweit oder zu dritt unter dem Arm, legte sie in einem Karren, zog sie hinter mir her, ich verteilte sie im Raum an den entlegensten Stellen wie Ostereier, die man zu suchen hatte, ich pflasterte die Diele mit Büchern, und hätte ich vom Tapezieren gewußt, so hätte ich die Wände mit den Seiten der Bücher beklebt. Obwohl ich sie alle gleich behandelt haben soll und kein einzelnes bevorzugt, sind mir doch viele im Gedächtnis geblieben, und wenn ich heute vor den Bücherschränken meines Elternhauses stehe, erinnere ich mich ganz deutlich an meine frühen Kontakte.

Ich wußte, daß die Bücher gelesen werden sollten, doch ich ersetzte meine Unkenntnis dadurch, daß ich sie schmeckte. Schmecken bedeutet: die Bücher zu riechen, sie mit der Zunge zu lecken, ihre Farben aufleuchten zu sehen, das Papier zu spüren, sie als lebendige Wesen zu empfinden. Bücher hatten Haare auf dem Umschlag, ihre ersten Seiten starrten mich mit ihren hervorgehobenen Lettern an wie weit geöffnete Augen, die mich erschreckten, die Seiten hatten etwas von schwarzem, vermodertem Laub, wie überhaupt der Geruch meist ein stickiger, pestartiger war, als habe ein wildes, stinkendes Tier all diese Buchstaben mit seinem Schwanz herbeigewedelt. Später hat diese Lust sich gesteigert, sie entwickelte sich zu einer Passion für Bibliotheken, besonders aber für alte Lesesäle, oder für lange Holztische in alten Lesesälen, in denen die Wände ringsum bis zur Decke voll waren mit Büchern. Mit zwölf, dreizehn Jahren habe ich zum ersten Mal in einem solchen Lesesaal gesessen, ich hatte meine Mutter dorthin begleiten dürfen, und während sie etwas nachgeschlagen und sich Notizen gemacht hatte, hatte ich unbeweglich auf einem Stuhl hinter einem der langen Holztische gesessen, auf denen sich die Bücherstapel der Benutzer türmten. Ich beneidete jeden von ihnen, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als Stunden in einem solch hohen Raum mit schlanken, hellen Fenstern sitzen zu dürfen, um zu lesen. Schon der bloße Gedanke an diese Möglichkeit löste ein unwiderstehliches Kribbeln und Ziehen in mir aus, als führe mir einer langsam und vorsichtig mit den Fingerkuppen über die nackte Rückenhaut, oder als bürstete mir jemand mit einem feinen Kamm die Nackenpartie. Es waren Anfälle wohliger Schauer, die mich überkamen, eine tief sensuelle Lust, vielleicht eine Art libidinöser Appetit, als könnte ich durch das Lesen weniger meinen Geist als meinen Körper verwöhnen.

Diese Zustände haben meine Lesesucht ausgelöst, das stundenlange, ununterbrochene Eintauchen in die Bücherflut, wahllos, wie von einem Heißhunger getrieben. Ich legte sie vor mir auf den Tisch, stapelte sie, drehte die Buchrücken zu mir hin, und es war so, als rückte ich sie bereit zu einer wollüstigen Vertilgung. Der Lesemund öffnete sich, ich begann, diese trockenen Brocken einen nach dem anderen zu verschlingen, und es erhöhte die Lust, daß sich in meiner Umgebung Menschen aufhielten, die sich genauso still und doch leidenschaftlich dieser Lust hinzugeben schienen wie ich. Denn die Anziehung, die der Lesesaal ausübte, gründete nicht nur in der seligmachenden Phantasie, man hielte sich im Schlaraffenland auf, wo einem die Bücher wie dicke Happen in den Mund flögen, sondern auch darin, daß die Umgebung still war und stumm. Ohne Geräusche von sich zu geben, kauten die Leser ihre Buchstaben, wickelten sie in ihre Kladden und Hefte, schöpften das geistige Fett ab, tunkten sie in die Tinte ihrer Stifte und Federhalter. Das Lesen war die triebhafte Passion der Schweigsamen, es stiftete eine Gemeinschaft zwischen denen, die doch allein sein wollten, es ließ sich verstehen als das unendliche, ziellose Murmeln, nach dem ich mich sehnte. Diese Passion ist mir geblieben bis heute, noch immer laufe ich in Städten, auch wenn ich sie nur flüchtig besuche, in die Bibliotheken, und noch immer stelle ich mir in ihren Lesesälen vor, wie es wohl wäre, in einem solchen Raum für Stunden zu sitzen, so lange, bis die Verwandlung einsetzen würde.

Inzwischen erstreckt sich diese Faszination auf die manischen Buchmenschen, die freßgierigen Autodidakten, die Bibliomanen, von der Bibliophilie dagegen habe ich nie etwas gehalten. Bibliomane, das sind Leser, die Bibliotheken um ihrer selbst willen lesen, Leser, die nicht aufhören können, aus Büchern ihre eigenen Exzerpte zu schneiden, Leser, die diese Exzerpte in kunstvoll geplanten Systemen ordnen und übersichtlich machen, Lesetiere also, schwer, übersättigt und langsam, tief in das immer gewaltiger werdende Buchstabenfett vergraben. Bibliomanen, das sind die Elephanten des Lesens, so wie das Element des Elephanten die unendlich zirkulierende Schrift ist. Seit ich diese Tiere zum ersten Mal sah, ich sah sie im Wuppertaler Zoo, nahe der Wupper, gleich neben dem dortigen Stadion, wußte ich, daß es meine Tiere waren. Es hieß, sie seien klug, und doch war davon auf den ersten Blick nichts zu erkennen, es hieß, sie seien gelehrig, auch das konnte ich nur ahnen. Doch als ich ihre Augen sah, wußte ich, daß es Leseaugen waren, meist nach innen, in die Tiefe des Körpers gerichtete Augen, die sich, wie mir schien, zur Betrachtung der Außenwelt erst umstülpen mußten. In den langsam wandernden Augen der Elephanten, in ihren kurios vergrößerten Ohren erkannte ich die Eigenheiten der Leser wieder: Augen, die buchstabieren, und Ohren, die den unendlich zerstreuten Schall des Weltenmurmelns belauschen.


© Hanns-Josef Ortheil: Ein Lesetier. Aus: Das Element des Elephanten, München: Piper, 1994


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