|
Daniel Pennac
Die zehn unantastbaren Rechte des Lesers
1. Das Recht, nicht zu lesen
2. Das Recht, Seiten zu überspringen
3. Das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen
4. Das Recht, noch einmal zu lesen
5. Das Recht, irgendwas zu lesen
6. Das Recht auf Bovarysmus
7. Das Recht, überall zu lesen
8. Das Recht herumzuschmökern
9. Das Recht, laut zu lesen
10. Das Recht zu schweigen
DAS RECHT, NICHT ZU LESEN
Wie jede Aufzählung von "Rechten", die etwas auf sich hält, sollte auch
diese hier eröffnet werden mit dem Recht, sie nicht zu gebrauchen - in
diesem Fall dem Recht, sie nicht zu lesen -, sonst handelt es sich nicht um
eine Liste von Rechten, sondern um eine tückische Falle. Zunächst einmal
gewähren sich die meisten Leser täglich das Recht, nicht zu lesen.
Ungeachtet unseres Rufs trägt zwischen einem guten Buch und einem
schlechten Fernsehspiel das zweite öfter, als wir zugeben möchten, den Sieg
über das erste davon. Und außerdem lesen wir nicht kontinuierlich. Unsere
Lesephasen wechseln oft mit langen Phasen der Enthaltsamkeit ab, in denen
der bloße Anblick eines Buches die giftigen Ausdünstungen des Überdrusses
erweckt. Aber etwas anderes ist noch wichtiger. Wir sind umgeben von einer
Menge ganz und gar achtbarer, mitunter "herausragender" Menschen, darunter
Akademiker - von denen manche sogar recht ansehnliche Bibliotheken besitzen
-, die aber nicht lesen oder so wenig, daß wir nie auf den Gedanken kämen,
ihnen ein Buch zu schenken. Sie lesen nicht. Entweder weil sie nicht das
Bedürfnis haben oder weil sie sonst zuviel anderes zu tun haben (was aber
auf dasselbe hinausläuft, da dieses Andere sie ausfüllt oder unzugänglich
macht), oder weil sie eine andere Liebe hegen, der sie ausschließlich
leben. Kurz, diese Leute lesen nicht gern. Deshalb ist der Umgang mit ihnen
nicht weniger empfehlenswert, ja sogar höchst angenehm. (Sie fragen uns
wenigstens nicht bei jeder Gelegenheit nach unserer Meinung über das letzte
Buch, das wir gelesen haben, ersparen uns ihre ironischen Vorbehalte gegen
unseren Lieblingsautor und halten uns nicht für zurückgeblieben, weil wir
uns noch nicht auf den letzten Souundso gestürzt haben, der gerade bei
Dingsda erschienen ist und dem der Kritiker Dingsbums höchstet Lob gezollt
hat.) Sie sind genauso "menschlich" wie wir, äußerst sensibel angesichts
des Unglücks auf dieser Welt, in Sorge um die Menschenrechte, die sie in
ihrem persönlichen Einflußbereich bewußt beachten, was schon viel ist -
aber sie lesen einfach nicht. Das steht ihnen frei.
Die Vorstellung, Lesen "mache den Menschen menschlicher", ist ganz, richtig,
auch wenn sie einige deprimierende Ausnahmen zuläßt. Man ist wahrscheinlich etwas
"menschlicher" - gemeint ist, etwas solidarischer mit der Menschheit (etwas weniger
"tierisch") -, nachdem man Tschechow gelesen hat.
Aber hüten wir uns, diesen Lehrsatz umzukehren, wonach jedes Individuum, das nicht
liest, von vornherein als potentieller Unmensch oder als unbrauchbarer Kretin
gelten müßte. Andernfalls würden wir das Lesen als moralische Verpflichtung
hinstellen, und das wäre der Anfang einer Eskalation, die bald dazu führen würde,
zum Beispielt über den sittlichen Wert der Bücher zu urteilen, anhand von
Kriterien, die keinerlei Achtung hätten vor jener unanstastbaren Freiheit
der schöpferischen Freiheit, Dann wären wir, soviel wir auch läsen, der Unmensch.
Und an solchen Unmenschen fehlt es weiß Gott nicht auf dieser Welt.
Mit anderen Worten, die Freiheit zu schreiben darf nicht mit der Pflicht zu lesen
einhergehen.
Die Erziehungspflicht besteht im Grunde darin, den Kindern das Lesen beizubringen,
sie in die Literatur einzuführen, ihnen die Mittel zur Verfügung zu stellen, daß
sie frei beurteilen können, ob sie das Bedürfnis nach Büchern empfinden oder
nicht. Man kann zwar ohne weiteres zulassen, daß jemand das Lesen ablehnt,
aber es ist unerträglich, daß er vom Lesen abgewiesen wird oder sich abgewiesen
glaubt. Es ist unendlich traurig, es ist eine Einsamkeit in der Einsamkeit, von
Büchern ausgeschlossen zu sein - die inbegriffen, auf die man verzichten kann.
DAS RECHT, SEITEN ZU ÜBERSPRINGEN
Ich habe Krieg und Frieden zum erstenmal mit zwölf oder dreizehn Jahren
gelesen (eher dreizehn, ich war in der fünften Klasse und kaum weiter). Seit
dem Beginn der Ferien, der großen Ferien, sah ich meinen Bruder (denselben wie
der mit Der große Regen) in diesen wahnsinnig dicken Roman vertieft, und
sein Blick war so weit weg wie der eines Forschungsreisenden, der schon seit
langem jeden Gedanken an sein Heimatland verloren hat.
"Ist das so toll?"
"Ja, prima!"
"Wovon handelt es?"
"Es ist die Geschichte von einem Mädchen, das einen Typ liebt und einen
dritten heiratet."
Mein Bruder hatt immer eine Begabung für Zusammenfassungen. Wenn die Verleger
ihn einstellen würden, um ihre Klappentexte zu verfassen (diese pathetischen
Aufforderungen zu lesen, die auf den Umschlagklappen stehen), würden sie uns
viel unnötigen Schmonzes ersparen.
"Leihst du es mir?"
"Ich schenke es dir."
Für mich als Internatsschüler war es ein unschätzbares Geschenk. Zwei dicke Bände,
die mir das ganze Trimester reichen würden. Fünf Jahre älter als ich, war mein
Bruder keineswegs blöd und wußte bestimmt, daß Krieg und Frieden sich
nicht auf eine Liebesgeschichte reduzieren ließ, so gelungen sie auch sein
mochte. Nur kannte er meine Vorliebe für glühende Gefühle und verstand es, meine
Neugier durch das rätselhafte Formulieren seiner Zusammenfassungen zu kitzeln.
(Ein Pädagoge nach meinem Herzen.) Ich glaube, es lag am arithmetischen Geheimnis
seines Satzes, daß ich meine Jugend- und Abenteuerbücher und ähnliche Schmöker
vorübergehend beiseite legte, um mich auf diesen Roman zu stürzen.
"Ein Mädchen, das einen Typ liebt und einen dritten heiratet... wer hätte da
widerstehen können? Tatsächlich wurde ich nicht enttäuscht, obwohl mein Bruder
sich verrechnet hatte. In Wirklichkeit waren es vier, die Natascha liebte:
Fürst Andrej, Anatol, dieser Strolch (aber kann man das Liebe nennen?), Pierre
Bezuchow und ich. Da ich keinerlei Chance hatte, mußte ich mich mit den anderen
identifizieren. (Aber nicht mit Anatol, diesem Mistkerl!)
Eine um so köstlichere Lektüre, als sie nachts, beim Schein einer Taschenlampe
unter meiner zeltartig aufgewölbtem Decke mitten in einem Schlafsaal mit fünzig
Träumenden, Schnarchenden und Strampelnden stattfand. Das Zelt des Aufsehers
mit dem Nachtlämpchen war ganz in der Nähe, aber was machte das, in der Liebe
setzt man immer alles aufs Spiel. Ich spüre noch den Umfang und das Gewicht
dieser Bände in den Händen. Es war die Taschenbuchausgabe mir Audrey Hepburns
hübschem Köpfchen, auf das ein fürstlicher Me Feller mit den schweren Lidern
eines verliebten Raubvogels herabsah. Ich habe trotzdem Mitleid mit Anatol
gehabt, als man sein Bein amputierte, ich habe diesen Dummkopf von Fürst
Andrej dafür verflucht, daß er in der Schlacht von Borodino vor dieser
Kanonenkugel stehengeblieben ist... "Leg dich doch hin, verdammt noch mal,
runter auf den Bauch, das explodiert gleich, das kannst du ihr nicht antun,
sie liebt dich!"...Ich habe mich für die Liebe und die Schlachten interessiert
und habe die politischen zbd strategischen Sachen übersprungen.
Da Clausewitz' Theorien weit über meinen Horizont gingen, habe ich
ClausewitzÄ Theorien ausgelassen. Ich habe Pierre Besuchows ehelichen Verdruß
mit seiner Frau Helene (unsympathisch, die Helene, ich fand sie wirklich
unsympathisch) sehr genau verfolgt und habe Tolstoj allein über die
landwirtschaftlichen Probleme von Mütterchen Rußland dozieren lassen.
Ich habe einfach Seiten übersprungen.
Und alle Kinder sollten es ebenso machen.
Auf diese Weise könnten sie sich sehr früh fast alle Schätze gönnen, die als
für ihr Akter ungeeignet gelten. Wenn sie Lust haben Moby Dick zu lesen,
sollten sie bei Melvilles Ausführungen über das Gerät und die Technik des
Walfanges nicht den Mut verlieren, sie brauchen die Leküre nicht aufzugeben,
sondern sollten diese Seiten überspringen und, ohne sich um das übrige zu kümmern,
Ahab folgen, wie er seinen weißen Grund zu leben und zu sterben verfolgt.
Wenn sie Iwan, Dimitrij und Aljoscha Karamasow und ihren unglaublichen Vater
kennlernen wollen, sollen sie Die Brüder Karamasow aufschlagen und
lesen, es ist für sie, auch wenn sie das Testament des Starez Zosima
oder die Legende vom Großinquisitor überspringen müssen.
Wenn sie nicht selber entscheiden, was für sie verständlich isr, und Seiten
ihrer überspringen, lauert eine große Gefahr aus sie: Andere werden es an ihrer
Stelle tun. Diese anderen werden zur großen Schere der Dummheit greifen und
alles herausschneiden, was sie für zu schwierig für sie halten. Da kommen
schrecklichen Sachen heraus. Moby Dick oder Die Elenden auf
150 Seiten verkürzt, verstümmelt, verkrüppelt, versaut, mumifiziert, für sie
in eine blutarme Sprache umgeschrieben, die man für die ihre hält! Ungefähr
so, wie wenn ich mir herausnähme, Guernica neu zu machen, weil Picasso
für ein zwölf- bis dreizehnjähriges Auge angeblich zuviel Einzelheiten
hineingepackt hat.
Und außerdem, auch wenn wir groß geworden sind und es nur ungern zugeben, aus
Gründen, die nur uns und as Buch, das wir lesen, angehen, kommt es immer noch
vor, daß wir es uns strikt verbieten und alles bis zur letzten Zeile lesen, um
dann zu beurteilen, daß der Autor hier zu lang ist, dort eine ziemlich
zweckfreie kleine Flötenmelodie vorspielt, daß er an dieser Stelle der
Wiederholung und an jender anderen dem Schwachsinn frönt. Was wir auch sagen
mögen, diese eigensinnige Langeweile, die wir uns dann zumuten, ist keine
Pflichtübung, sie ist eine Spielart unserer Freude am Lesen.
DAS RECHT, EIN BUCH NICHT ZU ENDE ZU LESEN
Es gibt sechsunddreißigtausend Gründe, einen Roman vor dem Ende
wegzulegen: das Gefühl von "Deja-lu", eine Geschichte, die uns nicht
fesselt, unsere totale Ablehnung der Thesen des Autors, ein Stil, von dem
wir eine Gänsehaut bekommen, oder, im Gegenteil eine Art zu schreiben, bei
der es keinen Grund weiterzulesen gibt. Es ist unnötig, die anderen 35 995
anderen Gründe aufzuzählen, zu denen auch Zahnschmerzen und die Schikanen
unseres Chefs gehören oder ein Herzbeben, das unseren Kopf versteinert.
Fällt uns das Buch aus der Hand? Soll es doch fallen.
Schließlich ist nicht jeder, der will, ein Montesquieu, daß er
sich auf Befehl den Trost eines Lesestündchens gönnen könnte.
Unter den Gründen, die wir haben, ein Buch aufzugeben, ist einer, der es
verdient, etwas genauer betrachtet zu werden: das unbestimmte Gefühl des
Scheiterns. Ich habe das Buch aufgeschlagen, ich habe gelesen und mich bald
von etwas überwältigt gefühlt, was, wie ich fühlte, stärker war als ich.
Ich habe meine Neuronen gesammelt. Ich habe mit dem Text gekämpft, nichts
zu machen, auch wenn ich das Gefühl habe, daß das Geschriebene es verdient,
gelesen zu werden, ich kapiere nichts oder soviel wie nichts, ich spüre
eine "Fremdheit", die mir keinen Zugang bietet. Ich lasse das Buch fallen.
Oder vielmehr, ich lasse es liegen. Ich stelle es mit dem vagen Vorhaben,
eines Tages darauf zurückzukommen, in meinen Bücherschrank.
Peterburg von Andrej Belyi, Joyce und sein Ulsysses,
Unter dem Vulkan von Malcolm Lowry haben einige Jahre auf mich gewartet.
Es gibt andere, die immer noch auf mich warten, darunter einige, die ich
wahrscheinlich nie schaffen werde. Das ist keine Tragödie, das ist einfach so.
Der Begriff Reife ist, wenn es um Leküre geht, etwas Eigenartiges. Bis zu
einem bestimmten Alter sind wir für manchen Bücher nie alt genug. Aber im
Gegensatz zu guten Weinen altern Bücher nicht. Sie warten in unseren Regalen
auf uns, und wir altern. Wenn wir uns reif genug halten, sie zu lesen, wagen
wir uns noch einmal an sie heran. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder
findet die Begegnung statt, oder es ist wieder ein Fiasko.
Vielleicht versuchen wir es weiter, vielleicht nicht. Aber es ist bestimmt
nicht Thomas Manns Schuld, daß ich bisher noch nicht den Gipfel seines
Zauberberges erreichen konnte.
Der große Roman, der sich uns widersetzt, ist nicht unbedingt schwieriger als
irgendein anderer. Zwischen ihm, so groß er auch sein mag, und uns, durchaus
fähig, ihn zu verstehen, wie wir meinen, findet eine bestimmte chemische
Reaktion nicht statt. Eines Tages nähern wir uns dem Werk Borges an, der uns
bis dahin auf Abstand gehalten hat, aber das Werk Musils bleibt uns unser
Leben lang fremd...
Dann haben wir die Wahl: Entweder denken wir, daß es unsere Schuld ist,
daß uns ein paar graue Zellen fehlen, daß wir ein Stück unheilbarer Krankheit
in uns haben, oder wir bemühen den sehr umstrittenen Begriff Geschmack
und versuchen, uns über den unseren klarzuwerden.
Es ist klug, unseren Kindern die zweite Lösung zu empfehlen. Zumal diese
das seltene Vergnügen bescheren kann, ein Buch noch einmal zu lesen und
endlich zu verstehen, warum man es nicht mag. Und das seltene Vergnügen,
ungerührt den Bildungsspießer vom Dienst uns in den Ohren liegen zu hören:
"Wie kann man nur Stendhal nicht mögen?"
Man kann.
DAS RECHT, NOCH EINMAL ZU LESEN
Noch einmal lesen, was man beim erstenmal verworfen hat, noch einmal lesen, ohne
Abschnitte zu überspringen, noch einmal unter einen anderen Aspekt zu lesen, zur
Überprüfung noch einmal zu lesen, jawohl, all diese Rechjte genehmigen wir uns.
Aber wir lesen vor allem zweckfrei, aus Spaß an der Wiederholung, aus Freude am
Wiederfinden und um die Vertrautheit auf die Probe zu stellen.
"Noch mal, noch mal", sagt das Kind, das wir waren... Unser Wieder-lesen als
Erwachsener geht auf diesen Wunsch zurück: uns an etwas Beständigem zu erfreuen
und es jedesmal wieder so reich an neuen Freuden zu finden.
DAS RECHT, IRGENDWAS ZU LESEN
Beim Thema "Geschmack" leiden manche meiner Schüler erheblich, wenn sie vor
dem Aufsatz der erzklassischen Frage sitzen: "Kann man von guten und
schlechten Romanen sprechen?" Da sie der grundsätzlichen Position "ich
mache keine Konzessionen" zugeneigt sind, untersuchen sie das Problem,
statt sich seinem literarischen Aspekt zu widmen, von einem ethischen
Standpunkt aus und behandeln die Frage nur unter dem Gesichtspunkt der
Freiheiten. Damit könnte die ganze Aufgabe mit folgender Formel beantwortet
werden: "Nein, nein, man hat das Recht zu schreiben, was man will, und
jeder Lesergeschmack ist naturgegeben, ist doch wahr!" Ja, ja, eine
durchaus ehrenhafte Position. Trotzdem gibt es gute und schlechte Romane.
Man kann Namen nennen, man kann Beweise anführen. Um es kurz zu machen,
sagen wir in groben Zügen, daß es etwas gibt, was ich eine "industrielle
Literatur" nennen würde, die sich damit begnügt, die gleichen Erzählformen
endlos zu reproduzieren, Klischees vom Fließband ausspuckt, mit guten
Gefühlen und großen Empfindugnen handelt, auf jeden vom Tagesgeschehen
gelieferten Anlaß aufspringt, um ein Gelegenheitsepos auszubrüten,
"Marktanalysen" betreibt, um je nach "Konjunktur" ein bestimmtes "Produkt"
zu schmieden, das eine bestimmte Kategorie von Lesern begeistern soll. Das
sind mit Sicherheit schlechte Romane. Warum? Weil sie nicht auf
schöpferisches Schreiben zurückgehen, sondern auf die Reproduktion
vorgefertigter "Formen", weil sie mit Vereinfachung (das heißt Lüge)
operieren, während der Roman die Kunst der Wahrheit (das heißt der
Komplexität) ist, weil sie unsere automatischen Reaktionen bedienen und
damit unsere Neugier einschläfern, schließlich und hauptsächlich, weil der
Verfasser nicht darin zu finden ist noch die Realität, die er uns zu
beschreiben vorgibt. Kurz, eine "leseleichte" Literatur aus einer Gußform,
die uns in eine Gußform bringen möchte. Man darf nicht glauben, daß dieser
Schwachsinn ein neues, mit der Industrialiserung des Buches aufgekommenes
Phänomen ist. Keineswegs. Die Ausbeutung des Sensationellen, des übermäßig
Witzigen, der billigen Erregung in Sätzen ohne Verfasser ist nicht erst von
gestern. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Der Ritterroman hat sich in
diesem Morast festgefahren, und lange nach ihm die Romantik. Da jedes
Unglück zu etwas gut ist, hat uns die Reaktion auf diese vom Weg
abgekommene Literatur zwei der schönsten Romane der Welt beschert: Don
Quijote und Madame Bovary. Es gibt also "gute" und "schlechte" Romane.
Meistens sind es letztere, denen wir zuerst über den Weg laufen. und
wahrhaftig, als die Reihe an mir war, habe ich das "ganz toll" gefunden,
wie ich mich erinnere. Ich hatte großes Glück: Man hat sich nicht
über mich lustig gemacht, man hat nicht die Augen verdreht, hat mich
nicht einen Schwachkopf genannt. Man hat einfach einige "gute" Romane in
meiner Nähe herumliegen lassen und sich gehütet, mir die anderen
zu verbieten. Das war weise. Eine Zeitlang lesen wir gute und schlechte
Romane durcheinander. Wie wir auch nicht von einem Tag auf den anderen
unsere Kinderbücher aufgeben. Alles vermischt sich. Man hat Krieg und
Frieden durch und stürzt sich wieder auf Abenteuerromane.
Man wechselt von Frauenromanen (Geschichten von gutaussehenden Ärzten
und edlen Krankenschwestern) zu Boris Pasternak und seinem Doktor Schiwago -
auch er ein gutaussehender Arzt und Lara eine ach so edle Krankenschwester.
Und dann, eines Tages, trägt Pasternak den Sieg davon.
Unmerklich treiben unsere Wünsche uns immer mehr zu den "Guten". Wir
suchen Schriftsteller, wir suchen Stile, Schluß mit den bloßen
Spielkameraden, wir verlangen Lebensgefährten. Die Anekdote allein
genügt nicht mehr. Der Moment ist da, wo wir vom Roman etwas anderes
erwarten als die unmittelbare und ausschließliche Befriedigung
unserer Empfindungen. Eine der großen Freuden der "Pädagogen"
ist es, zu erleben, wie ein Schüler - jede Art Lektüre ist
erlaubt - von sich aus die Tür zur Bestsellerfabrik zuschlägt
und hinaufsteigt, um beim Freund Balzac Luft zu schöpfen.
DAS RECHT AUF BOVARYSMUS, DIE BUCHSTÄBLICH ÜBERTRAGBARE KRANKHEIT, DEN ROMAN ALS LEBEN ZU SEHEN
Das ist, grob gesagt, der "Bovarysmus", diese unmittelbare und ausschließliche
Befriedigung unserer Empfindungen: Die Phantasie nimmt überhand, die Nerven
vibrieren, das Herz rast, das Adrenalin spitzt hervor, die Identifikation
funktioniert in alle Himmelsrichtungen, und das Gehirn hält (vorübergehend)
ein alltägliches X für ein romanhaftes U...
Das ist unser ursprünglicher Zustand als Leser.
Himmlisch.
Aber einigermaßen erschreckend für den erwachsenen Beobachter, der sich
meistens beeilt, dem jungen Bovaryisten ein "gutes" Buch vor der Nase
herumzuschwenken und zu rufen:
"Na, hör mal, Mauspassant ist doch wohl besser, oder?"
Ruhe..., nicht selbst in Bovarysmus verfallen, sich klarmachen, daß Emma
schließlich auch nur eine Romanfigur war, das heißt das Produkt eines
Determinismus, bei dem die von Gustave gesäten Ursachen nur die von Flaubert
gewünschten Wirkungen erzeugten - so wahr sie auch sein mochten.
Anders ausgedrückt, nicht weil diese jungen Mädchen Lore-Romane sammelt,
stirbt es daran, daß es Arsen mit dem Schöpflöffel einnimmt.
Ihr bei diesem Lektürestand etwas aufzuzwingen heißt, daß wir uns von
ihr entfernen, indem wir unsere eigene Jugend verleugnen. Und es heißt,
daß wir sie um das unvergleichliche Vergnügen bringen, morgen selbst
die Stereotypen aufzuspüren, bei denen sie heute aus dem Häuschen zu
geraten scheint.
Es ist weise, uns mit unserer Jugend zu versöhnen; den Jugendlichen,
der wir warenm zu hassen, zu verachten, zu verleugnen oder auch bloß zu
vergessen, ist in sich ein jugendliches Verhalten, eine Auffassung von
Jugend als einer tödlichen Krankheit.
Deshalb ist es nötig, daß wir uns an unsere ersten beglückenden Gefühle
als Leser erinnern und einen kleinen Altar für unseren damaligen Lesestoff
errichten, auch für den "dümmsten". Er spielt eine unschätzbare Rolle:
Das, was wir waren, rührt uns, indem wir über das lachen, was uns rührte.
Die Jungen und Mädchen, die mit uns zusammenleben, erfahren dadurch mit
Sicherheit mehr Achtung und Zuneigung von uns.
Außerdem sollten wir uns klarmachen, daß der Bovarysmus mit der verbreitetste
Sache der Welt ist: Wir spüren sie neuerdings immer beim anderen auf. Und
währendwir die Dummmheit des Lesestoffs von Jugendlichen schlechtmachten,
tragen wir gleichzeitig nicht selten zum Erfolg eines telegenen Schriftstellers
bei, über den wir uns, sobald die Mode vorbei ist, lustig machen. Die
literarischen Vorlieben erklären sich weitgehend aus unserem Wechsel zwischen
aufgeklärter Schwärmerei und scharfsinniger Verteufelung.
Wir sind nie die Dummen, immer bei klarem Verstand, und doch die ganze
Zeit dabei, uns selbst hinterherzuhinken, immer und ewig davon überzeugt,
daß Madame Bovary der oder die andere ist.
Emma war bestimmt der gleichen Überzeugung.
Chalons-sur-Marne, Winter 1971.
Kaserne der Schule für Artillerieausbildung.
Bei der morgendlichen Einteilung der Arbeitskommandos meldet sich der Soldat
im zweiten Wehrdienstjahr Soundso (Stammnummer 14672/1, wohl bekannt in unserer
Einheit) systematisch freiwillig zum unbeliebtesten Dienst, der besonders häufig
als Strafe zugeteilt wird und den ehernsten Stolz ankratzt: dem legendären,
entehrenden, ekelhaften Latrinendienst.
Jeden Morgen.
Mit demselben (inneren) Lächeln.
"Latrinendienst?"
Er tritt einen Schritt vor:
"Soundso!"
Wie vor einem Angriff ergreift er mit blutigem Ernst den Besen, an dem das
Putztuch hängt, als wäre es der Kompaniewimpel, und verschwindet zur großen
Erleichterung der Truppe. Er ist ein tapferer Kerl: Niemand folgt ihm. Die ganze
Armee drückt sich in den Schützengräben der ehrbaren Arbeitsdienste.
Die Stunden vergehen. Man denkt, er ist verlorengegangen. Man hat ihn fast
vergessen. Man vergißt ihn. Gegen Ende des Vormittags taucht er jedoch wieder
auf, knallt die Hacken zusammen und meldet dem Feldwebel: "Latrinen sämtlich
geputzt, Herr Feldwebel!" In den Augen eine heimliche Frage, die er nie stellt,
nimmt der Feldwebel Putzlappen und Besen zurück. Der Soldat grüßt, macht kehrt
und zieht sich mit seinem Geheimnis zurück.
Das Geheimnis wiegt ganz schön schwer in der rechten Taschen seines Drillichs:
1900 Seiten, die die Pleaide-Ausgabe der Gesammelten Werke von Nikolaj Gogol
umfaßt. Eine Viertelstunde Putzen für einen Vormittag mit Gogol. Seit zwei
Wintermonaten jeden Morgen gemütlich im zweimal angeschlossenen "Thronsaal"
sitzend, schwebt der Soldat Soundso hoch über den militärischen
Nebensächlichkeiten. Der ganz Gogol! Von den schwermütigen Abenden auf dem
Vorwerk bei Dikanka zu den erheiternden Petersburger Novellen, über
den schrecklichen Taras Bulba und dem schwarzen Humor der Toten Seelen,
nicht zu vergessen die Theaterstücke und den Briefwechsel Gogols, dieses
unglaublichen Tartuffe.
Gogol ist nämlich Tartuffe, der Moliere erfunden haben könnte - was der Soldat
Soundso nie verstanden hätte, wenn er diesen Dienst anderen überlassen hätte.
Die Armee feiert gern Heldentaten.
Von dieser überdauern nur zwei weit oben in das Gußeisen einer Wasserspülung
eingravierte Alexandriner, die zu den prachtvollsten der französischen Dichtung
gehören:
Ich habe an diesem schnöden Ort
Gogol gelesen, fort und fort
Von Anfang an bis an das Ende
Davon zeugen diese Wände.
(Der alte Clemenceau, "der "Tiger", auch er ein famoser Soldat, stattete einer
chronischen Verstopfung seinen Dank ab, ohne die, wie der versicherte, er nie
das Glück gehabt hätte, die Memoiren von Saint-Simon zu lesen.)
DAS RECHT HERUMZUSCHMÖKERN
Ich schmökere, wir schmökern, lassen wir sie schmökern. Damit geben wir und
die Erlaubnis, irgendein Buch aus unserem Regal zu ziehen, es irgendwo
aufzuschlagen und uns einen Moment lang hineinzuvertiefen, weil wir eben
nur diesen einen Moment Zeit haben. Manche Bücher, die aus einzelnen kurzen
Texten bestehen, eignen sich besser zum Blättern als andere: die
gesammelten Werke von Alphonse Allais oder von Woody Allen, die Erzählungen
von Kafka oder von Saki, die Papiers colles von Georges Perros, der gute
alte La Rochefoucauld und die meisten Dichter. So kann man Proust,
Shakespeare oder Raymond Chandlers Briefe irgendwo aufschlagen, hier und da
ein bißchen lesen, ohne das geringste Risiko, enttäuscht zu werden.
Wenn man weder Zeit noch Geld hat, sich eine Woche Venedig zu leisten, warum
sollte man sich nicht die Recht gönnen, fünf Minuten dort zu
verbringen?
Ich frage sie:
"Hat man dir Geschichten vorgelesen, als du klein warst?"
Sie antwortet:
"Nie. Mein Vater war viel unterwegs, und meine Mutter hatte viel zu wenig Zeit."
Ich frage sie:
"Woher hast du dann diese Vorliebe für lautes Lesen?"
Sie antwortet:
"Aus der Schule."
Froh zu hören, daß mal jemand ein Verdienst der Schule anerkennt, rufe ich hocherfreut:
"Aha. Siehst du!"
Sie sagt:
"Nein, gar nicht. In der Schule wurde uns das Lautlesen verboten. Stilles Lesen,
so hieß schon damals das Credo. Schnelligkeit, Leistung. Mit einem
Verständnistest alle zehn Zeilen. Von Anfang an die Religion der Analyse und
des Kommentars! Die meisten Kinder gingen ein vor Angst, und das war erst der
Anfang! Meine Antowrten waren alle richtig, wenn du es wissen willst, aber zu
Hause habe ich alles noch mal laut gelesen."
"Wozu?"
"Um mich daran zu erfreuen. Die gesprochenen Wörter begannen außerhalb von mir
zu existieren, sie lebten wirklich. Und außerdem kam es mir vor, als wäre es
eine Liebestat. Als wäre es die Liebe selbst. Ich habe immer das Gefühl gehabt,
daß die Liebe zum Buch über Liebe als solche führt. Ich habe meine Puppen an
meinen Platz in mein Bett gelegt und ihnen vorgelesen. Manchmal bin ich auf
dem Teppich vor ihnen eingeschlafen."
Ich höre ihr zu, und es kommt mir vor, als hörte ich Dylan Thomas, wie er
hoffnungslos besoffen mit seiner Kirchenstimme seine Gedichte vorliest.
Ich höre ihr zu, und es kommt mir vor, als sähe ich den alten Dickens, den
knochigen, blassen, dem Tode ganz nahen Dickens auf die Bühne steigen, und
sein des Lesens unkundiges Publikums ist plötzlich so reglos und still, daß
man hört, wie das Buch aufgeschlagen wird. Oliver Twist..., Nancys Tod...,
ja, Nancys Tod wird er uns vorlesen!
Ich höre ihr zu, und ich höre Kafka Tränen lachen, während er Max Brod
Die Verwandlung vorliest, Max, der nicht sicher ist, ob er versteht...,
und ich sehe die kleine Mary Shelley, wie sie Percy und den verschreckten
Freunden lange Abschnitte aus ihrem Frankenstein vorträgt.
Ich höre ihr zu, und Martin du Gard tritt auf, der Gide seine Thibaults
vorliest, aber Gide scheint ihn nicht zu hören; sie sitzen am Ufer eines Flusses,
Martin du Gard liest, aber Gide ist mit den Augen anderswo, blickt ganz nach
dahinten, wo zwei Jünglinge in den Fluß springen... Vollkommenheit, die das
Wasser in Licht taucht... Martin du Gard ist sauer... nein, er hat doch gut
gelesen, und Gide hat alles gehört, und Gide sagte ihm, wie gut er diese
Seiten findet. daß er aber trotzdem dies und das, hier und da etwas umschreiben
müsse.
Und Dostojewskij, der sich nicht damit begnügte, laut zu lesen, sondern laut
schrieb. Dostoewskij, außer Atem, nachdem er seine Anklagerede gegen
Raskolnikow (oder Dimitri Karamasow, ich weiß nicht mehr) rausgebrüllt hat -
Dostoewskij, der seine Ehefrau und Stenographin Anna Grigorjewna fragte:
"Nun, was meinst du, welches Urteil? Na,na?"
ANNA: "Schuldig!"
Und derselbe Dostoewskij, nachdem er ihr das Plädoyer der Verteidigung diktiert
hat: "Nun? Nun?"
ANNA: "Freispruch!"
Ja...
Seltsam, daß nicht mehr laut gelesen wird. Was hätte Dostoewskij davon gehalten?
Und Flaubert? Darf man Wörter nicht mehr in den Mund nehmen, bevor man sie
geistig aufgenommen hat? Kein Ohr mehr? Keine Musik mehr? Kein Speichel mehr?
Kein Geschmack mehr für die Wörter? Das wäre ja noch schöner! Hat Flaubert seine
Bovary nicht laut vor sich hin gebrüllt, bis ihm das Trommelfell platzte?
Ist er nicht entschieden befugter als jeder andere, zu vermitteln, daß das
Textverständnis über den Klang der Wörter läuft, aus dem´all ihre Bedeutungen
herauszuhören sind. Weiß er, der so hart gegen die unpassende Musikm der Silben,
die Tyrannei der Kadenzen gekämpft hat, nicht besser als jeder andere, daß der
Sinn gesprochen wird? Was? Stumme Texte für reine Geister? Her zu mir,
Rabelais! Her zu mir, Flaubert! Dosto! Kafka! Dickens, her zu mir! Giganten
des laut gebrüllten Sinns, sofort hierher! Kommt und haucht unsere Büchern
Sinn ein! Unsere Wörter brauchen Körper! Unser Bücher brauchen Leben!
Es ist wahr, ein stummer Text ist bequem, man riskiert dabei nicht Dickens
Tod, den seine Ärzte anflehten, endlich mit seinen Romanen zu verstummen...
der Text und er... all diese mundtot gemachten Wörter in der gemütlichen
Küche unserer Intelligenz... bei der stummen Bastelei unserer Kommentare fühlen
wir uns wer weiß wie wer! Und wenn man das Buch so für sich beurteilt, läuft man
nicht Gefahr, durch es beurteilt zu werden, denn sobalde die Stimme mitmacht,
spricht das Buch Bände über seinen Leser; das Buch sagt alles.
Der laut lesende Mensch exponiert sich total. Wenn er nicht weiß, was er liest,
sind seine Worte unwissend, es ist ein Jammer, und das hört man. Wenn er sich
nicht darauf einläßt, sich in das Vorgelesene hineizuversetzen, bleiben die
Worte tote Buchstaben, und das merkt man. Wenn er den Text mit seiner
Präsenz überfrachtet, zieht der Verfasser sich zurück, es ist eine Zirkusnummer,
und das sieht man. Der laut lesende Mensch exponiert sich total vor den Augen,
die ihm zuhören.
Wenn er wirklich liest, wenn er sein Wissen hineinlegt und seine Lust
kontrolliert, wenn das Vorlesen bei ihm ein Akt der Sympathie sowohl für die
Zuhörer wie für den Text und seinen Verfasser ist und wenn es ihm gelingt,
die Notwendigkeit zu schreiben hörbar zu machen, indem er unsere verborgendsten
Bedürfnisse zu verstehen weckt, dann öfnnen die Bücher sich weit, und die Menge
derer, sie sich vom Lesen ausgeschlossen wähnten, strömt hinter ihm hinein.
DAS RECHT ZU SCHWEIGEN
Der Mensch baut Häuser, weil er lebt, aber er schreibt Bücher, weil er
weiß, daß er sterblich ist. Er wohnt im Rudel, weil er ein Herdentier ist,
aber erliest, weil er weiß, daß er allein ist. Dieses Lesen ist
für ihn ein Gefährte, der keinem anderen Platz wegnimmt, der aber auch
von keinem anderen ersetzt werden könnte. Es bietet ihm keine
endgültige Erklärung seines Geschicks, webt aber ein Netz von
Einverständnissen zwischen dem Leben und ihm. Winzig kleinen und geheimen
Einverständnissen, die das paradoxe Glück zu leben selbst dann noch
ausdrücken, wenn sie die tragische Absurdität des Lebens verdeutlichen. Demnach sind unsere Gründe zu lesen
genauso seltsam wie unsere Gründe zu leben. Und niemand ist befugt, von uns
über so etwas Vertrauliches Rechenschaft zu verlangen.
Die wenigen Erwachsenen, die mir etwas zu lesen gegeben haben, sind immer hinter
den Büchern zurückgetreten und haben sich gehütet, mich danach zu fragen, was ich
verstanden hatte. Mit ihnen habe ich natürlich über die von mir gelesenen Bücher
gesprochen. Lebendig oder tot - ihnen widme ich diese Seiten.
[Fundstücke]
[LB-Startseite]
[E-Mail]
|
|