Sonya klaut Bücher


von Tom Petsinis

Für ein Arbeiterkind sind Bücher teuer, in einem hypothekenbelasteten Haus lassen sie sich nicht so einfach nieder, wenn Rechnungen den Küchentisch bedecken, sind sie ein Luxus. Bücher können in der Bücherei ausgeliehen und pünktlich zurückzugeben, aber nur selten gekauft werden, es sei denn, die Schule verlangt es, und dann müssen sie in Folie eingebunden und sorgfältig gepflegt werden, damit sie am Ende des Schuljahres wieder verkauft werden können. Bücher sollten studiert und als Sprungbrett für einen guten Arbeitsplatz oder vielleicht sogar einen Beruf genutzt werden. Lesevergnügen ist etwas für die Privilegierten wie ein Glas Portwein nach dem Abendessen; die Armen haben durch die Schule des Lebens zu gehen und sich mit Brot und Bier zu begnügen. Nein, ihre Eltern unterstützen ihre nutzlose Leserei nicht. Es wird ihre Augen ruinieren, von den nachteiligen Auswirkungen mangelnder Bewegung auf ihre Gesundheit ganz zu schweigen, dabei ist sie immer eine so gute Tennisspielerin gewesen, mit einer Bildbuchrückhand. Sie verbieten ihr das Lesen nach Einbruch der Dunkelheit. Sie sind besorgt, weil sie so still ist. Darum muss sie im Wohnzimmer bleiben und sich mit ihnen unterhalten, über die Schule, über Jungen, über irgendwas.

Sie gibt ihren Wünschen nach, verbringt Stunden mit ihnen vor dem Fernseher, lacht und scherzt und sehnt sich doch verzweifelt zu ihren Büchern zurück. Aber wenn der Fernseher endlich ausgeschaltet und das Haus still und dunkel ist, weint sie heiße Tränen und verflucht das menschliche Auge, weil es kein Solarmodul ist, das bei Tage Licht speichert, um es bei Nacht wieder abzugeben. Eines Nachmittags findet sie die Taschenlampe ihres Vaters im Schuppen - ein langes, silbernes Rohr, in dem vier Batterien Platz haben. Das ist ihre Rettung. Nun heißt sie die Dunkelheit willkommen. Ihr heimliches, verbotenes Lesevergnügen ist süßer denn je. Sie hat sich einen Rückzug geschaffen, einen Kokon, ihre private Welt. Mit der Decke über dem kopf und der Taschenlampe zwischen den Knien, liest sie, bis ihr die Augen zufallen. Der Besitz eines Buches intensiviert das Leseerlebnis und macht es persönlicher, besonders wenn es heimlich bei Nacht unter der Bettdecke stattfindet. Einem geliehenen Buch fehlt diese Intimität. Doch woher soll sie das Geld nehmen, um die Bücher zu kaufen und zu besitzen, nach denen sie sich sehnt?

Sonya ist auf dem Weg zu der nicht weit von ihrem Elternhaus entfernten Bücherei. Sie ist im Rathaus untergebracht, einem alten, den Tempeln der Antike nachempfundenen Gebäude mit einer geschwungenen Treppe, einer Reihe Säulen und einem breiten Eingangstor. Dunkle Eichenholzregale säumen die Wände vom Fußboden bis zur Decke. Das Nachmittagslicht fällt träge auf einen Tisch, an dem ein paar Rentner Zeitung lesen. Ein von heftiger Akne entstellter Junge geht die Kataloge durch. Der silberhaariger Bibliothekar ist mit zurückgegebenen Büchern beschäftigt. Sonya sieht sich eine Weile um und würde am liebsten hundert Bücher ausleihen, doch sie muss sich auf nur drei beschränken. Ihr Blick bleibt an einem Titel hängen, der auf einem dunkelroten Buchrücken glänzt: 'Grotes Griechische Geschichte Bd.1'. Sie zieht es aus dem voll gestopften Regal. Auf den Umschlag ist das von blühenden Ranken eingerahmte Profil eines antiken Kriegers geprägt. Sie streicht sacht mit den Fingerspitzen über die Prägung, schließt die Augen und atmet den trockenen, erdigen Duft der dicken Seiten ein. Der Buchrücken knarrt wie ein altes hölzernes Tor, als sie das Buch aufschlägt. Auf der ersten Seite prangt eine Lithografie des Verfassers: Eine beeindruckende Persönlichkeit mit flaumigen Backenbart, seine linke Hand ruht auf einem dicken Buch, in der erhobenem rechten hält er eine Schriftrolle.

Wie viel Zeit mag vergangen sein, seit George Grote zum letzten Mal Tageslicht gesehen und seinem Leser ins Auge geblickt hat? Sie bemerkt ein Schild: "Die Bücher auf diesem Regal können nicht ausgeliehen werden." Aber sie will dieses Buch, nicht nur geliehen, um es nach zwei Wochen zurückzugeben, sondern um es für den Rest ihres Lebens zu besitzen, um nach Herzenslust darin zu lesen und dabei seinen Körpers zu spüren und zu riechen. Sie wird von einer plötzlichen Welle der Erregung erfasst, ein Kribbeln läuft über ihren Rücken und breitet sich bis in ihre Schulterblätter aus. Ihr Herz pocht heftig, das Blut rauscht ihr ihre Schulterblätter aus. Ihr Herz pocht heftig, das Blut rauscht ihr in den Ohren. Was, wenn sie erwischt wird? Der alte Bibliothekar wird bestimmt nichts bemerken. Sie geht hinter eine Regal, schiebt das Buch auf ihrer nackten Haut in den Bund ihrer Jeans und verbirgt es unter ihrem weiten Hemd. Sie nimmt drei Taschenbücher und geht an den Tresen. Ihr Bauch pocht gegen den harten Einband. Der Bibliothekar blickt sie über den Rand seiner Brillengläser hinweg an. Er bewundert ihren Lesehunger. Sie schluckt und bereut es sofort, weil sie fürchtet, sich damit verraten zu haben. Er lächelnt freundlich. Die Freuden des Lesens gehören der Jugend und dem Alter, sagt er.

In den mittleren Jahren ist man zu beschäftigt, um Bücher wirklich zu schätzen. Während sie sich über den Tresen beugt, kann sie kaum atmen, weil sich die feste Kante des Einbands in ihren Bauch bohrt. Der Bibliothekar stempelt das erste Taschenbuch. Plötzlich muss sie dringend zur Toilette. Er stempelt das zweite und nimmt sich die Zeit, den Rückseitentext zu lesen. Er muss an dem Buch liegen, das auf ihre Blase drückt. Das dritte Buch ist schon so oft ausgeliehen worden, dass es ein neues Blatt braucht. Sie fürchtet, jeden Moment zu platzen. Er legt die Bücher vor sie auf den Tresen und wünscht ihr viel Spaß beim Lesen. Sie nickt errötend und eilt zur Toilette am Ende des Flurs, der mit Ehrentafeln voller goldener Namen geschmückt ist. Als sie das Objekt ihrer Begierde in der Kabine hervorzieht, bemerkt sie einen rosigen Abdruck des Kriegers auf ihrer blassen Haut. Sie wird immer mutiger und stiehlt nicht nur seltene Werke aus der Bücherei, sondern auch neue Bücher aus dem örtlichen Zeitungsladen, der nach dem Unterricht immer von Schülern belagert wird. (Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin, S. 12)


Tom Petsinis: Die Buchliebhaberin. München: Goldmann, 2003. 446 S. ISBN: 3-442-72669-7



[Fundstücke]  [LB-Startseite]  [E-Mail]