Alfred Polgar: Bücher...


Gebildete Menschen haben eine Bibliothek. Sie haben Kasten und Schränke voll geistiger Nahrung, Schweres und Leichtes. Süßes und Saures, Hausbrot und Delikatessen. Der Gebildete ist in dieser Beziehung ein Vielfraß und hamstert, hamstert mehr, als er je verschlingen kann. Durch die literarische Küche aller Nationen und aller Zeiten schmatzt er sich durch; er würde an dem vielen Zeug, das er zu sich nimmt, ersticken, wäre nicht das Vergessen, dieser segensvolle Schlußeffekt aller Hirnperistaltik. Gebildete, die an Obstipation leiden, nennt man Gelehrte. Wenn die Bibliothek wächst, Regale sprengt, Mauern hinanklettert, als Bücherpfütze sich auf dem Boden verbreitet und alle Wände pilzig überzieht, freut sich der bessere Mensch. Je mehr des Papierenen seine Seele atmet, desto gesünder fühlt sie sich, stärker, Gott näher.

Mit tausend Zungen spricht gehäufte Wahrheit der gehäuften Jahrhunderte auf sie ein. Tausend Klöppel von tausend Glocken läuten ihr Botschaft vom Geiste. Was läuten sie? Es klingt wie "BimBam". Um so deutlicher, je schärfer man hinhört. Die Bibliothek steht da wie eine Leiter ins Unendliche, die Spitze erbarmungswürdig ins Leere getaucht, um so heftiger schwankend, je höher die Leiter. Jedes Buch eine Stufe. Goethe in der Propyläen-Ausgabe gibt allein achtundvierzig hohe Stufen. Wenn ich sie ganz erklettert habe, bin ich um hübsch ein paar Dezimeter dem unendlich fernen Ziel - welchem denn? - näher. Wenn ich auf den Tisch steige, ist es schon nicht mehr so weit zum Mond. Man soll keine Reichtümer sammeln, denn die kann man nicht mitnehmen, wenn es hinunter hinauf geht, via Erde oder Ofenloch. Und die geistigen Reichtümer? Kannst du sie hineinstopfen in deines Leichenhemdes Taschen? Im Spiel von "Jedermann" folgt nichts und niemand der Bitte des armen Sterbers, mitzuziehen auf die finstere Reise. Ich vermisse Jedermanns Appell an seine lieben Bücher, ihn doch zu begleiten. Sie würden das tun, was sie, sehr bezeichnend, schon immer tun auf ihren Regalbrettern: Sie würden ihm den Rücken kehren. Bruder Buch, was bist du für ein ohnmächtiger, kalter Freund in Augenblicken der Not!

Immerhin sind Bücher ein Zimmerschmuck. Gern genießt das Auge die Exaktheit ihrer ausgerichteten Linien und erfreut sich der Farbigkeit der Trachten. Am linken Flügel die Großen, am rechten die Kleinen, gestellt zum Parademarsch des Geistes. Wie glänzend die Fähnchen der gesammelten Werke! Wie bunt und malerisch abgerissen das Gewimmel des broschierten Volks! Und dann erweitern Bücher den Gesichtskreis. Wenn man sie nämlich liest. Im Buch der Bücher, im Konversationslexikon, steht bei vielen Wörtern ein biblisch pathetisches: Siehe! Nämlich: sche anderswo, dort und dort, was du zu wissenwünschest. Und tut man so, trifft man so oftmals wieder auf ein: Siehe! Ich könnte mir ein Wort denken, bei dem diese "Siehe!"-Kette sich ins unendliche fortspänne. Ich könnte mir eigentlich kein Wort denken, bei dem es, ehrlichermaßen, nicht so sein müßte. Wort beruft sich auf anderes Wort, eine Materie wälzt die Verantwortung auf die andere, Instanz kriecht hinter Instanz, siehe!, siehe!, siehe! Schließlich mündet der Linie Ende in der Linie Anfang. Und zöge man den Kreis noch so groß, und schritte man ihn noch so gründlich aus, an jeder Stelle bliebe man gleich fern vom Mittelpunkt, wo die Wahrheit sitzt (ewig unerreichbar uns Peripherie-Gebannten), die Wahrheit, von der du um so mehr abrückst, je mehr sich dein "Gesichtskreis erweitert."

Solche Unerreichbarkeit des Sesamwortes, das die Türe zur Erkenntnis öffnete, ist bedauerlich. Aber sie hat auch ihr Gutes. Sie schützt vor Bibliotheken, befreit die Seele vom lastenden Druck des Drucks. Kürzlich war in der Zeitung zu lesen, daß, mangels Geldes, im Wiener Naturhistorischen Museum die Präparate verfallen, das Meteoreisen rostig wird und die Motten den Orang-Utan kahl fressen. Serh unnett von diesen Kerbtieren, die doch ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl zum Naturhistorischen Museum haben müßten. Aber hat es nicht sein Schönes und Ergreifendes, daß in das Fell des ausgestopften Affen sich die hungrigen Motten setzen? Daß das Leben die Wissenschaft frißt? Daß die Natur die Naturgeschichte verspeist? Motten gehören in eine richtige Studierkammer. Motten, Moderduft, Tiergeripp, Totenbein und Bücher.


Auszug aus: Alfred Polgar: Kleine Schriften, Bd. III, 1984


[Fundstücke]  [LB-Startseite]  [E-Mail]