Das Leselaster


von Friedrich Prinz

Häufige Krankheit war mein Weg in die Bücherwelt, die mir das vielzitierte "richtige Leben" monatelang ersetzen mußte. Schon während der Volksschulzeit hatte ich oft das Bett zu hüten und stand dann bleich und dünn von meinem Krankenlager auf. Einmal nach einer schwerden Diphterie - ich war damals acht Jahre alt - mußte ich sogar das Gehen wieder lernen. Die Großmutter meines Freundes Hans brachte mein Befinden auf ihre Weise lakonisch unter die Leute: "Der Prinz-Fritzl is schon ganz griene (grün), der mocht's nimmer lang." Gerade bei dieser Erkrankung lag ich mehr als sechs Wochen in der städtischen Klinik, und zwar in einem großen hellen Saal mit mehr als zwanzig Infektionskrankheiten, die man hier in Quarantäne hielt. Dieses Massenquartier wurde für mich eine neue Erfahrung, denn es lagen da auch mehrere Soldaten der tschechischen Garnison. [...] Aus der Soldatenecke hatte ich "Schundhefte" zum Lesen bekommen, zerfledderte Liebesromane und Abenteuergeschichten, deren billige Erotik ich mehr erahnte als verstand. Vielleicht verschlang ich sie gerade deshalb mit angeekeltem Interesse, vergaß sie aber sofort, als ich wieder zu Hause war, aber noch weitere vier Wochen im Bett bleiben mußte. Jetzt las ich das, was mir Vater und Mutter herbeischleppten - bergeweise, und obgleich ich eigentlich schon über das Alter hinaus war, verschlang ich vor allem Märchenbücher: Grimms Märchen, Hauffs Märchen - darin besonders "Das kalte Herz", das ich immer wieder vornahm, und Hans Christian Andersens Sammlung.

Lesen empfand ich damals durchaus nicht als Lebensersatz, eher genoß ich es als Droge. Mein Vater muß dies erkannt haben, denn er suchte mich, sobald ich wieder gesund war, von diesem "Leselaster" loszubekommen. Aber sein Heilmittel, "gesundes Gartenarbeit und Sport", schlug nicht an. Vielleicht deshalb, weil ich im Grunde sein Einverständnis mit meiner Lesewut verspürte und daher seine erzieherischen Mittel nicht ganz ernst nahm. Mit Büchern bin ich also aufgewachsen, mit Büchern lebe ich und wenn ich abends durch meine Bibliothek gehe - so wie dies mein Vater auch immer in der seinigen getan hat -, dann ist mir einfach wohl. Ich nicke geliebten Autoren zu, ziehe ab und an einen Band heraus, um zu lesen oder auch nur um wieder einmal eine bestimmte Stelle zu suchen, die mir besonders gefallen hat: Einen Aphorismus, eine wissenschaftliche Sentenz, die Sarkasmen der französischen Moralisten oder gar die bitteren Lebensweisheiten des Predigers Salomon (des "Kohelet") - ein erratischer Block in der Geschichte des Volkes Israel, zeitlos gültig, zeitlos modern. Bücher - das sind Gespräche über Jahrhunderte, ja über Jahrtausende, man kann nicht früh genug damit beginnen.


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