Marcel Proust: Jean Santeuil


Madame Santeuil hatte Jean gestattet, an diesem Morgen nicht auszugehen. Obwohl sie ihm anempfohlen hatte, nicht zuviel zu lesen, war er, da er sich allein sah, doch entzückt bei dem Gedanken, daß er wenigstens hundert Seiten von dem Buch, für das er so sehr schwärmte, "Le Capitaine Fracasse", werde bewältigen können. Wir bilden uns häufig ein, wir würden ein großes Vergnügen daran finden, von Literatur und allen möglichen sonstigen Dingen mit einem sehr gescheiten, sehr jungen Menschen zu reden. In Wirklichkeit würde, was wir ihm vorlesen oder sagen können, ihm sehr mittelmäßig erscheinen, und umgekehrt seine Vorliebe für dieses oder jenes uns gar nicht interessieren. Wir stellen uns die Dinge, die wir lieben, immer so vor, als ob die Schönheit, die uns entzückt, ganz offen bei ihnen zutage liege. In Wahrheit aber bekundet diese Schönheit sich im Innern unseres Verstandes, und wenn ihre Erkenntnis sich schließlich in uns zu einem Hang auswächst, unter dessen allzu seltener Befriedigung wir leiden, wird sie oft für uns ein Joch, an dem wir sehr schwer zu tragen haben. Vielleicht hatte Jean beim Lesen der ersten Seiten des "Capitaine Fracasse" einige Mühe gehabt, sich an Beschreibungen zu gewöhnen, die mit nichts von alledem zusammenhingen, was er von sich aus schön fand (den Mondschein, den Gesang der Vögel, die griechischen Götter), in denen auf den Tischen Staub lag und die Wände schmutzig waren, sowie an eine Art von Ironie, von Unterhaltung mit dem Leser, die ihm sehr mißfiel.

Es scheint sogar tatsächlich, daß er nach ein paar Seiten das Buch aus der Hand gelegt und in das Regal zurückgestellt hatte, wo es ziemlich lange ruhen sollte, so wie wir manchmal mit einer Person eine erste Begegnung haben, die eher unangenehm verläuft und keine Erinnerung in uns zurückläßt, bis wir diese Person dann wieder treffen und sie schnell für uns etwas wie eine neuen Person wird, so daß jene, die wir zuerst gekannt haben und die so anspruchsvoll und unliebenswürdig war, uns als ein ganz anderes Wesen erscheint, das wir nicht ohne Mühe mit dem uns jetzt so befreundeten zu identifizieren vermögen. Welche zufälligen Umstände ihn erneut mit "Capitaine Fracasse" zusammenführten, weiß man nicht. Jetzt aber war dieses Buch der Freund, an den man unaufhörlich denkt und dessen Gesellschaft die Stunden, da man sie genießt, köstlich macht, ob es regnet oder schneit oder sie Sonne lächelt. Solange man ein Kind ist, liebt man einen solchen Freund nicht nur, man bewundert ihn. Man glaubt ihn, unter Ausschluß von allen übrige, mit jeder Einsicht und jeder Macht begabt. So erging es Jean nun mit diesem Buch. Was ihn bei seiner Lektüre entzückte, war die ständige Möglichkeit, auf die schönsten Sätze zu stoßen, die dem Menschen, wie er meinte, zu hören gegeben seien. Vielleicht würden heute diese Sätze seinem Ohr sehr mittelmäßig erscheinen. Damals konnte nicht ausbleiben, daß gewisse Wendungen wie "woraus sich dartun läßt", gewisse Archaismen, wie zum Beispiel "der gute Homerus", der Gebrauch gewisser seltener Wörter wie "adonishaft", "olympisch", gewisse zugleich klangvolle und bilderreiche Phrasen ihn in eine Art von Rausch versetzten, daß er sie mit Entzücken und mit Tränen in den Augen wieder und wieder las und ihn jedesmal, wenn es wieder in gleicher Weise mit einem "woraus sich dartun läßt" oder einem erneuten "wie Homerus sagt" anging, in Erwartung der göttlichen Wendung, die nun folgen würde, eine Art von Angst befiel, wie etwas ein Kind, daß einer Welle entgegen läuft. Dabei entsprachen diese Sätze wohl nicht einmal eigentlich einem wirklichen Schönheitsempfinden im Herzen der Menschen, sogar junger Menschen, wenn man will, sondern nur der Jünglinge, die in dieser Lebenszeit Gautier näher stehen als wir und die besser als wir eine Schönheit wahrzunehmen vermögen, die wir nicht mehr zu sehen in der Lage sind.

Jedesmal aber, wenn außerhalb des Verlaufs der Handlung eine jener Betrachtungen, einer jener Sätze eingeschoben war, die keine unmittelbare Beziehung zu der Erzählung hatten, war er besonders glücklich. Denn ein Schriftsteller, den wir verehren, wird für uns zu einer Art von Orakel, das wir gern über alle Arten von Gegenständen befragen würden; jedesmal, wenn er das Wort ergreift, um seine Meinung bekannt zu machen, eine allgemeingültige Idee zu äußern, seinerseits über diesen Homer, diese uns bekannten Götter zu sprechen, sind wir entzückt und lauschen haltlos staunend der Maxime, die von seinen Lippen träuft, freilich auch tief enttäuscht, daß sie so kurz ausfällt. Haben wir aber das Buch einmal beendet und können uns jetzt, da wir das Ende schon kennen, für das Leben des Capitain Fracasse nicht erneut interessieren, da ja alles, was uns ungewiß, ängstlich, der Wirklichkeit entnommen schien, nun, da die Fortsetzung schon unveränderlich feststeht, abgeschmackt wie eine Erfindung ohne Leben vorkäme, werden wir doch immer wieder die Sätze über Homerus, den "Sieur Shakespeare, einen in England sehr bekannten und von der Königin Elisabeth protegierten Dichter" goutieren - letzteres ein Anflug von Lokalfarbe, der uns etwas fade erscheinen mag, aber sehr wohl einen jungen Menschen entzücken kann, dem die tiefsten Betrachtungen Goethes über "Hamlet" banal und bar des Zaubers erscheinen würden, welchen er immer wieder in jenem selbst hundertmal wiederholten Satz zu finden vermag, so wie wir ja auch einer geliebten Melodie niemals müde werden. Im übrigen sah er alle Personen des Buches so, als hätten sie keinerlei Beziehung zu irgendwelchen anderen, und man hätte ihm viele Illusionen geraubt, würde man ihm gesagt haben, daß dies ein Buch sei wie der "Roman comique", wie "Wilhelm Meister", wie "Consuelo" - alles Werke, die ihm zweifellos damals langweilig vorkamen.

Das einzige, was er jederzeit gern gelesen hätte, war eben Theophile Gautier. Zu denken, daß "Wilhelm Meister" vielleicht dem "Capitain Fracasse" ebenbürtig sei, hätte sein Entzücken stark vermindert, denn dieses Buch kam ihm ganz einzigartig und keineswegs nur wie irgendein Roman vor, der von Schauspielern handelte. Im übrigen hatte er gar nicht recht verstanden, daß die Erzählung eine Schauspielergeschichte war, denn solange das Genie des Autors uns derart entzückt, daß wir mir Freude in den kleinsten Fugen der Darstellung jeden Satz über Gegenstände aufgreifen, die wir kennen, die aber der Geist des Verfassers verschönt, indem er an sie rührt, und die auch das, was er sagt, für uns interessanter machen, kommen seine Personen uns derart lebendig vor, daß wir nicht gern denken, eine künstliche Erfindung habe sie und keine anderen auf den Plan gerufen. Und zudem sind wir auch schon großer Leidenschaften für lebende Personen sowie für die aus Büchern fähig, ohne noch irgend etwas vom Leben zu wissen, ohne nich die meisten seiner Bezüge zu kennen. Wir brauchen noch kaum überhaupt zu wissen, was Komödianten sind und können doch in der Fähigkeit, den Zauber des Stils zu verspüren, schon weitaus fortgeschrittener sein. Ja, ich möchte sagen: wir können in der Fähigkeit, den Stil zu genießen, sogar erst wenig fortgeschritten und doch zu stofflicher Aufmerksamkeit so spärlich befähigt sein, daß uns, wenn wir ein Buch mit Leidenschaft lesen, die Einzelheiten einer Situation entgehen. Viele Dinge, die wir nicht begreifen, machen die Begebenheiten aus Büchern sowohl wie aus dem Leben in diesem Alter zu einer Art von Träumen, in denen gewisse Partien unaufgehellt bleiben. Deswegen sind wir aber allen den Teilen gegenüber, die wir verstehen, stärkerer Gefühlsregungen fähig, als wir sie jemals später aufbringen werden. Und zugleich mit etwas nicht völlig Geklärtem, das vielleicht ihren Zauber noch mit einem Hauch von Geheimnis versetzt, bewahren diese Personen aus Romanen, die wir sehr jung gelesen haben, eine Anziehungskraft, die einer erneute Lektüre des Buches zu einem Zeitpunkt, zu dem wir über mehr Verständnis und weniger Empfinden verfügen, uns vielleicht nicht mehr würde schenken können.


Marcel Proust: Jean Santeuil, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1962


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