Lesarten, Leseräume


von Ilma Rakusa

Aber ich möchte über die Liebe reden. Über die Lektüre als Liebesakt und den Liebesakt als Lektüre. Ich bin allein mit dem Buch. Wir sind zu zweit. Mein rechter Finger folgt den Zeilen, streicht über den Seitenrand. Kein Eselsohr, sondern der Bleistift markiert, daß mich ein Wort, ein Satz oder ein Abschnitt berührt haben. Aha, sagt die innere Stimme, oder: Erstaunlich, das höre ich zum ersten Mal. Ich lese weiter, gespannt, beeindruckt, amüsiert. Spüre immer deutlicher, daß das Buch mir zum Freund wird. Ich rieche schon fast an ihm, fasse das glatte Papier zärtlich an. (Alberto Manguel: "Man liest eine bestimmte Ausgabe, ein bestimmtes Exemplar, das man an der rauhen oder glatten Beschaffenheit des Papiers erkennt, am Duft, am Riß auf Seite 72 und am Kaffeering rechts oben auf dem Rückendeckel.") Meine Zärtlichkeit nimmt zu, weil das Buch mich versteht. Ja, es versteht mich, als hätte nicht ich es ausgesucht, sondern es mich. Unser Zwiegespräch könnte intimer nicht sein, während draußen die Landschaft vorbeizieht.

Oder die Nachbarskinder toben. Wir teilen 'einen' Raum, und er gehört uns, den liebend Verbündeten. So wie ich dich lese, liest dich niemand, sage ich zum Buch. Und das Buch: Was ich dir gebe, weißt nur du. Bis heute leihe ich meine Bücher nur ungern aus, weil ich mit jedem einzelnen (m)eine Liebesgeschichte hatte und der bloße Anblick eines bestimmten Umschlags nicht nur die Buchstory, sondern mehr noch meinen Umgang mit ihr evoziert. Ich erinnere mich an russische Freunde, wie sie sich - in tiefsten sowjetischen Zeiten - mit einem Buch, das ich ihnen verbotenerweise mitgebracht hatte, auf die Datscha zurückzogen und, frierend in ihre Mäntel gehüllt, lasen und lasen, wie verliebte Verschwörer. Sie hatten Zeit, und die Lektüre war ihr Leben. Was ihnen der reale Sozialismus vorenthielt, fand sich glücklicherweise in Büchern - geschmuggelten, gestohlenen oder für ein ganzes Monatsgehalt heimlich erstandenen Büchern. Diese kannten sie dann in- und auswendig, als hätten sie sie als ultimative Überlebensration sich einverleibt. Lesen als vitale Notwendigkeit, als lustvolle Gewohnheit, als spielerisches Korrektiv.

Neulich in Bremen beobachtete ich folgende Samstagsnachmittagsszene im Stadtpark: Auf einer Bank sitzt ein Ehepaar mit Kind, einem etwa achtjährigen Jungen. Der Vater liest vor, Frau und Sohn hören aufmerksam zu. Man konnte sehen, daß sie keinen Blick für die Passanten hatten. Die Sonne wärmte ihre Gesichter, die glücklich nach innen gekehrt schienen. Ich drehte mich mehrmals um, so friedlich war die Szenerie. Die drei hatten sich ungezwungen-beiläufig einen eigenen Raum geschaffen: einen Leseraum, eine Lesewirklichkeit. Jenseits aller Eile und Hast. Auch Lebende schaffen sich ihren Raum, wenn nötig, mitten in der Öffentlichkeit. Besser freilich ist die natürliche Intimität des Zimmers, denn die Körper wollen gelesen werden. Auge, Hand, Zunge erkunden tastend die Landschaft der Haut, Zartes und Grobporiges, Glattes und Rauhes, Wölbungen, Vertiefungen, Falten, Haar. Sie Semantik des Körpers erschließt sich durch diesen Leseakt, dem der andere folgt: als Summa. Wobei die Lesarten variieren, wie die Tages- und Nachtzeiten. Meine Leistung ist es, dich immer neu zu sehen. Dank meiner Liebe, meiner Phantasie, meiner Geduld. Ich memoriere dich und lasse dich frei. Ich bin dabei, deine Codes zu lernen und so zu verlernen, daß du staunst. Ich werde dich nie ausgelesen haben.


© Ilma Rakusa: Langsamer! Gegen Atemlosigkeit, Akzeleration und andere Zumutungen. Graz; Wien: Droschl, 2004. ISBN 3-85420-692-5, Seiten 17 bis 19


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