Istvan Rath-Vegh: Liga gegen das Verleihen von Büchern


Über dem Eingang in den Bibliothekssaal des Humanisten Scaliger stand zu lesen: 'Ite ad vendentes': Gehet zum Buchhändler! Scaliger war ein weiser Mann. Er wußte sehr gut, daß man Bücher, die man einmal verliehen hat, selten wieder zu Gesicht bekommt. Keiner würde sich einfallen lassen, einen geborgten Regenschirm nicht zurückzuschicken, aber das erbetene Buch unterschlägt man mit ruhigem Gewissen und der größten Seelenruhe. In früheren Zeiten wehrte man sich, indem man wertvolle Bücher nur gegen hohe Garantie verborgte. Ludwig XI., König von Frankreich, wollte ein handgeschriebenes medizinisches Werk aus dem 10. Jahrhundert zum Kopieren haben. Er wandte sich an die Pariser Universität mit der Bitte, ihm das Buch zu diesem Zweck zu überlassen. Die Universität war konsterniert. Sie beantwortete das allerhöchste Ersuchen mit einer demütig-widerspenstigen Adresse:

"Wir empfehlen uns in tiefster Demut der Gunst Eurer Majestät. Wir haben zur Kenntnis genommen, daß der Beauftragte Eurer Majestät das Totum continens benannte Werk zum Zweck des Kopierens von uns ausleihen will. Majestät, wir haben dieses Buch immer auf das sorgfältigste behütet, weil es zu den seltensten und wertvollsten Schätzen der Fakultät gehört, ein Werk, das kaum seinesgleichen hat; da es aber stets unser Bestreben war, Eurer Majestät in allem zu Gefallen zu sein, haben wir beschlossen, das Buch zu leihen, nichtsdestoweniger gegen die Garantie einer entsprechenden Menge Silberzeugs, da unsere Vorschriften in diesem Sinne lauten und wir auf das heilige Evangelium geschworen haben, diese Vorschriften stets einzuhalten. Indem wir Gottes Segen auf Eure Majestät herabflehen, verbleiben wir usw. 29. November 1471."

Aus den Urkunden geht hervor, daß die Fakultät die allerhöchste Ehrlichkeit auf 12 Mark Silber und 100 Goldtaler taxierte. Die Zeiten ändern sich und der Geist mit ihnen. Diese einfache und gerade Methode wurde ungebräuchlich. Heute ist es nicht mehr möglich, für ein Buch, das man verleiht, Silberlöffel als Pfand zu verlangen. Die Bibliophilen versuchten, der Seuche mit den verschiedensten Mitteln beizukommen, doch ohne Erfolg. Vor ein paar Jahren kam in England jemand mit folgendem Vorschlag: Die Regierung soll einen bestimmten Tag im Jahr festsetzen, an dem es die Ehrenpflicht jedes englischen Bürgers ist, die ausgeborgten Bücher, die sich in seinem Haus versteckt halten, zurückzuschicken. Die Post hat sich erbötig gemacht, an diesem Tag die Pakete zum halben Preis zu expedieren. Der Gedanke erwies sich lebensfähig, zeitigte aber, soweit ich informiert bin, keine Früchte. Da trat der Franzose 'Paul Rebouc' auf den Plan. Er gründete im Jahre 1911 eine Vereinigung unter dem Namen: "Liga gegen das Verleihen von Büchern". Ihre Mitglieder sind gegen jeden Angriff gefeit. Man braucht sich keine Ausreden auszudenken, man braucht nur mit dem höflichsten Lächeln der Welt zu erklären: "Ich würde Ihnen das Buch mit dem größten Vergnügen borgen, aber ich darf das leider nicht, denn ich habe der Liga mein Wort gegeben." Ob diese Liga heute noch existiert, weiß ich allerdings nicht.


© Istvan Rath-Vegh: Liga gegen das Verleihen von Büchern; in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.): Der Mensch und das Buch. München 1985, S. 97f.)


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