Von meiner Lektüre

von Gerhard Roth


Was ich lese

"Das Universum (das andere die Bibliothek nennen), setzt sich aus einer unbegrenzten und vielleicht unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen", beginnt Jorge Luis Borges' Erzählung "Die Bibliothek zu Babel". Und endet: "Die Bibliothek ist unbegrenzt und zyklisch..." Ich bin ein Silberfischchen in dieser Bibliothek, auf der Odysee durch die Meere der Titel, Namen, Wörter, Sätze. Auf meinen nicht ganz freilwilligen Reisen, die ich fast zwanghaft unternehmen muß (wie ein Rauschgiftsüchtiger, der nicht und nicht von seiner Droge loskommt), stoße ich unvermutet auf Bilder aus ägyptischen Gräbern und der italienischen Renaissance, auf naturwissenschaftliche Formeln, philosophische Sentenzen, anatomische Beschreibungen oder politische Exkurse. Häufig verirre ich mich den raschelnden Seiten von Tagenszeitungen, in denen ein reger Buchstabenverkehr herrscht, Verlasse ich die Bibliothek, leider ich früher oder später an Entzugserscheinungen, die unter dem Namen "Cold Book Turkey" allen Silberfischlein der Bibliothek bekannt sind. Zu Hause bin ich derzeit (unstet geworden) in verschiedenen Büchern, in denen ich Teile der Nacht verbringe, wenngleich ist oft beunruhigt aus einem Buchstaben-Alptraum erwache: zum Beipsiel in Andrej Tarkowskijs "Die versiegelte Zeit", Anthony Burgess "Joyce für jedermann" (???) oder Albert Camus "Der Fall". Aufgewachsen bin ich in "Kinderbüchern" wie Swifts "Gullivers Reisen", Defoes "Robinson Crusoe" oder Hugh Loftings "Dr. Doolittles Zirkus". Eine Zeit verbrachte ich in Comic-Heften meine Sommerferien. Unter anderen in "Tarzan-", "Prinz Eisenherz"-, und "Mickey Mouse"-Geschichten. Mein Hochschulstudium absolvierte ich im gewaltigen Bauch von Melvilles "Moby Dick". Seither habe ich viel erlebt. Meine letzten glückhaften Abeneteuerfahrten gingen unter anderem in Jean Paul Sarttres "König Albemarle oder Der letzte Tourist" (eines der schönsten Bücher=, Harold Brodkeys "Profane Freundschaft" (eindrucksvoll) und Musashis "Das Buch der fünf Ringe" (kriegerisch).


Reisende & Lesende

Jeder Leser und jeder wirklich leidenschaftlich Reisende empfindet das Lesen oder eben das Reisen als eine Art Desertieren aus seinen Lebensumständen. Ist man ein guter Reisender, verläßt man sein Zuhause mit dem winzigen Hintergedanken, nie mehr zurückzukehren - sei es, daß man den Tod findet, etwa bei einem Flugzeugabsturz, oder daß man im Kopf das Fünkchen trägt, das eigene Land für immer zu verlassen. Die Würze einer Reise ist doch, irgendwohin zu gehen, wo Rückkehr keine Rolle mehr spielt. Sie ergibt sich ja automatisch, aber beim Aufbruch muß sie einem gleichgültig sein. Und je fremder die Länder, desto interessanter wird die Reise. Da ist eine Ähnlichkeit zum Lesen: auch der Leser flieht, allerdings in eine andere Wirklichkeit. Man ändert dabei sogar das Geschlecht, wechselt in Feindeslager über, wo Meinungen behauptet werden, die man gar nicht teilt - aber das ist eben das Abenteuer.


Die ersten Bücher

Welches Buch ich selbst als erstes gelesen habe, kann ich schwer sagen. Ich bin 1942 geboren, also ein sogenanntes Kriegskind, und nach dem Krieg hat es relativ wenig gegeben. Unsere Wohnung war, wie man heute sagt, ausgestohlen, d.h., als wir aus Würzburg zurückkamen, wo mein Vater in einem Lazarett als Arzt gearbeitet hatte, waren keine Bücher mehr da. So bin ich mit sehr, sehr wenigen aufgewachsen. In erster Linie mit den Fachbüchern meines Vaters, Werke über Haut-, Geschlechts- und Geistekrankheiten, die in einer Vitrine aufbewahrt wurden. Sehr früh schon hatte ich diese Bücher herausgenommen und mir die Bilder angeschaut. Sie haben mich furchtbar erschreckt, aber gleichwohl habe ich sie immer wieder angesehen. Dann hat meine Großmutter väterlicherseits begonnen, mit mir selbst Bücher zu machen. Entweder hatte ich eine Geschichte erzählt, und sie hatte sie aufgeschrieben und dazu Zeichnungen gemacht, oder sie hat etwas in Blockbuchstaben aufgeschrieben, und ich habe dazu gezeichnet, Die einzelnen Blätter hat sie dann mit Nadel und Zwirn zusammengenäht. Das waren über Jahre hinweg mein einzigen Bücher.


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