Abenteuerwelt meines Buches


von Alan Sillitoe

In der Schule machte mir nur das Lesen Spaß. Sonst gab es nicht viel. Rechnen mochte ich nicht, und Schreiben konnte ich nicht ausstehen. Aber wenn ich las, versank das Klassenzimmer um mich her, und ich lebte in der Abenteuerwelt meines Buches, so daß es genau so war, als säße ich überhaupt nicht in der Schule, und das war die einzige Art, ihr zu entgehen, ohne zu schwänzen. Der Lehrer erwischte mich immer wieder dabei, aber stetes holte ich mir das abgenommene Buch zurück, auch wenn er einmal die Beherrschung verlor und mich schlug. Er war ein junger Mann, und so verwirrte es ihn, daß er mich im Grunde nicht wirklich einen Dummkopf nennen konnte - obwohl ich vielleicht einer gewesen bin -, weil ich die anderen Sachen nicht genauso gut lernte. Zu Hause hätte ich mich um keinen Preis mit einem Buch sehen lassen - jedenfalls nicht solange ich zur Schule ging. Sie hätten mich entweder für verrückt oder für krank gehalten, und ich wollte nicht, daß sie mich ins Bett steckten oder ohne triftigen Grund einen Doktor holten. Als ich dann aus der Schule war, las ich bei der Arbeit, und da wurde es mir noch übler genommen als zuvor. Nachdem ich deswegen schon aus ein paar Fabriken hinausgeworfen worden war (wo ich den Gestank und Lärm sowieso nicht ausstehen konnte - von der Arbeit ganz zu schweigen), suchte ich mir nur noch Posten als Laufbursche oder Bote, wo ich ein mit Kleidern oder Kolonialwaren hoch beladenes Fahrrad von einem Ort zum anderen schieben konnte.

Auf dem Rückweg lehnte ich das Fahrrad dann an die Mauer einer Kanalbrücke und las eine halbe Stunde in meinem Buch oder Comic-Heft. Die Folge war, daß man mich für intelligent hielt, weil ich mich nie verfuhr, aber für nicht sehr fleißig, weil ich immer so lang brauchte. Auf einer Fahrt trödelte ich durch die Stadt und besah mit die Schaufenster einer Buchhandlung. Einer der Titel, die mich fesselten, war "Der Weg allen Fleisches". Ich stand in meinem Overall da und starrte das Buch an, und als ein junges Mädchen neben mir vor dem Schaufenster stehenblieb, wurde ich etwas verlegen, weil ich glaubte, sie dächte, ich hätte nur Augen für ein Buch mit einem solchen Titel. In gewisser Weise stimmte es auch, aber ich wich und wankte nicht. Bücher über Sex las ich immer gern, und von diesem hatte ich noch nichts gehört, und da es ein Paperback war, ging ich in den Laden, um es zu kaufen. Das Mädchen, eine junge, blonde Schönheit von Büromädchen, zweifellos, hatte sich ebenfalls entschlossen, irgend etwas zu kaufen und stand vor dem Buchregal, von dem ich wußte, daß ich dort finden würde, was ich suchte. Ich hielt mich also zurück und betrachtete eine Reihe von Gebetbüchern und Bibeln, wobei ich nicht begreifen konnte, warum es sie in demselben Laden wie die andere Art von Büchern gab, auf die ich aus war. Ein Gehilfe fragte mich, was ich wünschte, und ich sagte, ich sähe mich bloß um, so daß sich der Naseweis zu seinem Tisch zurücktrollte, um weitere Pakete zu packen. Ich war von meiner Arbeitsstelle schon recht lange weg, und weil sich das Mädchen von den Regalen mit den Paperbacks nicht wegrührte, entschloß ich mich, am folgenden Tag wiederzukommen.

Das tat ich dann auch, und als ich das Buch gefunden, dem Verkäufer gegeben und bezahlt hatte, steckte er es gewissenhaft in eine Tüte, damit niemand denken sollte, ich hätte es gestohlen, als ich wieder ging. Aber ein zweite Buch steckte bereits sicher unter meiner Jacke, nach dem Prinzip "kauf eins - klau eins", was lediglich bedeutete, daß ich beide für den halben Preis bekommen hatte. Schließlich war ich ja kein Dieb, der etwas umsonst kriegen wollte! Das Buch, daß ich nebenbei mitgenommen hatte, hieß "Die göttliche Komödie", und ich dachte, es wäre sicher auch unanständig, besonders weil es von einem Italiener geschrieben war. Ich freute mich so über meinen Fischzug, daß ich abends am Kaminfeuer zu lesen begann, sobald meine Mutter weggegangen war. Augen und Geist warteten begierig, als ich beide Füße auf die Kohlenschütte legte und "Der Weg allen Fleisches" aufschlug. Daß es leicht zu lesen sein würde, hatte ich sowieso nicht angenommen weil ich wußte, daß man bei dieser Art von Penguin-Buch kaum damit rechnen konnte, daß schon auf den ersten fünfzig Seiten irgendwer mit irgendwem ins Bett ging. Aber dann stellte sich heraus, daß es so interessant war, daß ich mit dem Lesen nicht aufhören konnte, und als Mutter um halb Elf zurückkam, hatte ich ganz vergessen, was ich von dem Buch erwartet hatte, als ich es aufschlug. Danach verschlang ich noch andere gute Bücher, und obwohl ich eigentlich nie so richtig das fand, was mich in erster Linie zum Lesen gereizt hatte (was nicht sagen soll, daß ich immer enttäuscht war), merkte ich trotzdem, daß an diesen Büchern mehr dran war als an Sex- und Gangstergeschichten.


Aus: Alan Sillitoe: Ein Start ins Leben, Zürich: Diogenes, 1971


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