Probeweise vorlesen


von Muriel Spark

Ich machte Tee und erklärte mich bereit, ihr ein Stück von meinem "Warrender Chase" vorzulesen. Ich tat das nicht weniger für mich selber, als um Dottie zu unterhalten, ja ihr zu schmeicheln; für mich selber deshalb, weil ich nach Dotties Heimgang noch ein paar Seiten an dem Buch schreiben wollte, und das Vorlesen war eine Art Vorbereitung. Jetzt war ich zu der Stelle gekommen, wo Warrenders Neffe Roland und dessen Frau Marjorie beschlossen haben, als Vorbereitung Warrenders Papiere durchzugehen, denn Prudence, Warrenders steinalte Mama, hat den Gelehrten Proudie damit beauftragt, sie zu sichten. Das geschieht drei Wochen nach dem stillen Landbegräbnis im Kreis der Familie, das ich im Detail beschrieben hatte. Dottie kannte das Stück über das Begräbnis schon, sie hatte es "viel zu kalt" genannt, aber das hatte mich nicht gestört; im Gegenteil, ich nahm ihre Kritik eher für ein gutes Zeichen. "Du hast die Tragödie von Warrenders Tod nicht als solche gestaltet", hatte Dottie bemerkt; und auch das hatte mich keineswegs gestört. Das war jedenfalls das neue Kapitel, das von Rolands Standpunkt aus geschrieben war. Und der war, daß sein Onkel, Warrender Chase, als großer Mann tragischerweise in der Blüte seiner Jahre umgekommen war; das wurde öffentlich anerkannt, das ist sozusagen ein öffentlicher Gemeinplatz. Er hat erreicht, daß alle ihn für bedeutend halten.

Die Familie, die im geheimen den Status der Leidtragenden genoß, vertraute darauf, daß Roland und Marjorie ihre Arbeit gewissenhaft tun, mit Proudie zusammen die Papiere sichten und schließlich ein "Leben und Schriften" oder sonst eine Art Denkmal für Warrender Chase daraus machen; egal, was sie zusammenstellen, und selbst wenn es Jahre dauert, interessant muß es auf jeden Fall werden. Naturgemäß findet Roland, als er die Papiere des Toten durchgeht, diese Aufgabe deprimierend. Warrender Chase, vor wenigen Wochen noch so vital, und jetzt endgültig gegangen. Roland ist traurig, auch ein bißchen zerfahren. Warum blüht aber dann Marjorie, bisher eine ziemlich neurotische und eher welke Dreißigerin, so plötzlich auf? Seit dem Begräbnis lebt sie von Tag zu Tag mehr auf, ihre steigende Laune ist unverkennbar. Proudie ist Marjories neu gefundenes Glück nicht entgangen. Das eben Gesagte ist natürlich nur eine grobe Zusammenfassung. Aber als ich Dottie das Stück an diesem Abend in meinem Untermietzimmer vorlas, konnte ich sehen, daß sie es nicht mochte. Ich werde die Stelle, die ihr besonders Mißfallen erregte wörtlich zitieren:

"Marjorie", sagte Roland, "stimmt irgend was nicht mit dir?"
"O nein, keineswegs." "Genau wie ich dachte", sagte er.
"Du scheinst mir vorwerfen zu wollen", sagte sie, "daß es mir gut geht."
"Ja, zugegeben, gewissermaßen. Warrender Tod ist dir offenbar gar nicht nahegegangen."
"Er ist ihr wunderschön nahegegangen", sagte Proudie.

(Ich ersetzte "wunderschön" durch "sehr wohl", bevor ich das Buch dem Verleger schickte. Wahrscheinlich hatte ich zu jener Zeit etwas zu viel Henry James gelesen, und "wunderschön" war doch recht überzogen.) An diesem Punkt warf Dottie ein: "Ich verstehe nicht, wo du hinauswillst. Ist Warrender Cahse ein Held, oder ist er keiner?" "Er ist ein Held", sagte ich. "Dann ist Marjorie eine schlechte Person." "Wie kannst du das sagen? Marjorie ist eine Erfindung, sie existiert gar nicht." "Marjorie ist eine Personifikation des Bösen." "Was ist eine Personifikation?" fragte ich. "Marjorie ist nur Wörter." "Die Leser wollen wissen, woran sie sind", sagte Dottie. "Und in diesem Roman wissen sie es nicht. Marjorie scheint auf Warrenders Grab zu tanzen." Dottie war nicht dumm. Ich wußte, daß ich es dem Leser nicht leicht machte zu wissen, auf wessen Seite er stehen sollte. Aber ich fühlte mich einfach dazu getrieben, mit meiner Geschichte fortzufahren, ohne dem Leser eine Denkanweisung zu verpassen. Übrigens hatte mir Dottie mit ihrer Kritik die Anregung für jene Szene gegen Ende des Buches gegeben, wo Marjorie auf Warrenders Grab tanzt.

"Weißt du", sagte Dottie, "du hast so etwas Hartes an dir, Fleur. Du bist nicht richtig weiblich, oder?" Das ging mir jetzt aber wirklich auf die Nerven. Um ihr zu zeigen, daß ich eine Frau war, zerriß ich die Seiten meines Romans und stopfte sie in den Papierkorbm brach in Tränen aus und warf sie hinaus, grob und laut, so daß Mr. Alexander übers Stiegengeländer glotzte und sich beschwerte. "Hinaus", schrie ich Dottie an. "Du und dein Mann, ihr habt mein literarisches Schaffen ruiniert." Danach ging ich zu Bett. Von Frieden erfüllt, schlief ich ein. Nachdem ich am nächsten Morgen meine zerissenen Seiten von "Warrender Chase" aus dem Papierkorb gefischt und sie wieder zusammengeklebt hatte, ging ich zur Arbeit und holte mir unterwegs in der Bezirksbücherei von Kensington John Henry Newmans "Apologia", die ich Maisie Young seit langem versprochen hatte. Sie hätte sie sich in allen diesen Wochen auch ganz leicht selbst besorgen können, sogar mit ihrem Gebrechen, aber sie gehörte zu jenem Schlag Menschen - es müssen keineswegs immer die ganz Ungebildeten sein -, die immer fragen, wie sie zu dem oder jenem Buch kommen können; sie wissen sehr gut, daß man Schuhe im Schuhgeschäft und Lebensmittel im Lebensmittelgeschäft kauft, aber ein Buchgeschäft ausfindig zu machen und zu betreten liegt irgendwie nicht im Bereich ihrer Vorstellungen. Nichtsdestoweniger war ich Maisie wohlgesinnt und dachte, die erhabenen Seiten von Newmans Autobiographie, so vergeistigt sie auch waren, würden ihr Inneres an die süße Welt der Lebenden binden. Maisie brauchte eine solche Bindung. Ich fand das Buch in den Regalen der Bücherei, und da ich in dieser Abteilung war, stieß ich noch auf ein anderes Buch, das ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Es war die Autobiographie von Benvenuto Cellini. Es war, als würde ich einen alten Freund wiedersehen. Ich lieh mir beide Bücher aus und ging froh und glücklich meines Weges.


Muriel Spark: Vorsätzlich Herumlungern. Zürich: Diogenes, 1982. S. 56-59.


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