Lesen verändert

Vom Leben des Buches. Vom Leben mit Büchern


Biblio-Physiologie
Unter Bücherbergen
Lob des Buches
Bücherharem
Das nie ganz ideale Lesen
Geistiger Lastenausgleich
Fußnoten
Dumm gelesen
Fachgeschichte Bibliotheken
Benjamin Franklins Grabschrift
Bemerkung
Altes & Neues
Eine lautlose Kunst
Die Kunst der Vermittlung
Der rechte Leser
Die Basis aller Behandlung
Leseverköstigung
Wiederkäuen
Vorgekaut und weichgekocht
Die Kunst nicht zu lesen
Verändern Dichter die Welt?


Biblio-Physiologie

Zur Biblio-Physiologie, zum eigenen Dasein, gehört ganz sicherlich auch, ein paar Worte zum Alltag der Bücher zu sagen. Da stehen sie herum in Reih' und Glied, geordnet und immer wieder umgestellt nach neuen Ordnungsprinzipien. Man könnte sich gut vorstellen, daß sich auf die Dauer innerhalb der Buchreihen Nachbarschaften bilden, daß es zu Freundschaften kommt, zu einer Cliquen-Wirtschaft vielleicht. Lassen sich nicht ganze Quarantäne- Stationen vorstellen, Einkreisungen und Abgrenzungen und Rückendeckungen? Gibt es nicht genug auch an Attrapen, an Bibliothekskadavern? Dann aber -, wohin mit den Leichen? Und was wohl geschieht mit den armen Büchern, die keinen Platz in der Bibliothek gefunden haben, den Bücherwaisen und Findelkindern? Das Buch als Kind - wenn wir schon einer Bibliogenesis das Wort reden - bedarf daher vermutlich eines eigenen Reifungsprozesses, wie es auf der anderen Seite auch - und das sollte unser eigentliches Thema sein - uns unermeßlich zu eigener Reifung zu dienen in der Lage ist. (S. 18)


Unter Bücherbergen

Der Univeralsgelehrte Al-Gahiz starb 90-jährig unter einem einstürzenden Bücherberg - ein so bemerkenswert sinnvolles Hinscheiden, daß es seinen Chronisten zu der Bemerkung begeisterte: "Für einen Mann, der sein ganzes Leben den Büchern gewidmet hatte, könnte man sich wirklich keinen schöneren Tod vorstellen." Ein ähnlich schöner, ein typischer Gelehrtentod ward auch dem Petrus Hispanus zuteil, dem bislang einzigen Mediziner, der Papst wurde und 1277 als J0hannes XXI. unter der einstürzenden Bibliothek seines Palastes zu Viterbo verschüttet wurde. Noch unter den Trümmern soll er geseufzt haben: "Quis perficiet libellum meum?" Wer wird es nun pflegen und hegen, dieses mein kleines, geliebtes Wesen! (S. 19)


Lob des Buches

Vom arabischen Al-Gahdiz gibt es ein so köstliches 'Lob des Buches', daß man einfach ein paar Perlen aufleuchten lassen muß: "Das Buch ist ein Gefäß, gefüllt mit Wissen, eine Hülle, gestopft voll Scharfsinn, ein Behältnis, versehen mit Scherz und Ernst." Man kann da lachen oder staunen, läßt sich erfreuen oder ergreifen. Es ist ein Garten, den man im Ärmel trägt, eine Wiese, die man auf seinem Schoße hält, ein Gefährte, "der nur schläft, wenn du schläfst und der nur spricht, wenn du zuhörst." Keiner ist pünktlicher und fällt weniger zur Last, keiner trägt reifere Früchte und schenkt süßeren Lohn. "Das Buch ist ein Gefährte der Nachtwache, ein Besucher, der nur per Distanz erscheint, ist wie ein Schatten, ist ein Teil von dir selbst." (S. 19)


Bücherharem

Es wird uns von einem arabischen Bücherwurm und Professor berichtet, daß er einen Ruf ablehnen mußte, weil er nicht imstande war, die 200 Kamelladungen seiner geliebten Wesen - einen ganzen Bücherharem gleichsam - zu transportieren. Und dennoch - schließt Al-Gahiz - lernst du in einem Monat mehr von ihnen, als du vom Munde der Menschen in einer ganzen Generation lernen würdest -, und du ersparst dir zwischendurch noch mancherlei Spesen und Alimente. (S. 18)


Das nie ganz ideale Lesen

Dann aber erscheint er schließlich selber, der Leser, er, der Geld vergeudet und seinen Geist strapaziert hat, um nun zu spüren, daß er letztlich doch nur ein Opfer seiner Berufung wurde, da nämlich bei liegendem Lesen der Sehstrahl schwankt, bei sitzender Lektüre die Kanten drücken, bei stehendem Lesen das Kreuz lahm wird. Und selbst, wenn ein Sklave es hielte oder gar eine Sklavin Seite um Seite es umblätterte und umflatterte - ganz ideal wird es nie, das Lesen, so daß man sich manchmal wünschen möchte - und wie sehr gilt dies erst heute! - zum Analphabeten zu werden. (20)


Geistiger Lastenausgleich

Im Jahre 1697 schon hatte Daniel Defoe deshalb vorgeschlagen, der Gesetzgeber möge allen Gelehrten für ihre Publikationen eine Steuer auferlegen, mit der man dann - nach Art eines geistigen Lastenausgleichs - Irrenanstalten bauen könne. Zu zahlen wären für jedes in Folio zu druckende Buch von 40 Bogen aufwärts je fünf Pfund, für jedes in Quart 40 Schilling, on Oktav 20, in Duodez 10 und für jede geheftete Flugschrift zwei Schillinge. "Neudrucke nach gleichem Maßstab"! Bereits in 20 Jahren könne man - meint Defoe - auf diese Weise ein solides Irrenhaus stehen haben - und heute bereits nach wenigen Stunden! (S. 21)


Fußnoten

Fußnoten, lockere didaktische Spuren nach Manier eines Hündchens, das hier, das da, das allerorts - so schon Goethe - sein Beinchen hebt, nur um anzuzeigen, wo es überall gewesen! Kurzum! Ein Buch, so weiß es das afrikanische Sprichwort, ist wie ein Garten, den man in seiner Tasche trägt, ein blühender duftender, in den freilich nur zu oft auch das Gewitter einschlägt. (Heinrich Schipperges: Lesen verändert. Vom Leben des Buches. Vom Leben mit Büchern, S. 21)


Dumm gelesen

Ganz besonders übel aber ist "der geneigte Leser" bei Arthur Schopenhauer weggekommen. Die eigentliche Arbeit des Denkens, sie scheint uns ja gerade beim Lesen abgenommen zu werden, und so ist während des Lesens "unser Kopf doch eigentlich nur der Tummelplatz fremder Gedanken. Daher kommt es, daß, wer sehr viel und fast den ganzen Tag liest..., die Fähigkeit, selbst zu denken, allmählich verliert -, wie einer, der immer reitet, zuletzt das Gehen verlernt." Daraus der frappierende Schluß: "Solches aber ist der Fall sehr vieler Gelehrten. sie haben sich dumm gelesen!" (Heinrich Schipperges: Lesen verändert. Vom Leben des Buches. Vom Leben mit Büchern, S. 22)


Fachgeschichte Bibliotheken

Es gibt wohl keine Fachgeschichte, die mehr an Köstlichkeiten und Kuriositäten, an Dramatischem wie auch Allzumenschlichem aufzubieten hätte als die Geschichte der Bibliotheken. Da gab es Plünderungen und Brandschatzungen, Stellungskirge um die Öffnungszeiten und Sammlungen in Seide, wie die der Königin von Saba, oder Kodizes in Gold, mit Silber gedeckelt und edlem Gesteine bespickt. Schlachten sind geschlagen, Verträge geschlossen, Akademien gegründet worden um ein Buch. Schlösser und Klöster haben sie beherbergt und bewirtet. Von Calvisius Sabinus wird berichtet, daß er sich privat eine lebendige Bibliothek - in Gestalt von gelehrten Knechten - zugelegt habe. Die Bibliotheken werden endlich ganze Städte bilden, sagt Lichtenberg mit Leibnitz, der schon Ende des 17. Jahrhunderts eine ‘Stapel-Stadt informationum” geplant hatte, Städte, die dann gewiß auch ihre düsteren Straßen und ihre Schindergäßchen hätten - ihre eigene komplette Geschichte! (Heinrich Schipperges: Lesen verändert. Vom Leben des Buches. Vom Leben mit Büchern, S. 22)


Benjamin Franklins Grabschrift

Benjamin Franklins Grabschrift lautet, nach Franklins eigener Fassung: "Hier liegt der Leib Benjamin Franklins, eines Buchdruckers (gleich dem Deckel eines alten Buches, aus welchem der Inhalt herausgenommen ist und der seiner Inschrift und Vergoldung beraubt wurde), eine Speise für die Würmer; doch wird das Werk selbst nicht verloren sein, sondern (wie er glaubt) einst erscheinen in einer neuen schönen Ausgabe, durchgesehen und verbessert von dem Verfasser." (Heinrich Schipperges: Lesen verändert. Vom Leben des Buches. Vom Leben mit Büchern, S. 30)


Bemerkung

Im amtlichen Bericht über die neunte Versammlung der Deutschen Naturforscher und Ärzte zu Hamburg 1830 steht als Vorsatz wörtlich zu lesen: "Die in den folgenden Blättern hier oder dort vielleicht vorkommenden Schreib- oder Druckfehler beliebe der Leser der Abwesenheit des Verfassers vom Druckorte geneigtest zuzuschreiben." (Heinrich Schipperges: Lesen verändert. Vom Leben des Buches. Vom Leben mit Büchern, S. 35)


Altes & Neues

Was alles ist auf dem Gebiete des Bücherwesens nicht auch an Kuriositäten ersonnen worden. Da wurde ein Buch erfunden, das beliebig vertauschbare Seiten hatte. Ein anderes ließ sich durch ein geheimes Uhrwerk regelmäßig, dem Takte des Lesens angemessen, umblättern. Ein besonders finsterer Bücherwurm hatte sich ein 'Noctiarium' ersonnen, Bücher, deren Buchstaben nur nachts zu lesen waren, wo sie dann auch so deutlich phosphoreszierten, daß man weiter kein Licht brauchte, Unserem eigenen Zeitalter freilich bliebe es erst vorbehalten, Kuriositäten ganz besonderer Art zu erfinden. "Das Jahr 1920 wird künftigen Geschlechtern als ein Wendejahr im geistigen Geschehen gelten dürfen", schreibt Konrad Krause in seiner "Werkstatt der Wortkunst" (1942) -: mit dieser Zeit beginnen die Veränderungen, die zu Erhöhungen der menschlichen Innenwelt erst ausreifen müssen, sollen sie nicht bloße Erweiterungen technischer Mögichkeiten bleiben." Da bleibt nun wirklich die Frage: ob Lesen verändert! (Heinrich Schipperges: Lesen verändert. Vom Leben des Buches. Vom Leben mit Büchern, S. 37)


Grundregel

Unter den Bibliothekaren gilt seit langem als Regel, daß sich 80% der Bedürfnisse durch 20% des Bestandes befriedigen lassen. (S. 53)


Eine lautlose Kunst

Man denke aber auch an warnende Stimmen, die etwa meinen: "Man sollte die Bücher immer desto kleiner drucken lassen, je weniger Geist sie enthalten." Ein guter Rat von Christoph Georg Lichtenberg an die Verleger, mehr noch an die Manager einer Buchmesse! Hat das Buch unter dem Eindruck der Informationslawine seine Bedeutung verloren? Was sich seit Gutenberg revolutionär geändert hat, sind die Techniken; Lichtsatz und Computertechnik vermitteln neue Herstellungsformen, aber so sehr auch die Medienlandschaft sich verändert hat, Geist und Stoff sind das gleiche geblieben: eine geniale Mischung von 26 Buchstaben, die sich zu Silben, zu Wörtern, zu Sätzen, zu Texten setzen lassen und - summa summarum - immer noch eine Welt bedeuten und die Welt verändern! Der berufsmäßige Umgang mit dem Buch freilich, das Vermitteln von Büchern auch, der Verkehr mit Bücherfreunden beruht auf einer im Grunde genommen recht lautlosen Kunst. "Gebildete Menschen und die auf Bildung anderer arbeiten, bringen ihr Leben ohne Geräusch zu" (Goethe). Sie wollen beim Lesen eher den Bienen gleichen, die überall herumfliegen und Blütenstoffe sammeln, aus denen sie dann aus eigener Kraft kreativer Umformung den Honig bereiten. So hat das schon Macrobius von seinen "Saturnalien" beschrieben; so wird das im hohen Mittelalter im "Policraticus" des Johannes von Salisbury wiederholt. Und so sollte es bleiben bei allem Umgang mit Büchern und beim Vermitteln von Büchern. (Heinrich Schipperges: Lesen verändert. Vom Leben des Buches. Vom Leben mit Büchern, S. 63f.)


Die Kunst der Vermittlung

Vielleicht müßten alle, die den Verkehr mit Büchern berufsmäßig ausüben, wesentlich systematischer geschult werden. Das gilt für die Buchhändler im Sortiment wie die Bibliotherapeuten im Krankenhaus, das gilt für Berater und Verkäufer in Buchläden wie auch für Lektoren und Verleger. Einem solchen gebildeten Umgang dienen ganz alte Fächer wie Psychologie und Pädagogik, aber auch die moderne ärztliche Gesundheistberatung und nicht zuletzt die Theologie, die heute dabei ist, ihre therapeutische Dimension wiederzuentdecken. Berücksichtigt werden sollten daher bei der Kunst der Vermittlung neben der Persönlichkeit des Lesers der Trend auf dem Büchermarkt und die Rolle der Medien, in ganz besonderem Maße aber das eigene persönliche Urteil. Ein Buch läßt sich ja nicht so ohne weiteres empfehlen, läßt sich nicht, wie ein Medikament, verschreiben. Denn es gibt - das ist unser aller Erfahrung - Bücher, von denen man am liebsten nur kosten möchte, und es gibt andere, die man verschlingt. Wenige Leser nur haben es gelernt, das Gelesene zu kauen, zu assimilieren, durchzukochen, zu verdauen, um danach erst das Wertlose auszuscheiden oder sich etwas wirklich anzueignen, einzuverleiben, zueigen zu machen. (Heinrich Schipperges: Lesen verändert. Vom Leben des Buches. Vom Leben mit Büchern, S. 64f.)


Der rechte Leser

"Das sind die rechten Leser, die mit und über dem Buche dichten", schreibt Joseph Freiherr von Eichendorff: "Denn kein Dichter gibt einen fertigen Himmel; er stellt nur die Himmelsleiter auf von der schönen Erde. Wer, zu träge und unlustig, nicht den Mut verspürt, die goldenen losen Sprossen zu besteigen, dem bleibt der geheimnisvolle Buchstabe ewig tot, und er täte besser, zu graben oder zu pflügen, als so mit unnützem Lesen müßig zu gehen." (Heinrich Schipperges: Lesen verändert. Vom Leben des Buches. Vom Leben mit Büchern, S. 65)


Feststellung

Es gibt beim Lesen Erfahrungen, die man nicht publik machen sollte.


Die Basis aller Behandlung

Von der hohen Literatur, als einer wahren Schule der Erlesenheit, erwarteten die Griechen eine "Katharsis", die reinigende Wirkung aus der Kraft des Gehörten oder Gelesenen. Nicht von ungefähr galt Apollon, der Strahlende, der heilende Gott wie auch Vermittler der Kunst, als das Medium der Entsühnung. Katharsis sollte eine seelische Erschütterung bewirken und damit allein schon eine Entlastung im Affekthaushalt; sie sollte die verkehrten Leidenschaften läutern und die Ökonomie der Emotionen stabilisieren. Sie sollte die Krisen bewußter machen. "Zum Heilmittel" - schreibt Seneca - "werden sittlich orientierte Tröstungen, und was immer die Seele aufgerichtet hat, nützt auch dem Körper." Alles dies verspricht und leistet nun auch die Sprache im Buch! Das Wort ist einfach die Basis aller Behandlung, und es begleitet in strenger Hierarchie der Indikationen alle Therapie: "Was das Wort nicht heilt, heilt das Kraut, was das Kraut nicht heilt, heilt das Messser." Als Teil des scholastisch begründeten 'Regimen sanitatis" wirkt die Literatur vor allem im Bereicht der Affekte regulierend und stimulierend. (Heinrich Schipperges: Lesen verändert. Vom Leben des Buches. Vom Leben mit Büchern, S. 67)


Bilanzierende Frage

Am Ende eines jeden Tages aber sollte die simple Frage stehen: Was hast Du heute gelesen? Wer von uns könnte heute noch ohne Umschweife darauf antworten?


Leseverköstigung

Lesen am Abend erfüllt den Reichtum des Tages, läßt voll werden, satt sein, verdauen... Mit der ersten Annahme und Aufnahme verändern sie uns bereits, die so köstlichen Lese-Früchte, lassen uns anders werden, füllen uns auf. Allein schon ein so tiefsinniger Begriff wie "Erfüllung" verweist uns darauf, daß wir Einnehmen und Verarbeiten einer geistigen Nahrung wohl kaum von der leiblichen trennen können. "Zu verlangen, daß einer alles, was er je gelesen, behalten hätte, ist wie verlangen, daß er alles, was er je vergessen hat, noch in sich trüge", bemerkt Schopenhauer in seinen Aphorismen "Über Lesen und Bücher". Jeder wird vielmehr nur das behalten, was ihn wirklich interessiert. Hier entscheidet sich bereits, ob man die Lesefrüchte genießen kann oder auch nicht, was sich verdauen läßt und was eben nicht, was man beherzigen bedenkt und was man behält. Das Herz macht das Gedächtnis. Von solcher Art Leseverköstigung und Stoffwechselvorgängen mag auch Goethe genugsam erfahren haben, sonst hätte er nicht (am 3. Dezember 1812) seinem Freund Zelter geschrieben: Manchen Lesern wäre es wohl am liebsten, "wenn man ihnen die Mahlzeit, von Anfang bis zum Ende, wohl gesotten und gebraten, in einer Session vortrüge, damit sie solche auch geschwind auf den Nachtstuhl trügen und sich morgen in einer anderen Restaurationsbude oder Garküche, besser oder schlechter, wie es das Glück trüge, bewirten ließen". Das war im Jahre 1812! Und was würde Goethe wohl heute sagen angesichts des Restaurationsbetriebes in unseren Schnellbuchläden mit Selbstbedienung!


Wiederkäuen

Freilich tut, um dergestalt das Lesen als Kunst zu üben, eins vor allem not, was heutzutage gerade am besten verlernt worden ist -, zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls nicht ‘moderner Mensch’ sein muß: das Wiederkäuen. (Friedrich Nietzsche, 1887)


Vorgekaut und weichgekocht

Erst im Angesicht eines so großartigen Assimilationsprozesses im Stoffwechselverkehr zeigt sich, wo und wie auch Lesen verändert, wie sehr es aber auch in diesem Stoffwechselhaushalt auf Auswahl und Diskretion ankommt, auf Verdauungssäfte und Exkretionskräfte. Hier wird das Sichaneignen und Behalten genau so wichtig wie das Ausscheiden und Vernachlässigen, wie Übersehen und Überlesen und Vergessen und Auslassen. "Viel lesen und nicht durchschauen ist viel essen und übel verdauen", weiß ein altes Sprichwort, und ein anderes: "Bücher fressen und nicht käuen macht ungesund." Das Buch - so Gottfried Benn - hat wohl kaum die Aufgabe, "einem möglichst großen Bevölkerungsteil Erkenntnisse oder Eindrücke zu übermitteln." Es ist immer der Leser selbst, der weiß, was ihm bekommt, es ist der "elementare und seelisch ruhelose Mensch", der von vorneherein weiß, "wo er seine Nahrung findet, und man braucht ihn nicht zu beraten". So in einem Aphorismus mit dem schönen Titel "Bücher, die lebendig geblieben sind"! Der Dichter Benn macht bei seiner Kritik aber auch vor sich selber nicht halt, wenn er lästert über unser "Zeitalter der Aphorismen und Anthologien", ein "Zeitalter der Offerte, des Reizangebots, der Schmackhaftmachung", der "Erleichterung der schweren Dinge". Der moderne Leser wolle alles "mundgerecht" vorgesetzt haben, um an keiner "Hauptnahrung" mehr herumkauen zu müssen. Daher der so unselige Trend in unserem Bücherwesen: "kleine Bissen, vorgekaut, weichgekocht..."! (Heinrich Schipperges: Lesen verändert. Vom Leben des Buches. Vom Leben mit Büchern, S. 83f.)


Die Kunst nicht zu lesen

In seinen Aphorismen zu dem schier unerschöpflichen Thema "Selbstdenken" hat uns Arthur Schopenhauer immer wieder auf die Möglichkeiten, aber auch Grenzen des Lesens hingewiesen, auf alle nur möglichen Veränderungen durch Lesen auch. "Dieserhalb eben soll man nicht zu viel lesen; damit nicht der Geist sich an das Surrogat gewöhne und darüber die Sache selbst verlerne". Das "Gehen eines fremden Gedankenganges", das am ehesten entfremdet uns ja vom eignen Denken. Bei solchen Erfahrungen verstehen wir schon eher die bösen, verbitterten Reden des Zarathustra, die bei Nietzsche lauten: "Wer den Leser kennt, der tut nichts mehr für den Leser. Noch ein Jahrhundert Leser - und der Geist selber wird stinken". Und weitere: "Das jedermann lesen lernen darf, verdirbt auf die Dauer nicht allein das Schreiben, sondern auch das Denken". Also sprach Zarathustra! Daher - so noch einmal Schopenhauer - ist auch "die Kunst, nicht zu lesen", äußerst wichtig, ist lebenserhaltend und lebensnotwendig. Denn auch das sollte man nach Schopenhauer kennen und abschätzen: "dieses wichernde Unkraut der Literatur, welches dem Weizen die Nahrung entzieht und ihn erstickt". Daraus der simple Schluß: "Um das Gute zu lesen, ist eine Bedingung, daß man das Schlechte nicht lese: denn das Leben ist kurz, Zeit und Kräfte beschränkt". (Heinrich Schipperges: Lesen verändert. Vom Leben des Buches. Vom Leben mit Büchern, S. 84f.)


Verändern Dichter die Welt?

Auf die eindringliche Frage jedenfalls, ob denn nun Dichter wirklich die Welt verändern, hat der Dichter und Arzt Gottfried Benn eiskalt geantwortet: Nein! Denn "Kunstwerke sind phänomenal, historisch unwirksam, praktisch folgenlos." Das allein sei ihre Größe! Dichtung sei eben nicht dazu da, "für den Abend die geistige Vorwände für die Kulissenverschiebungen" zu liefern. Benn weist hin auf Nofretete, auf Anna Karenina oder den Nausikaagesang der Odysee, um zu konstatieren: "Nichts an ihnen weist über sich hinaus, nichts bedarf einer Erklärung, nichts will wirken außerhalb seiner selbst; es ist der Zug in sich versunkener Gestalten, schweigsamer und vertiefter Bilder..." Wie wohl sollte der Dichter sie ändern, wie die Welt schöner machen, und nach welchem Geschmack? Die Größe der Dichtung - so Gottfried Benn -, sie "will nicht verändern und wirken, diese Größe will sein". Als man Benn dann doch noch einmal fragte: "Soll die Dichtung das Leben bessern?", da gab er die frappierende Antwort: "Die Dichtung bessert nicht, aber sie tut etwas viel Entscheidenderes: sie verändert". Sie läßt uns einfach anders sein als wir zuvor waren. "Sie bringt ins Strömen, wo es verhärtet und stumpf und müde war, in ein Strömen, das verwirrt und nicht zu verstehen ist, das aber an Wüste gewordene Ufer Keime streut, Keime des Glücks und Keime der Trauer, das Wesen der Dichtung ist Vollendung und Faszination". (Heinrich Schipperges: Lesen verändert. Vom Leben des Buches. Vom Leben mit Büchern, S. 90)


© Heinrich Schipperges: Lesen verändert. Vom Leben des Buches. Vom Leben mit Büchern, Frankfurt/M.: Josef Knecht, 1987


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