Die müßige Kanonfrage


von Heinz Schlaffer

Wenn immer wieder besorgt, aber entschlossen vom "Kanon" die Rede ist, so muss gar nicht eigens gesagt werden, dass es dabei allein um einen Kanon der Literatur geht. Niemand sorgt sich darum, dass kanonische Bauwerke und Gemälde genügend beachtet werden. Wie unbegründet solche Bedenken wären, weiß man aus Erfahrung: Schlangen stehen vor der Sixtinischen Kapelle in Rom und vor der Sixtinischen Madonna in Dresden, vor dem Louvre und vor den Uffizien, vor den Ausstellungen Tiepolos und van Goghs. Der Ansturm auf die Hauptwerke der alten Kunst, nimmt von Jahr zu Jahr zu, das Interesse an der Literatur der Vergangenheit schwindet im gleichen Maße. Der Ruf nach dem Kanon möchte die schwindende, ja erloschene Liebe durch den Appell an das Pflichtbewusstsein wieder anfachen. Wer heute einen Kanon aufstellt, tut so, als fehle den Lesern nur die Kenntnis der richtigen Lektüre. Es fehlt ihnen etwas anderes: die Lust und die Fähigkeit, alte Bücher zu lesen; denn Bücher sind keine Bilder.


Der Roman ist zum Normalfall der Literatur geworden und hat das Vergnügen an älteren Gattungen der Literatur – an Epos, Lehrgedicht, Eklogen, sogar die Erinnerung an sie ausgelöscht. Deshalb reicht das Gedächtnis für vergangene Literatur nicht weit zurück. Romane um 1900, Fontanes "Effi Briest" und Thomas Manns "Buddenbrooks", sind die ältesten literarischen Werke, die heutige Leser ohne den pädagogischen Zwang literaturhistorischer Seminare wahrzunehmen bereit sind. Da dies nicht zu ändern ist, läuft die Rede vom Kanon ins Leere. Im Zeitalter des Fortschritts löst das Vergangene nostalgische Reize aus, aber nicht den Entschluß, den Geist der Gegenwart daran zu bilden.


In der Konkurrenz der Kunstarten sind die einst kanonischen Texte der deutschen wie der Weltliteratur hoffnungslos zurückgefallen, weil sie sich nicht als Ereignis präsentieren lassen. Obgleich sie als zeitlos gelten, sind sie doch in einer bestimmten vergangenen Zeit entstanden und erfordern vom späteren Leser einen besonderen Aufwand, um den Zeitabstand zu überbrücken und sie dadurch erst zu verstehen. Texte korrespondieren eben nicht unmittelbar mit unserer sensuellen Ausstattung, die über Jahrtausende gleich geblieben ist; sie beziehen sich vielmehr auf ein kulturelles Wissen, das sich von Epoche zu Epoche geändert hat.


Ein Buch ist ein Tyrann: Es erlaubt keine andere Beschäftigung nebenbei. Der Devise unserer Zeit "Double your time!" gehorchen zwar die Hörbücher, die uns beim Bügeln oder beim Auto fahren unterhalten, aber nicht die gedruckten Bücher, die nur versteht, wer ganz bei der Sache ist. Das allgemeine Glück der Sinne hat das besondere Unglück der Literatur zur Folge. Über diese missliche Lage versucht der Literaturbetrieb der Gegenwart hinwegzutäuschen, indem er die Leiden der Lektüre hinter den Freuden des Sehens und Hörens verbirgt. Wie nie zuvor sind Bücher sichtbar und hörbar geworden: samt ihrem Autor abgebildet auf Verlagsprospekten, ausgestellt auf Buchmessen, vorgestellt im Fernsehen, vertreten durch ihren Autor auf Lesungen, in Interviews, bei Preisverleihungen: Wozu sollte man sie, nachdem man sie schon so gut kennen gelernt hat, zu allem Überfluss noch lesen? Kaufen vielleicht, um sie zu besitzen oder zu verschenken; aber lesen? Selbst ein Analphabet könnte heute, da es im literarischen Leben so viel zu sehen und zu hören gibt, das Ansehen eines Kenners der Literatur erwerben.


Einen Kanon der Gegenwartsliteratur kann es nicht geben, denn kein Geschmacksurteil ist unsicherer als das über die Werke der eigenen Zeit. Es dauert dreißig bis fünfzig Jahre, oft viel länger, bis sich herausstellt, was die Zeit überdauert hat und beginnt, klassisch zu werden. Klassische Werke verlangen, wie es im Begriff des Klassischen liegt, wiederholte Lektüre. Wer vermöchte dies unter dem Andrang der Neuerscheinungen, die von Saison zu Saison gelesen und durch noch neuere ersetzt sein wollen, auf sich zu nehmen? Liest jemand die im Frühjahr und im Herbst vordringlich empfohlenen zwei, drei Romane, so findet er genügend Zeitgenossen, die sie auch gelesen oder wenigstens davon gehört haben, mit denen er also darüber sprechen könnte. Mit wem aber kann er über seine Lektüre der Ilias, der Aeneis, des Parzival, des Canzoniere, der Fairy Queen, des Don Quijote, des Tristam Shandy, der Lehrjahre, der Flegeljahre reden? Er müsste die Sprechstunde der Professoren an den philologischen Instituten einer Universität aufsuchen. Vereinsamung ist heute der Preis klassischer Lektüren.


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