Lob des Buches


von Franz Schnabel

Dankbarkeit vor allem bewegt uns, wenn wir der Bücher gedenken, die uns durchs Leben begleitet haben. Eine große Quote unseres Erdendaseins haben wir in der Welt der Bücher verbracht, und wenn wir alles in allem nehmen und die vielen Umwege auf unserer fahrt uns nicht als Schuld zuzurechnen brauchen, da in geistigen Dingen die gerade Linie nicht immer am sichersten und schnellsten zum Ziele führt, so fühlen wir den unermeßlichen Vorzug, der uns geworden ist. Denn der größte Teil der Menschheit durch alle Jahrtausende ihrer Geschichte hat nicht schreiben und nicht lesen können, und sicherlich lebt auch heute noch die Hälfte der Erdenbewohneer ohne Bücher. Die Völker haben auch so Gutes und Böses in die Welt gesetzt, aber nur wenig Kunde gegeben von dem, was in ihnen lebte. Wir dagegen haben von Jugend an, seit man uns die Fibel in die hand gegeben hat, am geschriebenen und gedruckten Worte uns gebildet, uns erfreut und gestählt und aus ihm Kräfte geschöpft für ein denkendes und tätiges Leben. Wenn wir uns Rechenschaft geben von dem Weg, den wir von Jugend an zurückgelegt haben, schweifen unsere Gedanken in jene Knabenjahre, da der Gymnasiast sich die kleine Privatbibliothek anlegte mit antiken Klassikern in billigen Stereotypausgaben und mit modernen Klassikern in den Bändchen der "Miniaturbibliothek" oder der "Universalbibliothek". Ein poliertes Büchergestell an der Wand, befestigt an Nägeln und mit den von den Schwestern gestickten Tragbändern, beherbergte den Schatz. Denn der junge Mensch hat auch noch vor fünzig und sechzig Jahren sein geistiges Leben in der Schule und neben der Schule so begonnen wie viele in den Generationen zuvor, in denen unsere Kultur gereift ist und wovon in zahlreichen Memoiren berichtet wird. Wahllos wurde alles gelesen oder verschlungen, was vor uns kam und uns lockte; jeder Pfennig, den man in die hand erhielt, wurde in Büchern angelegt.

Das gedruckte Wort übte damals wenigstens auf die Jugend noch ganz seine Gewalt aus, es war für sie noch nicht abgenutzt durch Mißbrauch und Lüge. Frühzeitige Neigung zu den Büchern und Wissensdurst haben einst aus Benjamin Franklin einen Drucker und Journalisten gemacht, und viele sind nachgefolgt; anderen gab alsbald die Universität die feste Richtung auf die Wissenschaft von der Natur oder der Geschichte... Es ist eine alte und doch oft vergessene Wahrheit, daß ein Buch, daß wir nicht für wert halten, zweimal gelesen zu werden, auch die erste Lektüre nicht gelohnt hat. Warum sollen wir nicht wählerisch sein? Aber was wir an Büchern als unserem Wesen gemäß erprobt haben, wollen wir uns auch wirklich zum Eigentum machen. Alles andere soll uns nicht den Raum und die Luft versperren. Und köstlicher Inhalt braucht auch ein schönes Gehäuse. Lieber eine kleine, aber - sagen wir es hier im eigentlichen Sinne des Wortes - eine erlesene, eine auserwählte Sammlung, als eine barbarische Anhäufung dessen, was der Alltag zufällig zu uns hereingeschwemmt hat. Der Genuß der Lektüre hängt ja gar sehr auch von den Typen ab, in denen das Buch vor uns liegt. Ein sauberer Druck, auf dessen Seiten das Auge mit Wohlgefallen ruht, läßt uns leichter und froher in den Inhalt dringen, als wenn die Kleinheit oder Roheit der Zeilen dem Leser viele Aufwand an Kraft zumutet und ihn vorzeitig ermüdet. Mit wieviel Liebe und künstlerischem Vermögen haben die Mönche des Mittelalters die Texte abgeschrieben und illuminiert! Und ein Elzevir aus dem 17. Jahrhundert mit seiner ebenmäßigen, feingliedrigen Antiqua und dem wohlberechneten Verhältnis von Format und Satzspiegel erregt unser Entzücken.

Denn wie das Behagen des Menschen erhöht wird durch den gut proportionierten Raum, in dem er lebt und arbeitet, so steigert der schöne Druck den Genuß des Lese und die Zahl der Leser. Es schmerzt uns, wenn in edlen Räumen, auf deren Bau so viele knechtische Arbeit, so viel Mühsal und Schweiß aufgewendet werden mußten, Nichtiges vor sich geht oder wenn teuflische Bücher als typographische Meisterwerke auftreten. Aber an den Jüngern Gutenbergs und an ihrer Kunst liegt sehr, ob ein gutes Buch zur guten Lektüre, zu Feierlichkeit und innerer Sammlung führt, die auch in der Dachstube möglich ist. Denn die Kunst des Lesens kann sich nur am würdigen Werk entfalten, sie erfordert die stille Aufmerksamkeit der Seele, die geduldige Hingabe an das gestaltete Wort, die mitschaffende Phantasie. Und wenn wir uns hörbar die Verse oder die Prosa vorlesen, kommen wir dem geheimnis des großen Schriftstellers, dem Einklang von Inhalt und Form am nächsten. Sollen wir sagen, daß zu diesem allen Andacht gehört? Obgleich wir nicht teilnehmen wollen an dem schon zwei Jahrhunderte alten Mißbrauch, weltlichen und sakralen Bereich zu vermengen, den Brief aus dem jahre 1795 hierher zu setzen, mit dem Schiller sein soeben fertiggestelltes Gedicht "Das Ideal und das Leben" Wilhelm von Humboldt gesandt hat: "Wenn Sie diesen Briefe erhalten, lieber Freund, so entfernen Sie alles, was profan ist, und lesen in geweihter Stille dieses Gedicht." Erst in der Einsamkeit wahrhaftig lernt man ganz den Erfinder der Bücher preisen. Nur wenn wir den Willen haben und uns die Gelegenheit schaffen - sei es auch nur für wenige Stunden -, aus den Stürmen der Welt zu flüchten und unsere Ansprüche an den Betrieb des Lebens, an Erfolge, Fortschritt und Tempo zu vergessen, können wie im Umgang mit den Büchern Trost, Stärke und heiterkeit gewinnen. Das eben sind die herrlichsten Stunden, die wir dem Buch verdanken, wenn wir bloß um des Wissens und der Erweckung willen lesen, nicht immer nur Material suchen, um es zu verwerten.

Dabei darf man nicht meinen, daß fruchtbare Lektüre immer und überall ein Genuß und keine Mühe sei und neben der Arbeit einhergehe. Vor die Tugend haben die Götter den Schweiß gesetzt - dies Wort der alten Griechen gilt auch hier. Der Zugang zum guten Buche will erkämpft werden. Was gründlich und klar gesehen und durchdacht ist, läßt sich auch lichtvoll darlegen. Aber gerade ein solcher Autor fordert die höchste Aufmerksamkeit und ein tiefes Eindringen in seine Absichten, ein Studium seiner künstlerischen Mittel... Produktive Leser! Unsere Literatur zählt viele Meister der Lektüre, die von dem Sinn, den Freuden, dem Zauber des Lesens Kunde gegeben haben: wie sie selbst vom Worte erfaßt waren, so haben sie es auch wieder in der Seele des Lesers zu starker Wirkung gebracht. Einer unserer produktivsten Leser war Goethe. Er hat noch im hohen Alter das Lesen als eine große und schwierige Kunst bezeichnet und über "den Dünkel vieler Leute" gespottet, die glauben, ohne Vorbereitung ein philosophisches oder dichterisches Werk lesen zu können, gleich wie wenn der Roman eines durchschnittlichen Schriftstellers wäre: "Die guten Leutchen wissen nicht, was es einen für Zeit und Mühe kostet, um lesen zu lernen; ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht." Einem kritischen Denker wie Lessing vollends ist die stille Bibliothek wie Wolfenbüttel, in der er seine letzten Jahre verbrachte, zu einem Arsenal und Feldlager des Geistes geworden. Er hat aus ihren alten Drucken und Manuskripten vieles mitgeteilt, was in den Kampf der Zeit eingegriffen hat; und den Wert der Bibliothek wie das Gewicht ihrer Geschichte hat er nicht bemessen nach dem Zuwachs von Büchern und nach der guten Verwaltung, sondern darauf kommt es an, "daß man zeigt, wozu es denn nun auch der Gelehrsamkeit und den Gelehrten genutzt habe, daß so viele Bücher mit so viel Kosten hier zuhaufe gebracht worden. Das allein sind die Taten der Bibliothek, und ohne Taten gibt es keine Geschichte."

Es ist wahrhaftig ein unermeßliches Gebiet, das sich vor uns auftut, wenn wir daran denken, was alles im Leben und in der Geschichte das gesprochene und - dauernder noch - das geschriebene und gedruckte Wort bewirkt hat. Denn Kunst und Gedanke verwandeln sich in Taten; sie bestimmen den Lebensinhalt, aus dem Menschen und ganze Völker zu Taten aufbrechen. Daher sind Denker und Künstler, sind die Bücher verantwortlich vor der Geschichte. Hölle, Fegfeuer und Himmel künden von den Gewalten, die durch Bücher entfesselt werden. Die berühmteste Liebestragödie der Weltliteratur hebt an, als Francesca und Paolo, auf Kurzweil bedacht, gemeinsam im Ritterroman lesen, wie Lanzelot sich wand in Liebesbanden: "Allein war ich mit ihm, ohn' Arg und Acht, beim Lesen kam's, daß sich die Blicke fanden." Und dann gelangen sie zu der Stelle, wo der Held und die Königin sich vereinen: "e questo do no vi leggemmo avanti" - an diesem Tage lasen wir nicht weiter! Es hat auch andere gegeben, die weitergelesen haben; zum Lobe der Bücher sei gesagt, daß nicht immer die heiße Sprache die Lesenden ins Inferno führt. Eine ganze Legion von Mißverständnissen hat der schweifende Geist, der nicht zu Gott zurückkehrt - der "spiritus ambulans et non revertens", von dem die Psalmen sprechen -, in die Welt gesetzt; oft schon ist ein ganzer Erdteil in Flammen aufgegangen, wenn einer wie der Don Quichote beschloß, das, was er lesend gelernt hatte, handelnd zu unternehmen. Wer aber gar mit Ernst und Urteil das Bestehende prüft, wird den Machthabern verdächtig.Cassius liest viel, heißt es im Julius Cäsar des Shakesspeare: "Das ist es, was ihn so gefährlich macht." Auch Cäsar selbst und Napoleon haben viel und mit leidenschaftlicher Vorliebe gelesen, die Literatur hoch eingeschätzt als ein Mittel, auf die Menschen zu wirken. Aber der edelste Ertrag ist dort, wo die Lektüre unabhängig von den Geschäften gepflegt wird und der Mann dadurch auch in seinen Geschäften menschlicher wird, so daß Amt und Erwerb ihm nicht ganz verbrauchen oder verhärten. Um uns zu erfrischen gegen die Dumpfheit und uns zu wappnen gegen den Kleinmut des Alltags, ahben wir aus der Hand der Dichter und Denker Gaben erhalten, denen der Wandel der Jahrhunderte nichts hat anhaben können und die aus der Kraft fortströmenden Lebens auch heute noch gemehrt werden. Seien wir darum dankbare Leser! Wir wollen uns nicht damit begnügen, die Bücher in unsere Bildung aufgenommen zu haben; bei vielen Gelegenheiten können wir den bewährten Freunden uns wieder anvertrauen.


Aus: Franz Schnabel: Das Buch, Freiburg 1955


[Fundstücke]  [LB-Startseite]  [E-Mail]