Lesen und Bücher I


von Arthur Schopenhauer

Unwissenheit degradirt den Menschen erst dann, wann sie in Gesellschaft des Reichthums angetroffen wird. Den Armen bändigt seine Armuth und Noth; seine Leistungen ersetzen bei ihm das Wissen und beschäftigen seine Gedanken. Hingegen Reiche, welche unweissend sind, leben bloß ihren Lüsten und gleichen dem Vieh; wie man dies täglich sehen kann. Hiezu kommt nun noch der Vorwurf, daß man Reichthum und Muße nicht benutzt habe zu Dem, was ihnen den allergrößten Werth verleiht. Wann wir lesen, denkt ein Anderer für uns: wir wiederholen bloß seinen mentalen Proceß. Es ist damit, wie wenn beim Schreibenlernen der Schüler die vom Lehrer mit Bleistift geschriebenen Züge mit der Feder nachzieht. Demnach ist beim Lesen die Arbeit des Denkens uns zum größten Theile abgenommen. Daher die fühlbare Erleichterung, wenn wir von der Beschäftigung mit unsren eigenen Gedanken zum Lesen übergehn. Eben daher kommt es auch, daß wer sehr viel und fast den ganzen Tag liest, dazwischen aber sich in gedankenlosem Zeitvertreibe erholt, die Fähigkeit, selbst zu denken, allmälig verliert, - wie Einer, der immer reitet, zuletzt das Gehn verlernt. Solches aber ist der Fall sehr vieler Gelehrten: sie haben sich dumm gelesen. Denn beständiges, in jedem freien Augenblicke sogleich wieder aufgenommenes Lesen ist nich geisteslähmender, als beständige Handarbeit, da man bei dieser doch den eigenen Gedanken nachhängen kann. Aber wie eine Springfeder durch den anhaltenden Druck eines fremdem Körpers ihre Elasticität endlich einbüßt, so der Geist die seine, durch fortwährendes Aufdringen fremder Gedanken. Und wie man durch zu viele Nahrung den Magen verdirbt und dadurch dem ganzen Leibe schadet; so kann man auch durch zu viele Geistesnahrung den Geist überfüllen und ersticken. Denn selbst das Gelesene eignet man sich erst durch späteres Nachdenken darüber an, durch Rumination. Liest man hingegen immerfort, ohne später weiterhin daran zu denken; so faßt es nicht Wurzel und geht meistens verloren. Überhaupt aber geht es mit der geistigen Nahrung nicht anders, als mit der leiblichen: kaum der funfzigste Theil von dem, was man zu sich nimmt, wird assimilirt: Das Übrige geht durch Evaporation, Respiration, oder sonst ab. Zu diesem Allen kommt, daß zu Papier gebrachte Gedanken überhaupt nichts weiter sind als die Spur eines Fußgängers im Sande: man sieht wohl den Weg, welchen er genommen hat; aber um zu wissen, was er auf dem Wege gesehn, muß man seine eigenen Augen gebrauchen.

Keine schriftstellerische Eigenschaft, wie z.B. Überedungskraft, Bilderreichthum, Vergleichungsgabe, Kühnheit, oder Bitterkeit, oder Kürze, oder Grazie, oder Leichtigkeit des Ausdrucks, noch auch Witz, überraschende Kontraste, Lakonismus, Naivität, u. dgl. m. können wir dadurch erwerben, daß wir Schriftsteller lesen, die solche haben. Wohl aber können wir hierdurch dergleichen Eigenschaften, falls wir sie schon als Anlage, also potentia, besitzen, in uns hervorrufen, sie uns zum Bewußtseyn bringen, können sehn, was Alles sich damit machen läßt, können bestärkt werden in der Neigung, ja, im Muthe sie zu gebrauchen, können an Beispielen die Wirkung ihrer Anwendung beurtheilen und so den richtigen Gebrauch derselben erlernen; wonach wir alerdings erst dann sie auch actu besitzen. Dies also ist die einzige Art wie Lesen zum Schreiben bildet, indem es nämlich uns den Gebrauch lehrt, den wir von unsern eigenen Naturgaben machen können; also immer nur unter der Vorasusetzung dieser. Ohne solche hingegen erlernen wird durch Lesen nichts, als kalte tote Manier, und werden zu seichten Nachahmern. Wie die Schichten der Erde die kleinen Wesen vergangener Epochen reihenweise aufbewahren; so bewahren die Bretter der Bibliotheken reihenweise die vergangenen Irrtümer und deren Darlegungen, welche wie jene Ersteren, zu ihrerer Zeit, lebendig waren und viel Lärm machten, jetzt aber starr und versteinert dastehn, wo nur noch der litterarische Paläontologe sie betrachtet. Xerxes hat, nach Herodot, beim Anblick seines unübersehbaren Heeres geweint, indem er bedachte, daß von diesen Allen, nach hundert Jahren, Keiner am Leben seyn würde: wer möchte da nicht weinen, beim Anblick des dicken Meßkatalogs, wenn er bedenkt, daß von allen diesen Büchern, schon nach zehn Jahren, keines mehr am Leben seyn wird. Es ist in der Literatur nicht anders, als im Leben: wohin auch man sich wende, trifft man sogleich auf den inkorrigibeln Pöbel der Menschheit, welcher überall legionenweise vorhanden ist, Alles erfüllt und Alles beschmutzt, wie die Fliegen im Sommer. Daher die Unzahl schlechter Bücher, dieses wuchernde Unkraut der Literatur, welches dem Waizen die Nahrung entzieht, und ihn erstickt. Sie reißen nämlich Zeit, Geld und Aufmerksamkeit des Publikums, welche von Rechtswegen den guten Bücher und ihren edlen Zwecken gehören, an sich, während sie bloß in der Absicht, Geld einzutragen, oder Aemter zu verschaffen, geschrieben sind. Sie sind also nicht bloß unnütz, sondern positiv schädlich.

Es giebt, zu allen Zeiten, zwei Litteraturen, die ziemlich fremd neben einander hergehn: eine wirkliche und eine bloß scheinbare. Jene erwächst zur bleibenden Literatur. Betrieben von Leuten, die FÜR die Wissenschaft, oder die Poesie, leben, geht sie ihren Gang ernst und still, aber äußerst langsam, produziert in Europa kaum ein Dutzend Werke im Jahrhundert, welche jedoch bleiben. Die andere, betrieben von Leuten, die von der Wissenschaft, oder Poesie, leben, geht im Galopp, unter großem Lärm und Geschrei der Beteiligten, und bringt jährlich viele Tausend Werke zu Markte. Aber nach wenig Jahren frägt man sich: wo sind sie? Wo ist ihr so früher und so lauter Ruhm? In der Weltgeschichte ist ein halbes Jahrhundert immer beträchtlich; weil ihr Stoff stets fortfließ, indem doch immer etwas vorgeht. Hingegen in der Geschichte der Literatur ist die selbe Zeit oft für gar keine zu rechnen; weil eben nichts geschehen ist: denn stümperhafte Versuche gehn sie nichts an. Man ist also wo man vor funfzig Jahren gewesen. Dies zu erläutern, denke man sich die Fortschritte der Erkenntnis beim Menschengeschlechte unter dem Bilde einer Planetenbahn. Dann lassen sich die Irrwege, auf welche es meistens bald nach jedem bedeutenden Fortschritte geräth, durch Ptolemäische Epicykeln darstellen, nach der Durchlaufung eines jeden von welchen es wieder da ist, wo es vor dem Antritt derselben war. Die großen Köpfe jedoch, welche wirklich auf jener Planetenbahn das Geschlecht weiterführen, machen den jedesmaligen Epicyklus nicht mit. Hieraus erklärt sich, warum der Ruhm bei der Nachwelt meistens durch Verlust des Beifalls der Mitwelt bezahlt wird, und umgekehrt. - Ein solcher Epicyklus ist z.B. die Philosophie Fichte's und Schelling's, zum Schlusse gekrönt durch die Hegel'sche Karikatur derselben. Dieser Epicyklus gieng von der zuletzt durch Kant bis dahin fortgeführten Kreislinie ab, woselbst ich späterhin sie wieder aufgenommen habe, um sie weiter zu führen: in der Zwischenzeit aber durchliefen nun die besagten Scheinphilosophen und noch einige andere daneben ihren Epicyklus, der jetzt nachgerade vollendet ist, wodurch das mit ihnen gelaufene Publikum inne wird, daß es sich eben da findet, von wo es ausgegangen war.

Mit diesem Hergange der Dinge hängt es zusammen, daß wir den wissenschaftlichen, litterarischen und artistischen Zeitgeist ungefähr all 30 Jahre deklarirten Bankrott machen sehn. In solcher Zeit nämlich haben alsdann die jedesmaligen Irrthümer sich so gesteigert, daß sie unter der Last ihrer Absurdität zusammenstürzen, und zugleich hat die Opposition sich an ihnen gestärkt. Nun also schlägt es um: oft aber folgt jetzt ein Irrhtum in entgegengesetzter Richtung. Diesen Gang der Dinge in seiner periodischen Wiederkehr zu zeigen, wäre der rechte pragmatische Stoff der Litteraturgeschichte: aber dieses denkt wenig daran. Zudem sind, wegen der verhältnißmäßigen Kürze solcher Perioden, die Data derselben aus entfernteren Zeiten oft schwer zusammenzubringen: daher man am bequemsten die Sache an seinem eigenen Zeitalter beobachten kann. [...] Dem geschilderten Hergange der menschlichen Fortschritte entsprechend, ist die Litteraturgeschihcte ihrem größten Theile nach, der Katalog eines Kabinetts von Mißgeburten. Der Spiritus, in welchem diese sich am längsten konserviren, ist Schweinsleder. Die wenigen wohlgerathenen Geburten hingegen braucht man nicht dort zu suchen: sie sind am Leben geblieben, und man begegnet ihnen überall in der Welt, wo sie als Unsterbliche, in ewig frischer Jugend einhergehn. Sie allein machen die, im vorigen § bezeichnete, wirkliche Literatur aus, deren personenarme Geschichte wir, von Jugend auf, aus dem Munde aller Gebildeten, und nicht erst aus Kompendien, erlernen. Wohl aber wünschte ich, daß ein Mal Einer eine tragische Litteraturgeschichte versuchte, worin er darstellte, wie die verschiedenen Nationen, deren ja jede ihren allerhöchsten Stolz in die großen Schriftsteller und Künstler, welche sie aufzuweisen hat, setzt, diese während ihres Lebens behandelt haben; worin er also uns jenen endlosen Kampf vor die Augen brächte, den das Gute und Aechte aller Zeiten und Länder gegen das jedes Mal herrschende Verkehrte und Schlechte zu bestehn hat; das Märthyrerthum fast aller wahren Erleuchter der Menschheit, fast aller großen Meister, in jeder Art und Kunst, abschilderte, uns vorführte, wie sie, wenige Ausnahmen abgerechnet, ohne Anerkennung, ohne Antheil, ohne Schüler, in Armuth und Elend sich dahingequält haben, während Ruhm, Ehre und Reichthum den Unwürdigen ihres Faches zu Theil wurden; wie jedoch, bei dem Allen, die Liebe zu ihrer Sache sie aufrecht erhielt; bis denn endlich der schwere Kampf eines solchen Erziehers des Menschengeschlechts vollbrachte war, der unsterbliche Lorbeer ihm winkte und die Stunde schlug, wo es auch für ihn hieß: "Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide, / Kurz ist der Schmerz, unendlich ist die Freude."


Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena. Kleine Philosophische Schriften. Zweiter Band. Zürich: Haffman, 1999. S. 480 bis 486


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