Lesen und Bücher II


von Arthur Schopenhauer

Rezeption des Gelesenen

Es wäre gut Bücher kaufen, wenn man die Zeit, sie zu lesen, mitkaufen könnte, aber man verwechselt meistens den Ankauf der Bücher mit dem Aneignen ihres Inhalts. Zu verlangen, daß einer alles, was er je gelesen, behalten hätte, ist wie verlangen, daß er alles, was er je vergessen hat, noch in sich trüge. Er hat von diesem leiblich, von jenem geistig gelebt und ist geworden, was er ist. Wie aber der Leib das ihm Homogene assimiliert; so wird jeder behalten, was ihn interessiert, das heißt was in sein Gedankensystem sehr oder zu seinem Zwecken paßt. Letztere hat freilich jeder; aber etwas einem Gedankensystem Ähnliches haben gar wenige: daher nehmen sie an nichts ein objektives Interesse, und dieserhalb wieder setzt sich von ihrer Lektüre nichts bei ihnen an: sie behalten nichts davon. Repetitio est mater studiorum.

Jedes irgend wichtige Buch soll man sogleich zweimal lesen, teils weil man die Sache das zweitmal in ihrem Zusammenhang begreift, und den Anfang erst recht versteht, wenn man das Ende kennt; teils weil man zu jeder Stelle das zweitemal eine andere Stimmung und Laune mitbringt als beim ersten, wodurch der Eindruck verschieden ausfällt und es ist, wie wenn man einen Gegenstand in anderer Beleuchtung sieht. Die Werke sind die Quintessenz des Geistes: sie werden daher, auch wenn er der größte ist, stets ungleich gehaltreicher sein als sein Umgang, auch diesen im wesentlichen ersetzen - ja, ihn weit übertreffen und hinter sich lassen. Sogar die Schriften eines mittelmäßigen Kopfes können belehrend, lesenswert und unterhaltend sein, eben weil sie sein Quintessenz sind, das Resultat, die Frucht alles seines Denkens und Studierens; während sein Umgang uns nicht genügen kann. Daher kann man Bücher von Leuten lesen, an deren Umgang man kein Genügen finden würde, und deshalb wieder bringt hohe Geisteskultur uns allmählich dahin, fast nur noch an Büchern, nicht mehr an Menschen Unterhaltung zu finden.


Sich dumm lesen

Wann wir lesen, denkt ein Anderer für uns: wir wiederholen bloß seinen mentalen Proceß. Es ist damit, wie wenn beim Schreibenlernen der Schüler die vom Lehrer mit Bleistift geschriebenen Züge mit der Feder nachzieht. Demnach ist beim Lesen die Arbeit des Denkens uns zum größten Theile abgenommen. Daher die fühlbare Erleichterung, wenn wir von der Beschäftigung mit unsren eigenen Gedanken zum Lesen übergehn. Eben daher kommt es auch, daß wer sehr viel und fast den ganzen Tag liest, dazwischen aber sich in gedankenlosem Zeitvertreibe erholt, die Fähigkeit, selbst zu denken, allmälig verliert, - wie Einer, der immer reitet, zuletzt das Gehn verlernt. Solches aber ist der Fall sehr vieler Gelehrten: sie haben sich dumm gelesen. Denn beständiges, in jedem freien Augenblicke sogleich wieder aufgenommenes Lesen ist nicht geisteslähmender, als beständige Handarbeit, da man bei dieser doch den eigenen Gedanken nachhängen kann.

Aber wie eine Springfeder durch den anhaltenden Druck eines fremdem Körpers ihre Elasticität endlich einbüßt, so der Geist die seine, durch fortwährendes Aufdringen fremder Gedanken. Und wie man durch zu viele Nahrung den Magen verdirbt und dadurch dem ganzen Leibe schadet; so kann man auch durch zu viele Geistesnahrung den Geist überfüllen und ersticken. Denn selbst das Gelesene eignet man sich erst durch späteres Nachdenken darüber an, durch Rumination. Liest man hingegen immerfort, ohne später weiterhin daran zu denken; so faßt es nicht Wurzel und geht meistens verloren. Überhaupt aber geht es mit der geistigen Nahrung nicht anders, als mit der leiblichen: kaum der fünfzigste Teil von dem, was man zu sich nimmt, wird assimiliert: Das Übrige geht durch Evaporation, Respiration, oder sonst ab. Zu diesem Allen kommt, daß zu Papier gebrachte Gedanken überhaupt nichts weiter sind als die Spur eines Fußgängers im Sande: man sieht wohl den Weg, welchen er genommen hat; aber um zu wissen, was er auf dem Wege gesehn, muß man seine eigenen Augen gebrauchen.


Das Schlechte meiden

Ein verschmitzter und schlimmer, aber erklecklicher Streich ist es, der den Literaten, Brotschreibern und Vielschreibern gegen den guten Geschmack und die wahre Bildung des Zeitalters gelungen ist, daß sie es dahin gebracht haben, die gesamte elegante Welt am Leitseile zu führen, in der Art, daß diese abgerichtet worden, a tempo zu lesen. Nämlich alles stets dasselbe, nämlich das Neueste, um, in ihren Zirkeln, einen Stoff zur Konversation daran zu haben: zu diesem Zweck dienen denn schlechte Romane und ähnliche Produktionen aus einem renommierten Federn, wie früher die der Spindler, Bulwer, Eugen Sue u.dgl. Was aber kann elender sein als das Schicksal eines solchen belletristischen Publikums, welches sich verpflichtet hält, allzeit das neueste Geschreibe höchst gewöhnlicher Köpfe, die bloß des Geldes wegen schreiben, daher eben auch stets zahlreich vorhanden sind, zu lesen, und dafür die Werke seltenen und überlegenen Geistes aller Zeiten und Länder bloß dem Namen nach zu kennen! - Besonders ist die belletristische Tagespresse ein schlau ersonnenes Mittel, dem ästhetischen Publiko die Zeit, die es den echten Produktionen der Art, zum Heil seiner Bildung, zuwenden sollte, zu rauben, damit sie den täglichen Stümpereien der Alltagsköpfe zufalle.

Daher ist, in Hinsicht auf unsere Lektüre, die Kunst, nicht zu lesen, höchst wichtig. Sie besteht darin, daß man das, was zu jeder Zeit soeben das größere Publikum beschäftigt, nicht deshalb auch in die Hand nehme, wie etwa politische oder kirchliche Pamphlete, Romane, Poesien u.dgl.m., die gerade eben Lärm machen, wohl gar zu mehreren Auflagen in ihrem ersten und letzten Lebensjahre gelangen: vielmehr denke man alsdann, daß, wer für Narren schreibt, allezeit ein großes Publikum findet, und wende die stets knapp bemessene, dem Lesen bestimmte Zeit ausschließlich den Werken der großen, die übrige Menschheit überragenden Geister aller Zeiten und Völker zu, welche die Stimme des Ruhmes als solche bezeichnet. Nur diese bilden und belehren wirklich. Vom Schlechten kann man nie zu wenig und das Gute nie zu oft lesen: schlechte Bücher sind intellektuelles Gift; sie verderben den Geist. Um das Gute zu lesen, ist eine Bedingung, daß man das Schlechte nicht lese: denn das Leben ist kurz, Zeit und Kräfte beschränkt.


Lektüre der Klassiker

Es gibt doch keine größere Erquickung für den Geist als die Lektüre der alten Klassiker: sobald man irgendeinen von ihnen, und wäre es auch nur auf eine halbe Stunde, in die Hand genommen hat, fühlt man alsbald sich erfrischt, erleichtert, gereinigt, gehoben und gestärkt; nicht anders, als hätte man an der frischen Felsenquelle sich gelabt. Liegt dies an den alten Sprachen und ihrer Vollkommenheit? Oder an der Größe der Geister, deren Werke von den Jahrtausenden unversehrt und undgeschwächt bleiben? Vielleicht an beidem zusammen.


Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena. Kleine Philosophische Schriften. Zweiter Band. Zürich: Haffmans, 1999


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