Herr Bibli


von Alfons Schweiggert

Er konnte zwar noch nicht lesen, aber er imitierte das Lesen, schlug die Bilder- und Geschichtenbücher feierlich auf, hielt sie in der richtigen Entfernung von sich, bohrte seine Blicke mit Interesse in die schwarzen Schriftzeichen und erholte sich von den anstrengenden Entzifferungsbemühungen, indem er sich lange alle Bilder ansah. Bald gelang es ihm auch, die ersten Worte zu lesen, wie Hut, Lob, Buch. Dies steigerte natürlich seine Begeisterung für Bücher. Die Bemühungen um die Enträtselung der Schriftbilder galten ihm als Spiel. Er berührte gern das Papier der Buchseiten, fühlte seine Glätte und Stärke. Er roch das Holz aus den Blättern, vermischt mit dem Kleister der Bindung und der Druckerschwärze der Buchstaben, und er saugte die Mischung dieser Düfte genießerisch ein. Er hatte Spaß am Gewicht der Bücher, an den leichten, dünnen, mehr noch aber an den schweren, dickleibigen, die er kaum zu halten und zu tragen vermochte. Besonders aber war er in die Schriftzeichen verliebt, die rußschwarz auf das Papier gebannt waren.

Der Umgang mit den Büchern versetzte Bibli bisweilen in eine Erregung, die sich zusammensetzte aus der Neugier und dem Drang, alle Zeichen zu begreifen, und aus der Enttäuschung, dies alleine noch nicht bewältigen zu können. War diese Spannung am Höhepunkt angelangt, stützte er mit dem Buch zu seiner Mutter und gab nicht eher Ruhe, als bis sie ihm die aufgeschlagene Geschichte vorlas, wobei er sich eng an sie schmiegte, um über den Kontakt mit der Vorleserin möglichst eins zu werden mit dem Buch. Rätselhaft war ihm dabei immer, daß alle Geschichten, sooft sie ihm seine Mutter auch vorlas, gleich blieben und kein Wort sich änderte, mochte auch lange Zeit zwischen den beiden Lesungen vergangen sein. Bald war ihm klar, daß die Wörter die Macht besaßen. die Geschichten in den Büchern festzunageln. Solange sie sich nicht veränderten - und das taten sie nicht -, konnten auch die Geschichten das Buch nicht verlassen, es sei denn durch das Vorlesen, wobei er ihnen durch sein Zuhören Einlaß in seinen Kopf gewährte, wo sie sich festsetzten und ihm nicht mehr aus dem Sinn gingen.

Erstaunlich schnell vervollkommnete Bibli seine Lesefertigkeit und tastete sich von den Dreibuchstabenwörtern über die längeren bis zu den gewaltigen Wortgebilden vor, deren Entzifferung ihm immer weniger Mühe bereitete und ihn die Tore zu neuen und spannenden Abenteuern immer leichter durchschreiten und bald schon durcheilen ließ. Mit zunehmendem Alter empfand er auch die magische Kraft der Wörter stärker, vergaß manchmal, daß er ein Buch in den Händen hielt, lebte in der Geschichte, wurde zu einem Teil von ihr und erwachte wie aus einem Traum, wenn er es nach der letzten Seite schloß. Dann hielt er nichts als ein Buch, einen Stapel von beschnittenen Blättern aus bedrucktem Papier, der zwischen zwei Buchdeckeln festgehalten war. Er blätterte ihn auf, sprach sich einige der Wörter auf den Seiten laut vor und war enttäuscht von ihrer Kraftlosigkeit. Doch kaum waren sie in einer entsprechenden Reihenfolge angeordnet, formten sich Sätze, Abschnitte, Kapitel und ließen eine Welt entstehen, die seinen Kopf zu erhitzen vermochte, weil er alles genau sah, hörte, fühlte, spürte und erlebte.

Zwar schien Bibli den Ablauf des Lesens zu durchschauen, aber wenn er ein neues Buch aufschlug und auf der ersten Seiten die ersten Worte zu lesen begann, die seine Gedanken zu den nächsten Worten weiterreichten und ihn mit Neugier, Scheu und Vorfreude erfüllten, vergaß er, daß er las. Auch vor jenen Büchern hatte er Achtung, die ihn enttäuschten oder verärgerten, von deren Versprechungen er sich hinters Licht geführt fühlte und die er nicht in seinen Freundeskreis aufnahm. Aber um den Wert eines Buches zu erkennen, mußte er es kennenlernen. Und manches, das ihn bei der ersten Begegnung nicht ansprach, das er zunächst nicht lesen wollte, hatte ihn im Laufe der Lektüre derart überzeugt, daß es in der Folge zum Kreis seiner engsten Freunde zählte. Unaufhaltsam wurde Lesen für Bibli zu einer täglichen Gewohnheit, mehr noch: zu einem Bedürfnis, ohne dessen regelmäßige Befriedigung er sich sein Leben nicht mehr vorstellen konnte. Lesen war an allen Orten möglich, im Zimmer, in einem Baumhaus, auf der Wiese, am Ufer eines Sees, auf dem Speicher - auch auf dem Friedhof zu lesen reizte ihn.

Es war nie ein lautloses Geschehen. Die Nebengeräusche mußten zum Inhalt des Buches passen, so einmal Vogelgezwitscher oder das Tropfen eines Wasserhahns, dann wieder Windgeräusche, das Gewirr von Menschenstimmen, häufig auch leise Musik im Radio. Bibli hatte sich auch schon zu allen Tageszeiten in Bücher vertieft, nicht nur nachts im Bett, während ihm vor Müdigkeit fast die Augen zufielen. Er las abends in der Badewanne, morgens beim Frühstück, am Vormittag in der S-Bahn, während des Abendessens oder nachmittags im Wartezimmer eines Arztes. Frühzeitig wurde ihm von verschiedenen Seiten, von Eltern, Lehrern, Kameraden bestätigt, er sei ein Bücherwurm, eine Leseratte, ein Geschichtenfresser. Diese Titel hatte er nie als Beleidigung empfunden, im Gegenteil, sie hatten sein Vergnügen an Büchern noch gesteigert. Nach der Lehr- und Gesellenzeit des Lesens entwickelte sich Bibli zum Meister, nicht ernannt und offiziell anerkannt, wie dies am Höhepunkt der Berufslaufbahn zu geschehen pflegt, sondern Bibli wußte eines Tages, daß ihm beim Lesen kaum noch jemand neue Impulse zu geben vermochte, es sei denn, es handelte sich um ein neues Buch.

Ganz gleich, in welcher Situation sich Bibli befand, ob in euphorischer oder depressiver Stimmung, ob in einer schwierigen Lage oder in einer gelockerten Atmosphäre, zu jeder Zeit war es ihm möglich, nach einem Buch zu greifen und durch die Lektüre den augenblicklichen Zustand, sofern es sich um einen positiven handelte, noch zu intensivieren oder aber, in einer negativen Phase, deren Auswirkungen weitgehend abzuschwächen oder sogar in konstruktiven Bahnen zu lenken. Herr Bibli hatte nach und nach einen Schutzwall von Büchern um sich errichtet, sich mit dichtgefüllten Regalen gegen Lärm und andere Unzulänglichkeiten der Außenwelt abgeschirmt. Allein der Anblick der Buchrücken hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn und befriedigte wie ein gelungenes Kunstwerk sein ästhetisches Empfinden. Beinhae täglich sorgte er dafür, seine Sammlung zu erweitern, bisweilen auch umzuordnen, was ihm stets tiefe Zufriedenheit gab.


© Alfons Schweiggert: Das Buch. München: Ehrenwirth, 1989. 128 S. ISBN: 3-431-03059-9


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