Das Ding an sich

Warum ein Leben ohne Bücher kein Leben ist


von John Updike

Wenn die Experten – vielleicht sollte man sie "E-xperten" nennen – Recht behalten, wird das gedruckte und gebundene Buch, dieses physische Objekt aus Papier und Leim, bald ausgedient haben und durch elektronische Textübermittlungssysteme ersetzt werden, die, wie der Microsoft Reader, schon auf dem Markt sind und so genannte "Bücher" in einem Taschen-PC von Hewlett-Packard einspeisen. Unmöglich ist das nicht; schon heute hat sich ein großer Teil der schriftlichen Kommunikation, die früher über Briefe, Zeitungen und Zeitschriften transportiert wurde, auf den Computerbildschirm und in die grenzenlose digitale Bibliothek des Internet verlagert. Aber wenn es wirklich zum Äußersten kommt und das Buch eines Tages ebenso verschwunden sein wird wie die Papyrusrolle und der Pergamentcodex, werden wir, wie ich zu prophezeien wage, das eine oder andere an ihm vermissen.Das Buch als Möbel. Regalreihen voller Bücher machen das ödeste Zimmer hell und freundlich. Verstreut herumliegende Bücher zeugen von geistigen Prozessen, die im Gange sind – Lektüre im Akt des Vollzugs, unterbrochen, aber jederzeit fortsetzbar, morgen oder in einem Jahr. Das Buch auf dem Nachttisch oder neben dem Liegestuhl verheißt einen gemütlichen, geschwinden, stillen Ausflug aus dieser Welt in eine andere – und als Energiequelle genügt das unentgeltliche, kaum wahrnehmbare Knistern der kleinen grauen Gehirnzellen. Was die Bequemlichkeit des Zugriffs und die Geschwindigkeit des Ladens betrifft, ist das Buch kaum zu schlagen.Das Buch als sinnliches Vergnügen. Das normale Durchschnittsbuch, kleiner als ein Brotkasten und größer als eine Fernbedienung, schmiegt sich verführerisch in die Hand, schmeichelt ihr mit seiner Oberfläche; mag es Pappe, Laminat oder Leinwand sein. Stundenlang ruht es drucklos auf dem kleinen Finger der rechten Hand, während der Daumen dieser Hand es offen hält und die Finger der anderen die Seite umblättern. Der rechteckige Satzblock, Resultat der Buchdruckerkunst eines halben Jahrtausends, wird von uns so mühelos entziffert, dass es für uns kaum einen Unterschied ausmacht, ob wir in eine imaginäre Welt eintauchen oder die Möbel in unserem Zimmer mustern.

Übergewicht

In diesen letzten, kummervollen Jahrzehnten im Leben des Buches hat der Zwang zur imposanten buchhändlerischen "Präsentation" zu übergewichtigen Schmökern geführt, die mit ihrer Seiten- und Schriftgröße weit über das organische Ideal hinausgehen und außerdem den besagten kleinen Finger schmerzhaft belasten. Vielleicht hat die Papierknappheit des Zweiten Weltkriegs das ästhetische Gewissen der Buchhersteller irritiert; die Bücher der zwanziger und dreißiger Jahre sind jedenfalls die einladendsten, mit ihrem handlichen Format, den großzügigen Rändern und den prägnanten Schriften. Aber selbst das lustlos entworfene Buch ist noch ein angenehmerer Begleiter als ein brummender, vollgekabelter Laptop. Das Buch als Erinnerungsstück. Schließlich ist die Büchersammlung ein Abbild dessen, was ihr Besitzer im Kopf hat. Bücher, die man als Kind, als sehnsuchtsvoller Jüngling, in der Studienzeit und in den ersten, befangenen Jahren des Erwachsenenalters gelesen hat, reisen oft mit ihrem Leser mit und begleiten ihn auf jedem Umzug. Ich entsinne mich noch der College-Texte meiner Mutter, die einst in unserer ländlichen Wohnung unberührt in einer Ecke des Bücherschranks lagen und die Freuden der Renaissancedichtung und der griechischen Tragödie verströmten, während sie langsam von Silberfischen durchlöchert wurden. Meine eigenen College-Bücher sind noch fast vollzählig bei mir. Selten konsultiert, aber immer vorhanden, erinnern sie an Momente, an die Orte an einem Lebensweg. Die Jahrzehnte seither haben neue Bände herangespült und aufgeschichtet, gelesene, halb gelesene, noch zu lesende. An Büchern haftet wehmütig der Duft ihrer ersten Lektüre – dieser Strand, jene Wohnung, dieser Anfall von Diphtherie, jener Flug nach Indonesien.

Ein Turm, kein Kabel

Ohne die physische Zeugenschaft der Bücher wäre mein Leben unwirklicher; so aber stapeln sie sich um mich herum, sind sogar übermannshoch aufgetürmt – nicht nur Ausläufer meiner Vergangenheit, ihre Fundamente sind fest verankert in meinen gesammelten naiven Randbemerkungen, sondern auch Griff zu den Wolken eines edlen Strebens: Bücher, die, schwer wie süße, ungeerntete Reben, darauf warten, gelesen, mit einem plötzlichen Griff heruntergeholt zu werden, dass der Staub der Jahre von ihnen abfällt und endlich ihr Augenblick des Triumphes gekommen ist, da ich sie nehme und mich in sie versenke. Solche Bücher sind das Unterpfand einer unendlichen Zukunft, so wie ihre Brüder, die schon gelesenen, aber größtenteils vergessenen, die unerschöpfliche Quelle für eine potenzielle neue Lektüre, für neue Blickwinkel und Einsichten auf ein Gelände, auf dem wir keine bleibende Spur hinterlassen haben. Bücher stülpen unser Gehirn nach außen und machen aus unseren Wohnungen denkende Wesen.Bücher als Ballast: Wer umzieht, weiß es, und sein Hausrat weiß es auch: Bücher sind schwere Fracht, das Gewicht von Kühlschränken und Sitzgarnituren, verteilt auf Pappkartons. Sie bewirken, dass wir uns jeden Wohnungswechsel gut überlegen. Wie viele alte Ehepaare sind wohl in ihrem Haus geblieben, nur weil sie nicht wussten, wohin mit den Büchern? Wie viele Scheidungen wurden nicht ausgesprochen aufgrund der Liebe zur gemeinsam aufgebauten Bibliothek? Bücher verleihen dem Lebensschiff Tiefgang; sie wirken als Gegengewicht zu unserer launischen, flatterhaften Natur. Dagegen fehlt es dem elektronischen Textübermittlungsgerät an Substanz. Und was das Veraltetsein betrifft: Ein derartiges Gerät wäre nach einem Jahr überholt und nach 15 Jahren so unbrauchbar wie mein alter, braver Wang-Computer aus den achtziger Jahren. Elektronik ist gleichbedeutend mit Immaterialität – der Ariel unseres irdischen Caliban. Ohne Bücher zerschmölzen wir in Luft und wären nichts als ein weiteres System elektronischer Impulse.


© John Updike
© Süddeutsche Zeitung, 26.7.00


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