Imaginäre Bücher


von Thomas Wharton

"Mit der Idee Eures alam, Mr. Flood, seid Ihr ein Mitglied der ältesten Lesegesellschaft der Welt geworden. Sie besteht seit Jahrhunderten, unter zahllosen Namen und in jedem Teil der Welt. Eine Gesellschaft, die von fabelhaften, unmöglichen, imaginären Büchern träumt. Habt Ihr schon einmal vom achtundneunzigsten Band der Geschichte des Schweigens gehört?" "Nein." "Es gibt noch viele andere, doch ich selbst habe nur von wenigen gehört und noch weniger selbst gelesen. Das Buch vom Wasser; Ein universelles Chronoptikon; Der Almanach der Sehnsucht; Das Listenbuch der zehntausend Dinge. Das alles sind Bücher, die sich die Gesellschaft vorgestellt hat, und manche davon sind Papier und Tinte geworden, obwohl sie nur als ungenaue Träume begonnen haben." "Das habe ich auch schon gemacht", warf Pica ein. "Bevor ich ein Buch aufschlage, stelle ich mir manchmal vor, es sei ein anderes Buch." Flood starrte sie an. "Danke, Gräfin", sagte Kirshner. "Mit den Jahren habe ich begriffen, daß ein Buch selbst es begehrt, zu sein. Träumt von einem Buch, und ganz gleich wie außergewöhnlich oder unwahrscheinlich es in Eurer Vorstellung ist, es wird einen Weg finden, um zu existieren, und wenn es tausend Jahre darauf warten muß."

Ein Windstoß fuhr durch die Baumwipfel und erstarb wieder. "Vor zwölf Jahren habe ich wieder begonnen, über die Unendlichkeit nachzudenken", sagte Kirshner. "Und über Bücher." Er hob ein grünes Tuch an, das auf dem Tisch lag, und enthüllte einen eisernen Setzrahmen, ungefähr so groß wie ein großer Folioband, der bereits mit Lettern gefüllt war. "Da ist noch eine leere Stelle", sagte Pica. "Dort, in der Mitte." Kirshner nickte. "Ihr seid eine aufmerksame Beobachterin. ich habe eine Letter ausgelassen." Er zog eine Schublade im Setzschrank auf, holte eine einzelne Schriftgarnitur heraus und ließ in das winzige, viereckige Loch in der Form fallen. Als er alle Schließkeile an den Kanten des Eisenrahmens befestigt hatte, hielt er eine Hand direkt darüber, wobei seine Finger zitterten. "Wie Ihr, Mr. Flood, habe ich jahrelang nicht gewußt, daß es so eine Gesellschaft überhaupt gibt. Jedenfalls nicht, bis ich begonnen habe, für Euch hieran zu arbeiten. Wofür ich früher, als ich noch jung und mit Augenlicht gesegnet war, lediglich Tage gebraucht hätte, kostete mich jetzt eine sehr lange Zeit."

Er schob den Setzrahmen über den Tisch, und Flood sah, anstelle der erwarteten Kolumnen, eine glatte, solide Metallplatte. "Ich habe es immer faszinierend gefunden", sagte Kishner, "daß ein Alphabet zugleich das dauerhafteste und vergänglichste Element auf der Welt ist. In der Sprache meines Volkes besteht das Alphabet aus zweiundzwanzig Buchstaben. Zweiundzwanzig Flüsse, zweiundzwanzig Brücken." Er lächelte Pica zu und wies auf den Setzrahmen. "Wenn Ihr jetzt leicht über die Form blasen würdet." Sie beugte sich über den Setzrahmen und blies sanft darüber. Auf einmal erhoben sich Buchstaben aus dem Metall, bis schließlich die vollständige Druckform wieder vorhanden war. Pica lachte. "Gänsehautsatz", sagte sie. "In meinem Tagebuch habe ich diesen Satz als Kirshner galliard roman siebenunddreißig notiert, aber Euer Vorschlag gefällt mir viel besser. Gänsehautsatz soll er heißen." Flood konnte seine Augen nicht von den Lettern abwenden, die vor ihm lagen. Es war noch keine Tinte darübergegeben worden, und sie schienen in der Sonne zu lodern, so daß er sie nicht lesen konnte. Der Metallurg strich leicht mit der Hand über den erhabenen Satz, und die Lettern stiegen und fielen wie eine Quecksilbersäule. Form um Form tauchte auf und verschwand, so als würden in den Tiefen des Metalls Seiten umgeblättert. "Ist das nur Zufall?" fragte Flood. "Oder gibt es irgendeine Ordnung...?"

"Die gleiche Frage könntet Ihr über das Universum stellen" erwiderte Kirshner. "Was auch immer die Unendlichkeit sein mag, sie ist großzügig." Wie verzaubert sah Flood ihm zu, wobei er an das Buch dachte, das er für Irena gedruckt hatte. Verlangen. Ihr Name, der darin versteckt war wie diese Buchstaben, die aus dem Metall aufstiegen. "Die einzelne Teile sind zerbrechlicher, wenn sie nicht miteinander verbunden sind", sagte Kirshner. Und während sie gebannt zusahen, verwandelte sich der Satz wieder in einen gewöhnlichen, bewegungslosen Textblock. "Geht vorsichtig damit um. Wie ich festgestellt habe, sind sie ein wenig flüchtig." Er streckte die Hände aus, und Flood sah, daß in seine Fingerspitzen hebräische Schriftzeichen eingebrannt waren. "Das Safirot. Wesentliche Bestandteile der Metallegierung. Ich hätte mehr Zeit und Sorgfalt darauf verwenden sollen, es zu verstehen. Aber sie haben mir viel beigebracht. Wir stellen uns die Welt gefüllt vor. Voller Dinge, Phänomene, wie ein riesiges Zimmer voller Objekte, fest und unvergänglich. Sieht man sie jedoch im Licht des Sefirot, dann ist die Welt auf einmal unbeständig, illusorisch, hauptsächlich leerer Raum, den erst der Verstand möbliert." Kirshner schloß den Setzrahmen mit dem Schließkeil auf und schob die kleinen Metallettern heraus. "Wenn das die Natur der Welt ist, dann sind imaginäre Bücher keine absurden Träume, sondern Zeichen der Realität." Er hob den Deckel des Setzkastens und ordnete die Lettern mit methodischer Sorgfalt wieder in ihre Fächer. Eine Libelle schwirrte vorbei und verschwand in einem Beet voller Stockrosen. Als Kirshner fertig war, schloß er den Deckel und schob den Kasten über den Tisch zu Flood hinüber. "Meine Arbeit ist beendet Jetzt liegt es an jemand anderem herauszufinden, was daraus gemacht werden kann. (S. 166f)


Er ergriff das Buch, um es unter die Preßbretter zu legen, drehte es einen Moment lang in der Hand und reichte es ihr dann. "Mein Vater pflegte zu sagen: Mach etwas Schönes, aber denk daran, es geht nicht nur um den Gegenstand selbst. Erst wenn ein Leser das Buch in der Hand hält, ist das Werk vollendet." Pica nahm das Buch entgegen. Der Einband schien in ihrer Hand zu atmen wie ein lebendiges Wesen. "Es ist ganz warm", sagte sie . "Der Leim." Flood nickte. "Es kühlt noch ab." Sie wollte das Buch aufschlagen, legte es aber dann auf den Tisch zurück. "Du hast dir soviel Arbeit gemacht. Solltest du nicht..." "Dieses Buch ist nicht wie die anderen. Ich habe es zwar gedruckt, doch hat es sich irgendwie selber gemacht, aus allem, was uns widerfahren ist. Was wir gewesen sind und sein werden. Auch das Verborgene und Verlorene. Das bedeutet, daß es auch dein Buch ist. Vielleicht sogar mehr deines als meines." "Wie könnte es das sein? Es gehört dir." "Ich habe dabei an die Geschichte gedacht, die du mir vor kurzem erzählt hast", sagte er. "Über dein Leben in Venedig."

"Ich habe sie gar nicht richtig erzählt", erwiderte sie mit verlegenem Achselzucken. "Jedenfalls nicht so, wie ich es wollte. Ich habe nicht die richtigen Worte gefunden." "Du hast versucht, alles zu erzählen. Alles, was für dich wichtig war, was du warst. Erinnerst du dich noch, was Samuel Kirshner über die Bücher gesagt hat, die entstehen, wenn jemand sie träumt?" "Ja." "Vielleicht wird dies hier so ein Buch für dich. Ich kann dir nicht mit Sicherheit sagen, was du findest, wenn du es aufschlägst. Aber es wird dich zweifellos verzaubern, dir Rätsel aufgeben, dich sogar in die Irre führen. Wohin dich das Buch auch trägt, Pica, denk an den Weg, der dorthin geführt hat, und du wirst wissen, wohin du gehen mußt." Er legte das Buch zwischen die schweren Preßbretter und band sie mit Schnur zusammen. Sie war jetzt müde, und ihr war kalt, also stand sie auf, um zu gehen. Auf der Treppe blieb sie noch einmal stehen und sah ihm zu, wie er aufräumte. Methodisch säuberte er seine Werkzeuge und legte sie weg, als sei dies ein Arbeitstag wie jeder andere gewesen. (S. 296f.)


Wharton, Thomas: Salamander. München: dtv, 2003. 356 S. ISBN: 3-423-24350-3


[Fundstücke]  [LB-Startseite]  [E-Mail]