Der Gute Leser


von Hans Wollschläger

Mit nichts muß der Gute Leser so geizen und haushalten wie mit seinen Lesestunden. Sie sind, selbst wenn ihm nicht durch einen verödenden Ernährungsberuf die meisten Lebensstunden überhaupt gestohlen bleiben, ganz überaus begrenzt; ja, man fürchtet sich fast, einmal ganz genau hinzusehen, wie begrenzt sie sind. Es hilft aber nichts; wir müssen auch das hier tun. Goethe las im Alter - mit derjenigen hochtrainierten Technik des diagonalen Aufnehmens, die man sich durch lebenslanges Lesen erwerben kann - täglich zwei Oktavbändchen -: wir wollen ihn als unerreichbare Ausnahme auch hier gelten lassen und für den Guten Leser eins pro Tag ansetzen - und ihm auch gern noch einen Pflichtrabatt einräumen, nämlich die Sonn- und Feiertage: da schafft er denn rund 300 im Jahr. Und schon zieht sich die ihm lebensmögliche Zahl wie eine finstere Wolke zusammen: bei einem 50- jährigen Leserleben (auch der Gute Leser soll ein paar Jugendjahre geschenkt bekommen, damit er in Ruhe die unerläßlichen Dummheiten machen kann) - bei einem 50-jährigen Leserleben also hat er die Chance, grad mal 15.000 Bücher zu erblicken:

- das ist nicht mehr als der Bestand so mancher privater Leser- Bibliothek, z. B. meiner hier, deren Kleinheit und Enge mich alle Wochen neu bedrückt, und es ist, verglichen mit der Zahl der Fixsterne [gemeint sind grosso modo die Klassiker], zum Erschrecken wenig. Denn schon die Literatur der eigenen Sprache nimmt diese 15.000 ja voll in Anspruch: - was tut man mit den großen umliegenden Literaturen, ja mit den fernliegenden? Der Weltgeist hat sich in den vier Millennien seit dem Enuma elisch in Quantitäten verwirklicht, die selbst von einem exzessiven, monomanischen Leserleben nicht mehr zu fassen sind; man muß sich einschränken, prinzipiell und immer mehr: - wehe, ich werde in die Grube fahren, ohne etwa von der chinesischen Literatur viel mehr zu wissen, als der Chinese von der deutschen weiß: daß nämlich W. v. Eschenbach, P. Handke und H. Heine darin angesehene Namen sind! Arno Schmidt hat mit seinen gelegentlichen Seufzern, daß bald mehr Bücher in der Welt sein werden als Augen, sie zu lesen, denn auch gar nicht das allgemeine Übel gemeint, sondern das spezielle: es sind in der Welt längst mehr große Gute Bücher als Augen Guter Leser! (Hans Wollschläger: Von Sternen und Schnuppen I, 27 f.)


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