Bücherlesen und Bücherbesitzen


von Hermann Hesse

Daß jedes Stück bedruckten Papiers einen Wert darstellt, daß alles Gedruckte geistiger Arbeit entspringt und Respekt verdient, ist bei uns eine veraltete Anschauung. Nur selten findet man noch am Meer oder hoch oben in den Bergen vereinzelte Menschen, deren Leben von der Papierflut noch nicht erreicht worden ist und denen Kalender, ein Traktätlein, ja eine Zeitung wertvolle und des Aufbewahrens würdige Besitztümer sind. Wir sind gewohnt, unentgeltlich eine Menge Drucksachen ins Haus zu bekommen und lächeln über den Chinesen, dem alles Beschriebene oder bedruckte Papier heilig ist.

Trotzdem ist die Hochachtung vor dem Buch geblieben. Erst ganz neuerdings werden gratis Bücher verteilt und beginnt da und dort das Buch zur Schleuderware zu werden. Im übrigen scheint gerade in Deutschland die Freude am Besitz von Büchern im Wachsen begriffen zu sein. Freilich, am Verständnis für Bücherbesitz im rechten Sinn fehlt es noch sehr. Unzählige scheune sich, für Bücher auch nur den zehnten Teil dessen zu geben, was sie für Bier und Tingeltangel übrig haben, und für andere, altmodischere Leute ist das Buch ein Heiligtum, das in der guten Stube auf der Plüschdecke verstaubt.

Im Grunde ist jeder rechte Leser auch ein Bücherfreund. Denn wer ein Buch mit dem Herzen aufzunehmen und liebzuhaben weiß, will es womöglich auch eigen haben, wieder lesen, besitzen, immer in der Nähe und erreichbar wissen. Ein Buch entlehnen, durchlesen und zurückgeben ist eine einfache Sache, meistens geht das Gelesene kaum minder rasch verloren, als daß Buch aus dem Hause verschwindet. Es gibt ja Leser, die täglich einen Band verschlingen mögen, nemnetlich unter beschäftigungslosen Frauen, und für die bleibt am Ende die Leihbibliothek die richtige Quelle, da sie doch nicht Schätze sammeln, Freunde gewinnen und ihr Leben reicher machen, sondern eben nur ein Gelüst befriedigen wollen. Diese Gattung von Lesern, von denen Gottfried Keller einmal ein gutes Bild gezeichnet hat, muß ihrem Laster überlassen bleiben.

Ein Buch lesen, heißt für den guten Leser, eines fremdem Menschen Wesen und Denkart kennenlernen, ihn zu verstehen suchen, ihn womöglich zum Freund gewinnen. Besonders beim Lesen der Dichter ist es ja nicht nur der kleine Kreis von Personen und Begebnissen, den wir kennenlernen, sondern vor allem der Dichter, seine Art zu leben und zu sehen, sein Temperament, sein inneres Aussehen, schließlich noch seine Handschrift, seine künstlerischen Mittel, der Rhythmus seiner Gedanken und Sprache. Wen nun ein Buch irgendwie fesselt hat, wer den Autor zu kennen und zu verstehen beginnt, wer ein Verhätnis zu ihm gewann, für den fängt erst jetzt die rechte Wirkung des Buches an. Er wird es darum nicht weggeben und vergessen, sondern behalten, dass heißt kaufen, um nach Bedürfnis wieder darin zu lesen und zu leben. Wer so kauft, wer sich jeweils nur die Bücher erwirbtm, deren Ton und Seele ihm einmal das Herz bewegt hat, der wird bald nicht mehr wahllos und ziellos Lektüre verschlingen, sondern mit der Zeit einen Kreis lieber, ihm wertvoller Werke um sich sammeln, in dem er Freude und Erkenntnis findet und der unter allen Umständen wertvoller ist, als ein unberatenes, zufälliges Durcheinanderlesen alles dessen, was ihm in die Hände kommt.

Es gibt keine tausend oder hundert "besten Bücher", es gibt für jeden einzelnen Menschen eine besondere Auswahl dessen, was ihm verwandt und verständlich, lieb und wertvoll ist. Darum kann eine Gute Bibliothek nicht auf Bestellung geschaffen werden, es muß jeder seinem Bedürfnis und seiner Liebe folgen und sich selber allmählich eine Büchersammlung erwerben, genau so wie er sich Freunde erwirbt. Dann kann eine kleine Sammlung ihm wohl die Welt bedeuten. Es waren immer gerade die guten Leser, deren Bedürfnis sich auf sehr wenige Bücher beschränkte und manchen Bauersfrau, die nur die Bibel besitzt und kennt, hat aus ihr mehr herausgelesen und mehr Wissen, Trost und Freude geschöpft, als irgendein verwöhnter Reicher je aus seiner kostbaren Bibliothek holen kann.

Es ist eine geheimnisvolle Sache mit der Wirkung von Büchern. Jeder Vater oder Erzieher kennt die Erfahrung, daß er einem Knaben oder Jüngling zur rechten Zeit ein recht gutes und feines Buch in die Hand zu geben meinte, um dann zu sehen, daß es doch verfehlt war Es muß eben jeder, ob alt oder jung, seinen eigenen Weg in die Bücherwelt finden, wenn auch Beratung und freundliche Überwachung manches vermag. Mancher fühlt sich schon früh bei den Dichtern heimisch, indessen andere lange Jahre brauchen, bis sie erfahren, wie süß und wunderlich es ist, solche Dinge zu lesen. Man kann bei Homer anfangen und bei Dostojewski aufhören oder umgekehrt, man kann mit den Dichtern aufwachsen und am Ende zu den Philosophen übergehen oder umgekehrt, da gibt es hundert Wege, Es gibt aber nur ein Gesetz und einen einzigen Weg, sich zu bilden und geistig durch Bücher zu wachsen, das ist die Achtung vor dem, was man liest, die Geduld des Verstehenswollen, die Bescheidenheit des Geltenlassens und Anhörens. Wer nur zum Zeitvertreib liest, und sei es noch so viel und sei es das Beste, der wird lesen und vergessen und nachher so arm sein wie zuvor. Wer aber Bücher liest wie man Freunde anhört, dem werden sie sich erschließen und zu eigen werden. Was er liest, wird nicht verfließen und verloren sein, sondern bei ihm bleiben und ihm angehören und ihn freuen und trösten, wie es nur Freunde können. [gekürzte Fassung]


Hermann Hesse: Die Welt der Bücher. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1977. S. 54-56


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