Lieblingslektüre


von Hermann Hesse

Unendlich viele Male ist mir die Frage gestellt worden: "Was lesen Sie am liebsten?" Die Frage ist für einen Freund der Weltliteratur schwer zu beantworten. Ich habe manches Tehntausend Bücher gelesen, manchen davon mehrere Male, einige davon viele Male, und ich bin grundsätzlich dagegen, aus meiner Bibliothek und aus dem Kreis meiner Teilnahme oder doch meines Interesses irgendwelche Literaturen, Schulen oder Autoren auszuschließen. Und doch ist die Frage berechtigt und ist auch einigermaßen beantwortbar. Es kann jemand ein dankbarer Allesfresser sein und vom Schwarzbrot bis zum Rehrücken, von der Karotte bis zur Forelle nichts verschmähen, und dennoch seine drei, vier Lieblingsspeisen haben. Und es kann jemand, so oft er an Musik denkt, vor allem Bach, Händel und Gluck meinen, ohne daß er darum auf Schubert oder auf Strawinski verzichten möchte. So stoße ich, wenn ich genau zusehe, bei jeder Literatur auf Gebiete, Zeiten, Tonarten, die mir näher liegen und lieber sind als andere: bei den Griechen beispielsweise liegt Homer mir näher als die Tragiker, Herodot näher als Thukydides. Auch ist, wie ich mir eingestehen muß, mein Verhältnis zu allen Pathetikern nicht ganz natürlich und macht mir etwas Mühe; ich liebe sie im Grunde nicht, und meine Hochachtung für sie ist nicht frei vom Zwang, gehe es nun um Dante oder Hebbel, um Schiller oder Stefan George.

Jene Gegenden der Weltliteratur, die ich am häufigsten in meinem Leben aufgesucht habe und die ich wohl auch am besten kennengelernt habe, ist jenes heute scheinbar so unendlich fern gerückte, ja zur Sage gewordene Deutschland des Jahrhundert zwischen 1750 und 1850, jenes Deutschland, dessen Mittelpunkt und Gipfel Goethe ist. Zu diesem Gebiete, wo ich vor Enttäuschungen ebenso sicher bin wie vor Sensationen, kehre ich von allen Ausflügen ins Älteste und Fernste immer wieder zurück, zu jenen Dichtern, Briefschreibern und Biographen, welche alle gute Humanisten sind und doch beinahe alle den Duft des Bodens, des Volkshaften haben. Besonders unmittelbar sprechen natürlich jene Bücher mich an, in welchen Landschaft, Volkstum und Sprache mir vertraut und von Kind an heimatlich sind, hier genieße ich beim Lesen jenes besondere Glück, auch die zarteste Nuance, auch die versteckteste Anspielung, den leistesten Klang zu verstehen; die Rückkehr von einem solchen Buche zu einem, das ich in Übersetzung lesen muß, oder zu einem, das diese organische, echte, gewachsene Sprache und Musik überhaupt nicht hat, kostet mich jedesmal einen Ruck und eine kleine Pein. Vor allem ist es natürlich das Deutsch des Südwestens, das Alemannische und das Schwäbische, bei dem ich dieses Glück genieße, ich brauche nur Mörike oder Hebel zu nennen, aber es blüht mir bei fast allen deutschen und Schweizer Dichtern jener gesegneten Zeit, vom jungen Goethe bis zu Stifter, von "Heinrich Stillings Jugend" bis zu Immermann und Droste-Hülshoff, und daß weitaus die Mehrzahl dieser herrlichen und liebenswerten Bücher heute nur noch in einer beschränkten Zahl von Bibliothek, öffentlichen oder privaten, existiert, gehört für mich zu den störendsten und häßlichsten Symptomen unserer schrecklichen Epoche.

Aber Blut, Boden und Muttersprache sind nicht alles, auch nicht in der Literatur, es gibt darüber hinaus die Menschheit, und es gibt die immer wieder erstaunliche und beglückende Möglichkeit, im Entferntesten und Fremdesten Heimat zu entdecken, das scheinbar Verschlossenste und Unzugänglichste zu lieben und sich damit vertraut zu machen. Das hat sich mir in der ersten Hälfte meines Lebens an den Zeugnissen des indischen und später an denen des chinesischen Geistes erwiesen. Zu den Indern gab es für mich wenigstens Wege und Vorbestimmungen, meine Eltern und Großeltern waren in Indien gewesen, haten indische Sprachen gelernt und etwas vom Geist Indiens gekostet. Aber daß es eine wunderbare chinesische Literatur und eine chinesische Spezialität von Menschentum und Menschengeist gebe, die mir nicht nur lieb und teuer werden, sondern weit darüber hinaus eine geistige Zuflucht und zweite Heimat werden könnten, davon hatte ich bis über mein dreißigstes Jahr hinaus nichts geahnt. Aber dann geschah das Unerwartete, daß ich, der ich bis dahin vom literarischen China gar nichts gekannt hatte als das Schi King in Rückerts Nachdichtung, durch die Übertragungen Richard Wilhelms und anderer mit etwas bekannt wurdem ohne das ich gar nicht mehr zu leben wüßte: das chinesische-taoitische Ideal des Weisen und Guten. Über die zweieinhalb Jahrtausende hinweg wurde mir, der ich kein Wort Chinesisch kann und nie in China gewesen bin, das Glück zuteil, in der alten chinesischen Literatur eine Bestätigung eigener Ahnungen, eine geistige Atmosphäre und Heimat zu finden, wie ich sie sonst nur in der mir von Geburt und Sprache zugewiesenen Welt besessen hatte. Diese chinesischen Meister und Weisen, von denen der herrliche Dschuang Dsi, von denen Liä Dsi und Mong Ko erzählt haben, waren das Gegenteil von Pathetikern, sie waren erstaunlich schlicht und dem Volk und Alltag nahe, sie ließen sich nichts vormachen und lebten gerne in einer freiwilligen Verborgenheit und Genügsamkeit, und sie hatten eine Art, sich auszudrücken, über die man nur immer wieder staunen und sich freuen kann. Kung Fu Tse, der große Gegenspieler des Lao-tse, der Systhematiker und Moralist, der Gesetzgeber und Bewahrer der Sitte, der einzig etwas Feierliche unter den Weisen der alten Zeit, wird gelegentlich so charakterisiert: "Ist das nicht der, der weiß, daß es nicht geht, und es doch tut?" Das ist von einer Gelassenheit, einem Humor und einer Schlichtheit, für die ich in keiner Literatur ein ähnliches Beispiel weiß. Oft gedenke ich dieses Spruches, und manch anderer, auch beim Betrachten der Weltereignisse und bei den Aussprüchen derer, welche die Welt in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zu regieren udn perfekt zu machen im Sinn haben. Sie tun wie Kung Tse, der Große, aber hinter ihrem Tun steht nicht sein Wissen darum, "daß es nicht geht".

Und auch die Japaner darf ich nicht vergessen, obwohl sie mich längst nicht so viel beschäftigt und genährt haben wie die Chinesen. Aber es gab und gibt in Japan, das wir heute ebenso wie Deutschland nur als ein kriegerisches Land kennen, seit vielen Jahrhunderten etwas so Großartiges und zugleich Witziges, etwas so Durchgeistigtes und dabei so entschlossen, ja derb aufs praktische Leben Gerichtete wie das Zen, eine Blüte, an der das buddhitische Indien und China seinen Anteil hat, die aber erst in Japan sich ganz entfalten konnte. Ich halte Zen für eines der besten Güter, das je ein Volk sich erworben hat, eine Weisheit und Praxis vom Rang des Buddha und des Lao-tse. Und dann hat mich mit langen Pausen dazwischen, auch die japanische Lyrik sehr bezaubert, vor allem ihr Streben nach äußerster Einfachheit und Kürze. Man darf keine moderne deutsche Lyrik lesen, wenn man grade von der japanischen kommt, sonst erscheinen uns unsere Gedichte verzweifelt geschwollen und stelzig. Die Japaner haben so wunderbare Erfindungen gemacht wie das Siebzehnsilbengedicht und sie haben stets gewußt, daß eine Kunst nicht dadurch gewinnt, daß man sie sich erleichtert, sondern durch das Gegenteil. So hat einst ein japanischer Dichter ein Gedicht in zwei Verszeilen geschrieben, in dem es heißt, es seien im noch verschneiten Walde einige Pflaumezweige aufgeblüht! Er gab das Gedicht einem Kenner zu lesen, und der sagte ihm, "ein einziger Plaumenzweig genügt durchaus". Er erkannte, wie sehr der andere recht habe und wie weit ernoch von der wirklichen Einfachheit entfernt sei, und folgte dem Rat des Freundes, und sein Gedicht ist heute noch unvergessen.

Man macht sich gelegentlich über die jetzige Überproduktion an Büchern in unserem kleinen Lande lustig. Aber wenn ich noch etwas jünger und noch bei Kräften wäre, würde ich heute nichts anderes tun, als Bücher herausgeben und verlegen. Wir dürfen mit dieser Arbeit für die Kontinuität des geistigen Lebens weder warten, bis die Kriegsländer sich vielleicht wieder erholen werden, noch dürfen wir diese Arbeit als ein kurzfristiges Konjunkturgeschäft betreiben, bei dem man nicht allzu gewissenhaft zu sein braucht. Die Weltliteratur ist in Gefahr, durch die eilig und schlecht gemachten Neuausgaben kaum weniger als durch den Krieg und seine Folgen. (1945)


Hermann Hesse: Die Welt im Buch, Frankfurt/Main 1977, S. 302-305


[Textarchiv]  [LB-Startseite]  [E-Mail]