Unbekannte Schätze


von Hermann Hesse

In den letzten Jahren geschah wiederholt das Erstaunliche, daß deutsche Dichtungen hohe Auflagenzahlen erreichten und binnen kurzer Zeit in Zehntausenden von Exemplaren verkauft wurden. So erfreulich das war und ist, so wenig wäre es zu wünschen, daß es beim lesenden Volk dauernd zur Mode würde, Jahr für Jahr ein oder zwei Modebücher auschließlich zu rühmen, zu kaufen und zu lesen, Unsere heutige Erzählungsliteratur, die hier fast allein in Betracht kommt, bringt jährlich mehr als nur ein oder zwei beachtenswerte neue Werke hervor. Wie unberechenbar die Launen des Zufalls und die Gunst der Menge ist, kann jeder Buchhändler und jeder Kritiker nahezu täglich beobachten. Es erscheinen gleichzeitig zwei Romane, beide bei guten Verlegern, beide gleich gut ausgestattet und gleich teuer, beide werden in vielen Zeitungen lobend besprochen - und der eine bleibt ungekauft, während der andere Auflage um Auflage erlebt. Warum? Das weiß niemand. Der literarische und menschliche Wert des Buches ist jedenfalls nicht ausschlaggebend, denn bekanntlich "gehen" ja gerade sehr gute Werke oft am langsamsten. Und wie kommt es, daß ein Dichter durch ein einziges Buch bekannt, ja berühmt werden kann, während er andere Werke herausgegeben hat, die ebenso gut sind und doch ganz unbekannt bleiben?

Der Berufskritiker muß immer wieder mit Schmerzen zusehen, wie wenig Resultate seine Arbeit zeitigt. Bücher, gegen welche die gesamte vornehmere Kritik Stellung genommen hat, kommen durch Reklame und andere kaufmännische Vertriebskünste trotzdem zu Erfolg. Und andere Werke, über die in großen Zeitungen von bekannten Kritikern das Rühmendste geschrieben wurde, bleiben trotzdem fast unbeachtet. Nun hat der Berufsrezensent, den allwöchentlich neue Büchern erwarten, selten Zeit und Gelegenheit, auf solche unverdienterweise vom Publikum vernachlässigte Werke zurückzukommen und von neuem ein Wort für sie einzulegen. Und doch wäre das notwendig. Wenn über jede beliebige Neuerscheinung oft allzu ausführlich berichtet und geurteilt wird, warum soll man nicht hie und da auch über ein Buch schreiben, das vor fünf oder zehn Jahren erschienen, aber für die großen Leserkreise noch unbekannt, also neu ist? Wenn damals die empfehlenden Urteile überhört wurden, so werden sie vielleicht heute beachtet. Darum soll in unserer Zeitschrift zuweilen auf solche Bücher, speziell aus der Romanliteratur, hingewiesen werden - nicht für Kenner und enge literarische Kreise, sondern für jedermann. Dabei sollen weder poetische Deklikatessen für verwöhnte Feinschmecker, noch erste Versuche von jungen Anfängern sonderlich beachtet werden. Ersters kommen ohne unsere Hilfe zu ihren Käufern, für letztere arbeitet die Tageskritik.

Als einzelner eine Liste von guten Büchern neuerer Zeit aufzustellen, an denen unser Volk eine Unterlassungssünde gutzumachen hat, wage ich nicht. Aber je und je an solche Werke zu erinnern, ist erlaubt und kann nicht schaden. Beginnen wir heute mit einigen! Die Bücher, von denen hier die Rede war, habe ich "unbekannte Schätze" genannt, weil sie noch nicht vom Publikum erkannt und in Besitz genommen sind. Es gibt noch andere Schätze, an denen Verborgenbleiben oder Vergessenwerden nicht das Publikum schuld trägt, sondern die Verleger. Es gibt Dichter älterer Zeit, von denen teils gar keine, teils nur ungenügende Ausgaben vorhanden sind. Wie lange wird es noch dauern, bis wir einen Jean Paul erhalten? Novalis, Hölderlin und Hoffmann sind erst ganz neuerdings brauchbar wieder herausgegeben worden. Außer Jean Paul fehlt Arnim, fehlt Waiblinger, fehlt eine gute neue Redaktion der deutschen Volksbücher und noch manches andere. Ferner besitzen wir, während unsere Verleger in Papieren, Typen, Buchschmuck und Einbänden soviel erfreulichen Luxus treiben, von manchen lieben und großen Dichtern zwar vollständige, aber nur ganz billige und gering gedruckte Ausgaben. Warum kann ich meiner Frau nicht einen schön gedruckten Eichendorff, einen gut ausgestatteten Lenau, einen gefällig aussehenden (aber nicht "illustrierten") Grimm schenken? Ich kenne viele, die dafür auf die Bütten- und Pergamentexemplare zahlreicher Novitäten von heutigen Dichtern gerne verzichten würden. (1907)


Hermann Hesse: Die Welt der Bücher. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1977. S. 48-49


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