Alter Wein, neue Schläuche


von Hermann Hesse

Es geht wieder auf die langen dunklen Monate zu, da man abends gern bei Ofenwärme und Lampenlicht ein gutes Buch zu Händen nimmt, der Frau und den Kindern etwas Schönes vorliest oder für sich allein aus einer guten Quelle schlürft, und auf die Weihnachtszeit, wo man einander etwas Liebes tun und schenken will. Die Autoren haben wieder reichlich geschrieben und die Verleger fleißig gedruckt, und es ist gewiß viel Schönes darunter, wenn auch neun Zehntel, gleich dem Kinderspielzeug nur auf den Schein und kurze Dauer berechnet, zumeist aus Blech und Lack besteht und nur armen kindischen Gemütern eine vergängliche Lust gewähren kann. Freilich sind diese Gemüter nicht selten. Den neuesten Roman des neuesten Modeautors nicht zu kennen, halten viele für eine Schande, während sie zeitlebens die "alten Schmöker" Schmöker sein lassen und nicht einmal ahnen, wie viel vom Neuesten und Beliebtesten nichts als ein eilig aufgewärmtes und für neu serviertes Altes ist.

Wir wollen es nicht mit diesen Leuten halten, sondern uns eingestehen, daß trotz allen Glanzes und aller Anpreisungen unsre Zeit wie jede andere weit mehr Hinfälliges als Bleibendes schafft, daß bei Büchern wie auch sonst der Vorzug der Neuheit oft ein bedenklicher ist und daß, kurz gesagt, es unendlich viel mehr alte Werke gibt, die unsere Hingabe verdienen und unsre Lesemühe lohnen, als neue. Zum Glück wissen das auch manche Literaten und Verleger, und so erscheint jedes Jahr außer dem vielen Neuen auch eine Anzahl guter, feiner, dankenswerter Neuausgaben alter Sachen, die leider oft nicht genug geschätzt und beachtet werden. Einige solche Ausgaben, die mir lieb sind und für deren hohen Wert ich bürgen kann, möchte ich hier nennen und empfehlen - nicht auf Kosten der Zeitgenossen, unter denen ich manchen Meister verehre, aber doch im Trutz gegen den vielen Lärm, den manche leblose und kulturlose, mit künstlicher Wärme erzeugte Bücher unsrer Tage machen.

Alle Bildung und Kultur fordert ja auch zwar ein herzliches Mitleben mit dem zeitgenössischen Schaffen, hat Boden und Wurzeln aber vor allem in einem innigen, lebendigen Verhältnis zu den Schätzen vergangener Zeit, deren Überleben und Nochlebendigsein der beste, vielleicht einzige Beweis für den Wert aller geistigen Arbeit ist. Von den ganz billigen Ausgaben der Klassikerverleger (Reclam, Max Hesse, Hendel, etc.) sehe ich hier ab und möchte für diesmal nur solche Werke nennen, die teils seit langer Zeit überhaupt nicht oder nur in mangelhaften Ausgaben vorlagen, teils auch durch geschmackvolle und gediegene Ausstattung erst jetzt wieder den Bücherfreund zu Teilnahme und Kauf verlocken. Denn so weit wir Deutsche auch im Drucken den meisten Völkern überlegen sind, an wirklich schönen, für Auge und Hand erfreulichen Ausgaben fehlt es noch immer.

Hier hat Eugen Diederichs in Jena sowie der Inselverlag in Leipzig, zum Teil nach manchen noch unsicheren Versuchen, Bedeutendes geleistet, und nicht immer ist das Publikum diesen Leistungen gerecht geworden. Wir rühmen uns gern unsres zunehmenden Wohlstandes, der blühenden Industrie, auch des Gedeihens unsrer Künstler. Dazu steht der Absatz edel ausgestatteter Bücher, auch wo es sich um wichtige Werke mit keineswegs übertriebenen Preisen handelt, nicht im rechten Verhätlnis. Vielmehr sind es meistens gerade die Wenig-Bemittelten, von denen die Verleger leben müssen, und mancher Besitzer eines Automobils und teurer Gemälde hat nicht Geld und Geist und Kultur genug, um einen Schrank voll guter Bücher zu erwerben. Er trägt die feinsten Handschuhe und ißt vom feinsten Porzellan, aber was er liest und wie seine Bücher aussehen, ist ihm einerlei.

Darin sind wir noch nicht weit und es muß noch hundertmal gesagt werden, daß der Mann, der alle acht Tage neue Krawatten kauft und ohne Komfort nicht leben zu können meint, seine Bücher aber am Bahnhof ohne Wahl kauft, mit den Fingern aufschneidet und nachher wegwirft, daß dieser Mann auf der Stufe des Negers steht, der von der Kultur nichts in sich aufzunehmen vermochte als den Sinn für karierte Hosen und rite Halsbinden, Speisekarte und Schnaps natürlich inbegriffen. Wir sollen ja keine Stubenhocker und Bücherwürmer werden, gewiß nicht, aber wir sollen für das wertvollste greifbare Gut der Welt, für das, was die jahrtausende an edlen Büchern hinterlassen haben, doch mindestens so viel Zeit, Geld und Interesse übrig haben, wie für Sekt und Tingeltangel.


Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 258)


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