Allgemeine FAB  / [A1]


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Adorjan, Johanna: Eine exklusive Liebe [1]

  Ist das typisch jüdisch? Dieses ewige Diskutieren, zu dem ich auch neige, zum Leidwesen vieler, denen ich widerspreche, einfach so, um zu gucken, wie weit ich komme. Gibt es das überhaupt: typisch jüdisch? Meine jüdische Freunde - ich habe ein paar - sagen Ja. Sie sagen, du magst keine Natur, bleibt gerne in der Stadt? Typisch jüdisch. Du findest immer noch ein Andererseits? Typisch. Du bist kompliziert mit Essen, haßt Reisen, hättest gerne jeden Tag im Jahr das gleiche gemäßigte kontinentale Wetter? Typisch. Ich habe meine jüdischen Freunde allerdings im Verdacht, es unter gewissen Umständen auch typisch jüdisch finden zu können, besonders viel scharfen Wasabi in die Sojasauce zu rühren, auf Aspirin C allergisch zu sein oder ungern zu reiten. Und vielleicht ist es ja gerade typisch jüdisch, alles typisch jüdisch zu finden. (Johanna Adorjan: Eine exklusive Liebe, S. 89)


Adorjan, Johanna: Eine exklusive Liebe [2]

  Mein Vater sagt, Sparen sei ihr Hobby gewesen. Eine richtige Leidenschaft. Es habe sie mit Genugtuung erfüllt, in Secondhand-Geschäften Sachen zu finden, die aussahen wie neu. Sie war es, die in der Familie das Geld verwaltete. Mein Großvater gab alles ab, was er verdiente, und wollte er ihr dann etwas zum Geburtstag kaufen, mußte er sich von ihr erst einen Betrag genehmigen und das Geld geben lassen. (Johanna Adorjan: Eine exklusive Liebe, S. 52)


Aitmatow, Tschingis: Dshamilja

  Mir erschienen auf einmal all seine seltsamen Gewohnheiten, die bei den Leuten Unverständnis und Spott hervorriefen - seine Verträumtheit, seine Neigung zur Einsamkeit, seine Schweigsameit-, in einem anderen Licht. Ich wußte jetzt, warum er abendelang auf dem Wachtberg saß, warum er die Nächte einsam am Fluß verbrachte, warum er ständig nur ihm wahrnehmbaren Klängen nachlauschte und warum seine Augen zuweilen aufloderten und die Brauen sich plötzlich erwartungsvoll hoben. Das war ein Mensch, der eine tiefe Liebe in sich trug. Keine Liebe, das fühlte ich, wie man sie für einen anderen empfindet, sondern eine weit größere, die Liebe zum Leben, zur Erde. (Tschingis Aitmatow: Dshamilja, S. 38f.)


Alain-Fournier, Henri: Der große Meaulness

  So viele Ängste, so viele Aufregungen hatten uns in den vergangenen Tagen daran gehindert, darauf zu achten, daß es März und der Wind weicher geworden war. Als ich jedoch am dritten Tag nach jenem Abenteuer morgens in den Hof hinunterging, begriff ich jäh, daß Frühling war. Eine köstliche Brise flutete wie laues Wasser über die Mauer, ein leiser Regen hatte in der Nacht die Blätter der Pfingstrosen feucht gemacht; die frische gelockerte Erde im Garten hatte einen starken Geruch, und in dem Baum vor dem Fenster hörte ich einen Vogel es mit der Musik versuchen... (Henri Alain-Fournier: Der große Meaulness)


Albath, Maike: Der Seelenbegleiter

  Aber seine eigenen Erfahrungen auszuschlachten widerspricht offensichtlich Bobis diskreten Naturell und dem Bedürfnis, ein Dasein im Windschatten der Verantwortung zu führen. Außerdem mangelt es ihm an der notwendigen narzistischen Disposition, sich selbst zum Gegenstand eines literarischen Werkes zu machen. Das Libido-Schlammloch seiner Familie scheint sämtliche emotionale Energien über Jahre hin gänzlich aufgesogen zu haben. (Maike Albath: Der Seelenbegleiter. Über den großen Triestiner Intellektuellen Roberto Bazlen und seinen ungeschriebenen Roman)


Amanshauser, Gerhard: Schloß mit späten Gästen [1]

  Wenn Meyer-Nimmführ verreiste, spürte er immer eine schwache Nachwirkung seiner Jugend, die ihm Neugierde und ungeniertes Benehmen erlaubt hatte. Dann ging ihm die Gewohnheit, nur das Angemessene zu genießen, das zur Ausbeutung seiner Börse bereitstand, manchmal auf die Nerven. Die teure Umgebung schützt zwar vor mißliebigen Vorfällen (denn die Gegenwart des Geldes dämpft die Lautstärke und setzt die Aggressionen herab), aber vor Langeweile schützt sie nicht. (Gerhard Amanshauser: Schloß mit späten Gästen, S.11)


Amanshauser, Gerhard: Schloß mit späten Gästen [2]

  Der Alte Graf konnte sich unmöglich mit einer neuen Firma einlassen, die reflexartig, sobald man mit ihr in Kontakt kommt, damit beginnt, auf allen überhaupt möglichen Wegen Geld an sich zu ziehen. Statt fähiger Arbeiter hat sie eine nomadenhaft wechselnde Belegschaft, die im Maschinenpark sozusagen flüchtige Lager aufschlägt und zwischen Bierkisten und Radioempfängern nach dem Arbeitsminimum strebt, während die leitenden Herrn, taub für Beschwerden und hellhörig für jede Vergrößerung des Aufwands, in eleganten Büros telefonieren oder im Wagen zu Besprechungen unterwegs sind. (Gerhard Amanshauser: Schloß mit späten Gästen, S.30)


Amanshauser, Gerhard: Schloß mit späten Gästen [3]

  Stockhammer hatte recht, wenn er sagte, daß man Erzeugnisse der Industrie, denen gleichsam Unlust und Berechnung der Produktion anhafteten, bestenfalls dann verwenden konnte, wenn man sie vorher mit der Lötlampe behandelte, sie abbeizte, neu bemalte oder überklebte. Brauchbarer waren verlassene Dinge, die man irgendwo auflas, wo die Leute auszogen, um sich zu verbessern. Was sie zurückließen, war immer einer Betrachtung wert. Oft konnte man es zerlegen, neu zusammensetzen und verlöten. (Gerhard Amanshauser: Schloß mit späten Gästen, S.36)


Amanshauser, Gerhard: Schloß mit späten Gästen [4]

  Um Lilo zu verführen, wandte Nihal eine alte, oft erprobte Taktik an, die ihm allerdings bisher noch keinen einzigen Erfolg eingebracht hatte: Er sprach Lilo niemals direkt an, zeigte nicht die geringste Zuneigung, sondern gab sich im Gegenteil verschlossen und abweisend, als verachtete er sie; gleichzeitig aber bemühte er sich, sie durch Gehirnstrahlen zu hypnotisieren. Wenn diese Strategie auch wirkungslos war, so hatte sie doch den Vorteil, ihm nur ein Minimum an Mut abzuverlangen. Dabei beschäftigte sie die Phantasie und erweckte so den Eindruck, daß er wenigstens irgend etwas unternahm und sich nicht wie Stockhammer darauf beschränkte, von vornherein seine Abneigung bekanntzugeben. (Gerhard Amanshauser: Schloß mit späten Gästen, S.61)


Amanshauser, Gerhard: Schloß mit späten Gästen [5]

  Marianne, eine der Frauen, die mit Stockhammer gekommen waren, blieb nach einem der schönsten Herbsttage bei Nihal im Schloß. Er freute sich, daß sie blieb, doch hatte er sie nicht dazu aufgefordert, weil er wußte, daß sie Forderungen nicht liebte. Bat man sie nämlich zu bleiben, konnte man fast sicher sein, daß sie zu überlegen begann, ob es nicht besser sei, zu gehen. Sie schätzte nur Launen, die von ihr selbst ausgingen. Marianne wurde von einem Eigensinn angetrieben, dessen Ziele man selten erkannte. Es hatte den Anschein, daß sie selbst nicht wußte, wohin ihre momentanen Bewegungen sie führten. Dabei lag in ihrem Wesen etwas Selbstverständliches, Ruhiges. Erhob sie sich, um fortzugehen, so war nichts von jenem zweifelnden Schwanken zu bemerken, das bei den meisten Abschieden die Umrisse der Personen zu verwischen scheint. Wenn sie ging, war sie als Ganzes verschwunden, und wenn sie kam, so war sie im nächsten Augenblick wieder da, ohne erst ihre Fühler austrecken und sich erklären zu müssen. Ihr eine Frage mit warum zu stellen schien zwecklos. (Gerhard Amanshauser: Schloß mit späten Gästen, S.94)


Amanshauser, Gerhard: Schloß mit späten Gästen [6]

  Zwar gab es, wie er genau wußte, keine verrückten Ideen, die einfach aus dem Chaos daherflattern, und falls es sie gab, würden sie niemals beleidigend wirken, aber es war viel einfacher und angenehmer, an verrückte Ideen zu glauben, statt nach den Antrieben zu fragen, die vielleicht dahintersteckten. In der Psychologie durfte er ruhig ein wenig abergläubisch sein, das konnte niemandem schaden, so wie das Gegenteil niemandem nützte. Mit Psychologie, so dachte er, sollen sich Leute befassen, die sich das leisten können. Ich kann es mir nicht leisten: Ich glaube an verrückte Ideen. (Gerhard Amanshauser: Schloß mit späten Gästen, S.96)


Amanshauser, Gerhard: Schloß mit späten Gästen [7]

  Was ist und wozu dient ein Doktor der Philosphie? Mit einer Dissertation über "Gerichtsprozesse in der Literatur" hatte Nihal den Titel eines Doktors der Philosophie erworben. Diese Abhandlung war so allgemein gehalten, daß zwar die Feindschaft, nicht aber die absolute Unkenntnis, mit der er der Jurisprudenz gegenüberstand, zum Vorschein kam. Er hatte nie in seinem Leben ein Gesetzbuch geöffnet und war eines Tages von der Belehrung überrascht worden, daß es sich bei Richter und Staatsanwalt um zwei verschiedene Personen handle. "Im Grunde ist es doch nur eine Person", dachte er. Da Nihal keiner Beschäftigung nachging, die eines Doktors würdig gewesen wäre, bleichte sein Titel gleichsam aus, und alle, die bei der Promotion mitgewirkt hatten, erkannten ihn nur noch mit größter Mühe. Nihal war nicht so indiskret, durch Führung des Titels unliebsame Erinnerungen zu wecken, und er begann schließlich selbst ihn zu vergessen. (Gerhard Amanshauser: Schloß mit späten Gästen, S.101)


Amanshauser, Gerhard: Schloß mit späten Gästen [8]

  Unter allen Doktortiteln war freilich jener der Philosophie der zweifelhafteste. Meyer-Nimmfür wußte zwar, was ein Ökonom, ein Jurist, ein Arzt oder ein Wissenschaftler darstellte; was aber ein Doktor der Philosphie eigentlich studiert hatte, daüber machte er sich nur unklare Vorstellungen. Vielleicht besaß ein solcher Doktor genaue Kenntnis aller Philosophien, die jemals aufgestellt worden waren. Er selbst, Meyer-Nimmfür, kannte von diesen Philosophien nur vier oder fünf auf -ismus endende Namen, ohne jedoch einzusehen, wozu diese Ismen dienen sollten. Und weil man alles, dessen Zweck einem verborgen ist, mehr oder weniger abwertet, nahm er an, die Philosophie hätte im Lauf der Zeit die widersprüchlichsten, unbeweisbaren Lehren propagiert, unpraktikable Wortkonstruktionen, die sich, wie eine Reihe von Plus- und Minuswerten, letzten Endes gegenseitig aufgehoben, so daß als Resultat die Null herauskam. (Gerhard Amanshauser: Schloß mit späten Gästen, S.102)


Amanshauser, Gerhard: Schloß mit späten Gästen [9]

  Obwohl ein guter Schneider den Anzug nach Maß gemacht hatte, schien er wie um eine Vogelscheuche zu schlottern. Der Anzug war eine Verkleidung. Alle Kleidungsstücke, die über ein Minimum an Hose und Pullover hinausgingen, verwandelten sich an ihm in Maskenkostüme, die er auf Schritt und Tritt als solche empfand. Er kam sich dann vor wie ein Tier, das auf groteske Art kostümiert ist und das Gelächter irgendwelcher Engel hervorruft, die sich die Erde als Menagerie eingerichtet haben. (Gerhard Amanshauser: Schloß mit späten Gästen, S.118)


Amanshauser, Gerhard: Schloß mit späten Gästen [10]

  Er allerdings, Meyer-Nimmführ, bemerkte recht gut, wie es um die Leute stand, die zur Dichterlesung erschienen. Mit schlecht verhohlener Geringschätzung beobachtete er, wie sie in ihren kümmerlichen Anzügen über die Fliesen daherstolperten und sich auf den Sesseln des Vortragssaales reihten. Bei manchen drückte sich die ganze Misere in der Art aus, wie sie ihre beste Krawatte trugen. Nur der Dichter, Kathreiner, stach von ihnen ab. Schon seine Kleidung verriet, in ihrem ausgesucht saloppen Zuschnitt, etwas Extravagantes. Auch was er sagte, wich immer ein wenig vom Gewohnten ab und bekundete jene routinierte Aufsässigkeit, die man von einem Original erwarten kann. "Dafür", dachte Meyer-Nimmführ, "wird er schließlich bezahlt." (Gerhard Amanshauser: Schloß mit späten Gästen, S.129)


Andersch, Alfred: Die Rote [1]

  Sie sah ihn wütend an. Er half ihr in den Mantel, und als er ihn über ihren Schultern losließ, strich er mit der rechten Hand über ihren Busen. Er fühlte die dünne Wolle ihres eleganten Sackkleides unter seiner Handfläche und darunter ihre angenehm gewölbten kleinen Brüste, und dann bemerkte er, daß sie es sich eine Sekunde lang gefallenließ. Ihre Lippen öffneten sich ganz leicht, und ehe ihre Augen die vorschriftsmäßige Empörung sprühten, wurden sie zu Schlitzen, wie die Augen einer Katze, die gestreichelt wird. Aber einen Moment später hatte sie Giuliettas Wohnung verlassen. (Alfred Andersch: Die Rote, S. 74)


Andersch, Alfred: Die Rote [2]

  Ich gehöre nicht zu den Leuten, die "einen gewissen Abstand zu den Ereignissen" brauchen, um sich klar darüber zu werden, was mit ihnen passiert ist. Im gleichen Augenblick, in dem etwas mit mir geschieht, fange ich auch schon an, über das Geschehnis und seine Bedeutung für mich zu reflektieren. Zum Beispiel bin ich mir vollkommen im klaren darüber, warum ich jetzt mit Ihnen zusammensitze und Ihnen diese Geschichte erzähle, Franziska; warum ich mich für Sie interessiere, Ihnen nachgegangen bin und in Ihrem Hotel stundenlang auf Sie gewartet habe; ich tat es, weil ich Angst habe, und weil ich, wie ich Ihnen schon sagte, einen Blick für Leute habe, die nicht dazu gehören, Leute, die selbst in einer so extremen Lage sind, daß man seine Angst bei ihnen sozusagen deponieren kann. (Alfred Andersch: Die Rote, S. 106)


Antunes, Antonio Lobo: Anweisungen an die Krokodile

  Wenn mein Vater wütend wurde (...) holte meine Mutter widerwillig den Hut aus der Speisekammer, wo sie ihn zwischen die Kartoffeln, die Zwiebeln, die Kichererbsen gesteckt hatte, klopfte ihn mit leichten Schlägen ab, um den Staub zu lösen, und bog, vor Verdruß leidend, die Krempe zurecht. - Mit diesem da gefällst du mir überhaupt nicht Artur während mein Vater ihn aufsetzte und sich im Dreiviertelprofil betrachtete, wenn er ihn auf dem Kopf hatte, wurde er sofort langsam, kardinalsfeierlich, hochmütig, folgte den Hinterbacken der Kellnerinnen mit resoluter Entschlossenheit, erlaubte sich Geflüster, Gekicher, Versprechungen, Einladungen, meine Mutter erstarrt. (Antonio Lobo Antunes: Anweisungen an die Krokodile, S. 62)


Antunes, Antonio Lobo: Anweisungen an die Krokodile [2]

  Als die Sonne endlich damit aufgehört hatte, mich zu ärgern, war das Gas an der Reihe, sich auf meine Kosten zu amüsieren. Ehrlich gesagt begreife ich die Boshaftigkeit der Gegenstände nicht: ich rede ja schon gar nicht mehr von den Spiegeln, die immer bereit sind, irgendwelche Mängel an uns festzustellen, ich rede von den Füllfederhalterkappen, die Gott weiß wohin rollen, vom Portemonnaie, das sich nie an dem Platz befindet, an den wir es gelegt haben, von den Pantoffeln, von denen wir nur den rechten finden, wenn wir sie mit dem Fuß suchen, von den Haustürschlüsseln, die selbsttätig das Schloß der Haustür verlassen haben und uns zwingen, alle Taschen und alle Handtaschen auf dem Tisch auszuleeren, einmal ganz abgesehen von den Möbelecken, die stets bereit sind, uns zu verletzen, den Gläsern, die uns aus der Hand fallen, wenn wir sie spülen und Scherben hinterlassen, die die Besen nicht bemerken, und für deren Entfernung mit der Stecknadel der Krankenpfleger im Gesundheitszentrum stundenlang braucht und uns dann einen winzigen Splitter zeigt, der kleiner als der Schmerz ist, einmal ganz abgesehen von den eingeklemmten Reißverschlüssen, den geheimnisvollen Flecken auf den Blusen, der Zahnbürste, die uns Borsten im Mund zurückläßt, die sich der Zunge entziehen, wir glauben wir haben sie und nichts ist, es gibt immer eine Ecke zwischen den Kiefern, die der Fingernagel nicht erreicht und in der sie sich lachend verstecken und kaum, daß sie sie verlassen haben, bleiben sie einem unter Hustenschluchzern im Rachen stecken. Manchmal denke ich sogar, daß die Gegenstände gern leiden: Wenn das Fernsehbild verschwindet, hauen wir auf den Apparat und es kommt zurück, wenn eine Glühbirne ausgeht, läßt sie zwei Schläge an den Lampenschirm wieder angehen, auch wenn dabei der Lampemschirm schief wird, der Staubsauger wartet auf einen stimulierenden Fußtritt, um seine Arbeit wiederaufzunehmen. Die Perfidie der Gegenstände verwirrt mich: da sind sie um uns herum, unschuldig, in Reih und Glied, teuer, mit ihrer gespielten Unterwürfigkeit und Kompetenz, ihrer vorgegebenen Nützlichkeit, ihren Knöpfen, ihren Chromleisten, ihren ausländischen Marken, ihren viersprachigen Faltblättern, mit Zeichnungen und Pfeilen, die uns wortreich beibringen, sie zu bedienen, und letztlich verdreifachen sie uns nur die Stromrechnung, müssen wir dem Vertragshändler den Ersatz unverständlicher Teile bezahlen (für gewöhnlich bauen sie dann neue Widerstände ein, als hätten sie nicht schon vorher genug Widerstand an den Tag gelegt, um uns auf die Nerven zu gehen und das Leben schwer zu machen). (Antonio Lobo Antunes: Anweisungen an die Krokodile, S. 68)


Antunes, Antonio Lobo: Anweisungen an die Krokodile [3]

  Manchmal scheint es so, als wären wir ein Ehepaar mit seinen Codes, seinen Botschaften und Zeichen, die Außenstehende nicht verstehen, Weihnachten macht sie mir peinliche Geschenke, zumeist ein grauenhaftes Stück Nippes, Gazellen, Nymphen, einen hockenden Mexikaner, zwei Mädchen im Badeanzug, die eine Plastikuhr halten, die ich in der Vitrine im Wohnzimmer ausstellen muß, um Beleidigungen zu verhindern, wobei ich mir wünsche, sie mögen schnell zerbrechen, aber sie zerbrechen nie, nur was mir gefällt geht kaputt, immer der Ärger, diesen Krempel, wenn ich Besuch bekomme, in der Anrichte zu verstecken, immer der Ärger, daran zu denken, ihn wieder in die Vitrine zu stellen, sobald der Besuch gegangen ist, wenn ich mich mal nicht dran erinnere, tut sie es, indem sie ihr Beleidigtsein herausschreit... (Antonio Lobo Antunes: Anweisungen an die Krokodile, S. 306)


Antunes, Antonio Lobo: Anweisungen an die Krokodile [4]

  Er sah, als ich ihn zum ersten Mal in der billigsten Bar der Unterstadt von Loanda traf, dreimal so alt aus, wie er wirklich war, er hatte keinen einzigen Zah mehr, vielmehr war sein Zahnfleisch mit Plastikzähnen gespickt, die, wenn er sprach, mit dem Geräusch ferner Hufe knarrten, und sein immer im selben Mantel steckender spindeldürrer Körper sonderte den Ertrunkenen und Witwern eigenen Duft der Verlassenheit ab. (Antonio Lobo Antunes: Die Rückkehr der Karavellen, S. 234)


Antunes, Antonio Lobo: Einblick in die Hölle [1]

  Jetzt, viele Jahre später, als ich allein von Balaia nach Lissabon aufbrach, hoffte ich fast ungewollt, dir im Garten inmitten von blonden Ausländerinnen zu begegnen, die tragisch und reglos wie Phädren dastanden, in deren leerem Blick die resignierte Einsamkeit von Statuen und Hunden wohnt. Ich würde mich auf eine Bank zwischen die zärtlichkeitsfernen Krampfadern einer alten Deutschen und die ineinander verschränkten Schenkel von zwei Heranwachsenden setzen, die auf einem Haschischfloß dahintrieben und mit der Fröhlichkeit einer unbekannten Dimension niemand Bestimmten anlächelten, bis ich dich plötzlich auf der anderen Seite des Platzes sähe, einen Weidenkorb auf der Schulter, das Haar in der Mitte von einer Sqawfrisur geteilt, kommst du wie das Mädchen von der Repimpa-Matratzen-Reklame auf mich zu, das die Greta-Garbo-Brille recycelt hat. (Antonio Lobo Antunes: Einblick in die Hölle, S. 10)


Antunes, Antonio Lobo: Einblick in die Hölle [2]

  Messines tauchte vor ihm in einer Kurve auf, unscharf vom Zellophannebel der Hitze, und er erinnerte sich an das erste Mal, als er am Tag nach seiner Hochzeit in den Algarve gekommen war, und an die Blume aus Blut auf dem Bettuch im Hotel, eine kleine geöffnete Mohnblüte, die rot vor dem glatten, gischtgesäumten Blau des Meeres leuchtete. Wenn sie nachts auf dem Balkon des Zimmers saßen, roch einer beim anderen im Haar, am Hals, auf den Schultern das Salz der Mollusken, die Grünalgen der Scham, die Fischkonsistenz der Schenkel, sich mit dem Ehering am Finger lieben und deinen Ehering an deiner flach an meinen Nieren liegenden Hand fühlen, ich habe die Rede des Priesters vergessen, aber ich kenne dein Lächeln so gut, das unschuldige Latein, die Engelssprache des Orgasmus dicht über dem verwüsteten, drängenden Körper. (Antonio Lobo Antunes: Einblick in die Hölle, S. 61)


Antunes, Antonio Lobo: Einblick in die Hölle [3]

  Er erinnerte sich daran, gelesen zu haben, daß Charlie Chaplin von der Notwendigkeit gesprochen habe, nach Beendigung eines Films den Baum zu schütteln, damit die überflüssigen Zweige, die überflüssigen Blätter, die überflüssigen Früchte herunterfielen und schließlich nur noch die sozusagen wesentliche Nacktheit zurückblieb, und daran, daß sich dieser Gedanke seither in ihm tief eingenistet hatte und ihn zwang, ständig sein Leben zu überdenken, die Bücher, die er geschaffen hatte oder vorhatte zu schaffen, die Pläne, die ständig widersprüchlich und heftig in seinem Kopf brodelten, die Menschen, die ihn aufsuchten, damit er mit ihnen die schwierigen Wasser der Analyse durchschiffte. (Antonio Lobo Antunes: Einblick in die Hölle, S. 35)


Antunes, Antonio Lobo: Einblick in die Hölle [4]

  Es sind die Enkel der Ärsche, die Gomes Leal auf dem Rato mit Steinen beworfen haben, das sind die Impotenten, die sich darüber beklagen, daß in diesem Land nur Scheiße produziert wird, und wenn jemand auftaucht, der keine Scheiße produziert, dann fangen sie an, vor Wut und Eifersucht angesichts der Potenz des anderen zu schnauben, weil sie ihren schlaffen Lumpen in der Unterhose fühlen, weil sie nicht fähig sind, weil sie ganz definitv nicht fähig sind, das Leben zu vögeln. (Antonio Lobo Antunes: Einblick in die Hölle, S. 71)


Antunes, Antonio Lobo: Einblick in die Hölle [5]

  Wie real dieser Typ doch ist, wie beruhigend real dieser Typ doch ist, dachte er, sogar mit seinen dichten Tresterschnapsatem, sogar in der vulgären Verbindlichkeit seiner Gesichtszüge: ein konkreter, wahrer, solider Mann, verankert in der logischen Welt der Steuern, der Strafzettel fürs Falschparken, der Koteletts nach Wurstmacherart und der kleinen ehelichen Haßgefühle. (Antonio Lobo Antunes: Einblick in die Hölle, S. 70)


Antunes, Antonio Lobo: Einblick in die Hölle [6]

  Da kam ein rotblonder Junge in Unterhose, aus deren schlaffen Gummibändern die Schamhaare orange angehaucht herausschauten, schwankend herein, hielt sich am Tisch fest und begann mit trockenen Lippen ohne Spucke, die voller Krusten und Sommersprossen waren: "Herr Doktor Herr Doktor Herr Doktor Herr Doktor Herr Doktor Herr Doktor" zu sagen, mit den Lippen eines naschhaften Kindes, eines angstvollen Kindes, das im Schlaf spricht, den Lippen meines Bruders Nuno, als er drei Jahre alt war und an Bauchfellentzündung erkrankt war und immer wieder sagte, Ich werde sterben und will meinen Vater hier haben, mit einer Stimme, die ich nie wieder vergessen werde, die schreckliche, anklagende Stimme von Kindern im Todeskampf, ich habe Kinder an Leukämie sterben sehen, gesehen, wie sie in Bettücher gewickelt und auf dem Arm in den Kühlschrank des Kkrankenhauses getragen wurden, Kinder, die nach der Ampulle Morphium weinten, die von Ekchymosen gewollenen Ellenbogen zu den panikerfüllten Assistenzärzten hoben. (Antonio Lobo Antunes: Einblick in die Hölle, S. 70)


Antunes, Antonio Lobo: Einblick in die Hölle [7]

  Der Abend hatte jetzt die trübgelbe Farbe verstorbener Menschen, das melancholische Jodgelb der alten Fotos, das dreckige Gelb von Urin an einem Stamm oder einer Mauer, das rostige Gelb der über den Strand humpelnden Hunde, die im Septembermorgengrauen im Rudel dicht am Meer entlangtrotten unter dem endlosen schweigenden Himmel, an dem man in der Ferne die Migrationen der Enten der Tagundnachtgleiche erahnt. Dürre, tragische Pflanzen hoben vielfältige, frenetische, inmitten des Kreiselns eines Walzers innehaltende Dirigentenhandgelenke zu den dicken, bauchigen, beinahe violetten Wangen der Wolken, und hin und wieder lösten sich Werkzeuge und Maschinen der Straßenbauarbeiter im dürftigen Gras in süßem Totengeruch auf. Alles in Algarve ist blutlos und zahm, dachte er, sogar die Wellen, die sich über sich selbst wie aufeinanderfolgende durchsichtige anämische Lider beugen, sogar die Bimssteingesichter der Bauern, in deren Adern ein geheimer, rästselhafter Wind fließt, sogar die bald schon reifen, bald schon schweren, wie Früchte von dicken leuchtenden Sonnenstengeln an den Zweigen des Himmel herabhängenden Morgen. (Antonio Lobo Antunes: Einblick in die Hölle, S. 74)


Antunes, Antonio Lobo: Einblick in die Hölle [8]

  Die 5. Station, ganz oben in der Anstalt, zu der man mit einem riesigen Fahrstuhl gelangt, der sich unter panischem Kreischen von Stockwerk zu Stockwerk weint, war, als er dorthin versetzt wurde, ein trauriges Fegenfeuer, das die Psychiater vergebens aufzuheitern versuchten, indem sie die Wände mit Spiegeln pflasterten, die die grauen Gestalten der Kranken, ihre erbärmliche Lage als Gefangene zurückwarfen (es war ihnen verboten, allein hinauszugehen, es war ihnen verboten, spazierenzugehen, es war ihnen verboten, Kontakte mit Männern zu haben, denn, Wir wollen keine Verantwortung übernehmen, wir wollen keine Schwierigkeiten, wir wollen keine Probleme, wir wollen keine Beschwerden seitens der Familien), so daß die einzigen erlaubten Aktivitäten darin bestanden, die Tropfen der verschriebenen Medikamente zu nehmen und dann zu nicht ganz klaren, unnützen Näharbeiten zu schreiten, und darin, im Speisesaal zuhauf auf Resopalstühlen, die wacklig waren wie Milchzähne, einmal pro Woche morgens an den Versammlungen des Clubs teilzunehmen, unter der Leitung von Spezialisten, die vom salbungsvollen guten Willen christlicher Kerkermeister besessen waren. (Antonio Lobo Antunes: Einblick in die Hölle, S. 88)


Antunes, Antonio Lobo: Einblick in die Hölle [9]

  Eine meiner Tanten ist durchgedreht, wie ihr Kanarienvogel gestorben ist, und ein Kanarienvogel ist ein Kanrienvogel, sie ist im Julio de Matos gestorben, wo sie die Ärzte mit Hirse fütterte, jedem Arzt, der sich ihr näherte, gab sie Hirse und wollte ihn in einen Käfig stecken, zu Hause hat sie ihren Mann gezwungen, die Zeitung auf der Sitzstange zu lesen und Piupiupiu zu singen, und er sang, damit sie keinen Aufstand gab, hin und wieder hob er den Kopf vom Kreuzworträtsel und sagte ein Piupiupiu, das einem durch und durch ging. (Antonio Lobo Antunes: Einblick in die Hölle, S. 113)


Antunes, Antonio Lobo: Einblick in die Hölle [10]

  Das Problem sind die drei Monate Schwangerschaft, die die Braut schon im Bauch hat, die Orangenblüte ist eine welke Mandarine, ich weiß nicht, ob Sie merken, worauf ich hinauswill, sie haben das rausgekriegt, haben den Bauch der Kleinen gesehen, eine Backpfeife hier, eine Backpfeife da, dann ein paar Ohrfeigen haben noch niemand geschadet, und sie hat den Namen des Spitzbuben umgehend ausgespuckt, Es ist Carlos Alberto da Ascensao Domingos, sie haben diesen Cabe an den Hammelbeinen gekriegt, entweder heiratest du, oder deine Eier sind abgängig, der Seminarist drohte von fern mit dem Käsemesser, der Mann wurde weiß und sagte ja, was immer sie wollten, solange sie seine Klöten in Frieden ließen, er war Vertreter, stieg hin und wieder in der Pension ab, bereiste den Norden für einen Hersteller von Kompressen, ich heirate, aber laßt meinen Hosenstall los. (Antonio Lobo Antunes: Einblick in die Hölle, S. 10)


Antunes, Antonio Lobo: Einblick in die Hölle [11]

  Es gibt Ärzte, Joana, die sind grausam und tragisch wie Zwerge, wie Krüppel, wie Bucklige, wie Musiker, die am Ende der Prozessionen zwischen weinenden Engeln und häßlichen Christussen aus Gips die Posaunen spielen. Grausam, tragisch und gemessen fliegen sie mit den Schwungfedern ihrer weißen Kittel um die Infusionsballonsonne herum. Immer wenn jemand sterben wird, sammeln sie sich, von einem merkwürdigen Insekteninstinkt geführt, um den abgemagerten, blassen Patienten, durchblättern fröhlich Röntgenbilder, Laborergebnisse, Biopsieberichte, sind bereit, das zu diskutieren, was sie euphemistisch einen schönen Fall nennen, komplizierte Krebserkrankungen, besonders Leukämien, unheilbare Infektionen, und erschnuppern dabei strahlend den bevorstehenden Exitus. (Antonio Lobo Antunes: Einblick in die Hölle, S. 195)


Antunes, Antonio Lobo: Die Leidenschaften der Seele [1]

  Bis er starb, hat mein Mann nie viel mit mir geredet, nicht einmal sonntags nach dem Mittagessen, wenn wir mit dem Auto losfuhren, damit die Kinder mal rauskamen. (...) Wir ermahnten die Kinder mit einem Klaps, sich nicht gegenseitig umzubringen, sich nicht mit den Füßen zu treten und die klebrigen Hände nicht an den Autopolstern abzuwischen, und wenn die Jungen dann alle fünf Minuten bettelten, Pipi machen zu dürfen, antwortete ich, die ich schon nicht mehr richtig auf dem Sitz saß und der der Rücken weh tat, Wir sind gleich da, wartet noch einen ganz kleinen Augenblick, es dauert nicht mehr lange, und mein Mann blitzte sie im Rückspiegel an und teilte ihnen brüllend mit, Wer den Sitz naß macht, bleibt zur Strafe die ganze Nacht in der Speisekammer, und wir kamen dann bei Anbruch der Dunkelheit zu Hause an, die Kinder quengelten vor Müdigkeit, und wir rochen in jedem Stockwerk die Speisekarten der Mitbewohner, und bei uns sollte es Brathähnchen und Kartoffelchips aus der Tütegeben, das übliche Wochenendabendessen, aber das Gas war regelmäßig in dem Augenblick alle, in dem ich den Tisch gedeckt und das Hähnchen in die Jenaer-Glas-Form gelegt hatte und das Streichholz an den Brenner des Ofens hielt, so daß wir wutschnaubend ein kleines Schnitzel mit Fritten in einem Bierlokal in Almada aßen, das bevölkert war von Meeresfrüchteliebhabern mit Zahnstochern zwischen den Lippen, die an einem riesigen Aquarium lehnten, auf dessen algigem Steingrund sich, das Wasser abtastend, arthosekranke Langusten entlangschleppten. (Antonio Lobo Antunes: Die Leidenschaften der Seele, S. 350)


Antunes, Antonio Lobo: Die Leidenschaften der Seele [2]

  ... würde sofort den Amtsarzt rufen, den alten Mann, der in der Trockenzeit in seiner Praxis am Stadtrand überwinterte, die Familie nicht sehen wollte, schwarzafrikanische Breie auf einem alten Holzkohleofen kochte und nachmittagelang hinter heruntergelassenen Rolladen auf der Untersuchungsliege für Unglücksfälle schlief, ohne ein Bad zu nehmen und die Wäsche zu wechseln, der inmitten seiner Schränke mit Kathetern und chirurgischen Instrumenten aus einem Plastikplattenspieler gebrüllte Opern hörte. Er klebte mit Heftpflaster ein Schild an die Tür 'Bis zur Regenzeit geschlossen', verbarrikadierte den Flur mit dem Bücherbord, und wenn seine Frau klingelte und ihn bat, aufzumachen, stellte er die Arien lauter und legte sich zufrieden wieder auf die Liege. (Antonio Lobo Antunes: Die Leidenschaften der Seele, S. 242)


Antunes, Antonio Lobo: Die Leidenschaften der Seele [3]

  Ich habe ihn akzeptiert, weil sich kein Handballspieler für mich interessierte und mich bei den Freitagabendtanzveranstaltungen des Studentenclubs aufforderte, weil man mich auf meinem Stuhl sitzen ließ, wo ich den Takt der Boleros mit dem Absatz klopfte und in meinem Rüschenkleid Enttäuschungen verdaute und ein einsames Leben als Lehrerin in einer Vorortschule vor mir sah, in dem ich verdammt war, allein zu Abend zu essen, die pädagogische Fachzeitschrift an die Wasserkanne gelehnt, und die Wechseljahre mit Kätzchen aus Glas und Pierrots aus Biskuitsporzellan zu bevölkern. (Antonio Lobo Antunes: Die Leidenschaften der Seele, S. 357)


Antunes, Antonio Lobo: Die Leidenschaften der Seele [4]

  Wir gingen erst seit höchstens sechs Wochen miteinander, und ich hatte ihn akzeptiert, weil er mir versichert hatte, daß er nach dem Abschluß des Studiums Richter würde, und mein Vater, der Justizwachtmeister am Gericht in Sintra war, hatte mir die ganze Kindheit hindurch so hingebungsvoll von Landgerichtsräten und Richtern erzählt, wie Priester von den Heiligen sprechen, und ich stellte mir vor, daß ich mit einem Herrn in Richterrobe durch Lissabon wandelte, der Herr über die Schicksale der Welt war und den ganzen Chiado entlang eine Spur ängstlicher Bewunderung hinterließ. Meine Studienkolleginnen in Romanistik, die turbulente Leidenschaften für muskulöse Handballspieler durchlebten, denen eine ärmliche, enge Zukunft als säuerliche Schreiber bevorstand, fanden ihn häßlich, wortkarg, rachitisch, schlecht angezogen und lachten über ihn, weil er Schuppen auf dem Kragen hatte und mit offenem Mund kaute, aus Büchern zweiter Hand lernte und mit einem Provinzakzent sprach, der sonst Domherren und Streifenpolizisten eigen ist. (Antonio Lobo Antunes: Die Leidenschaften der Seele, S. 356)


Antunes, Antonio Lobo: Die Leidenschaften der Seele [5]

  Ich dachte an meine Alte, die besessen ist von dieser unerklärlichen weiblichen Neigung, uns mit Merchurochrome, Halstinkturen, Borsäure, Thermometern und Zäpfchen zu quälen, und wollüstig Zitronentees mit Honig kochte, die meine Zunge in eine schmerzende Griebe verwandelten. Meiner Meinung nach ist das etwas, was bei ihnen wie die Zellulitis, der Kaufrausch und der Schnurrbart über vierzig entsteht. Die besondere Spezialität meiner Frau ist, mir Schnellverbände auf behaarte Bereiche zu kleben und sich über mein Schmerzgeheul zu wundern, wenn sie die Pflaster wieder abzieht. Meine Tochter, die jetzt sechszehn geworden ist, hält mich für eine ausgemachte Memme, weil ich es wage zu behaupten, daß Aspirintabletten die Mundschleimhaut verätzen. Und mich hat die Tatsache immer wieder beeindruckt, daß die Frauen einen Besuch beim Zahnarzt, bei diesen Kretins, die uns mit perverser Freude das Zahnfleich zerschmettern, als ein ganz alltägliches Ereignis betrachten, dagegen kommen sie in Tränen zerfließend aus dem Kino, von indischen Melodramen überwältigt, die sonst niemanden rühren. (Antonio Lobo Antunes: Die Leidenschaften der Seele, S. 415)


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