Allgemeine FAB  / [B1]


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Böll, Heinrich: Ende einer Dienstfahrt [1]

  Wissend, daß ihr das gut zu Gesicht stand, setzte sie einen zarten Hohn aufs Gesicht, dann, als das nicht zu fruchten schien, weil Stollfuss, der viel amtlicher, als er's bisher getan hatte, sprach, in seiner trockenen und strengen Belehrung fortfuhr, zeigte Fräulein Hall Ansätze von Aufsässigkeit: ein gekränktes Verzerren der Schultern, mucksig aufgeworfene Lippen, und Stollfuss verwies sie des Saales, den sie stolz, mit erhobenen Schultern verließ. (Heinrich Böll: Ende einer Dienstfahrt, S. 24)


Böll, Heinrich: Ende einer Dienstfahrt [2]

  Seit vierzig Jahren blickte er in dieses Blondinengesicht, das einst blühend gewesen, blasser und breiter geworden war, saß mit ihr an diesem großen Nußbaumtisch, der für viele Kinder, "mindestens sechs" gedacht gewesen war; statt dessen: Fehlgeburten, die nicht einmal die tröstliche Erdenspur eines Grabs, die keine Stätte hinterlassen hatten, spurlos in gynäkologischen Kliniken verschwunden waren; Arztrechnungen, "Hormonstützen", gerunzelte Stirnen von Kapazitäten, bis auch die monatliche Hoffnung ausgeblieben, sie als Vierzigjährige schon wieder in den unblutigen Status einer Zehnjährigen zurückgefallen war, er es aufgab, ihr mit seiner Männlichkeit zu kommen; sie war geschwätzig und vergeßlich, er wieder zu einem Knaben geworden, den alles, was Knaben quält, nicht mehr quälte, nicht einmal auf Friedhöfen eine Erdenspur hinterlassen. (Heinrich Böll: Ende einer Dienstfahrt, S. 78)


Böll, Heinrich: Fürsorgliche Belagerung [1]

  Wenn Sabine in vier Monaten das Kind bekam, mußte sie ja bald im sechsten Monat sein - und hatte niemand etwas erzählt. Eins war bei Bleibls spitzen Bemerkungen - ob er über Rolf, Katharina, Herbert oder Holger I sprach - in jedem Fall vorauszusetzen: sie trafen im Faktischen immer zu. Wenn er sagte: "in vier Monaten", dann waren es vier Monate, auch wenn Sabine selbst es gar nicht so genau wissen mochte. Das kam alles aus Zummerlingquellen, und die hatten das Ohr nicht nur am Puls der Zeit, hatten es auch an den Unterleibern prominenter Frauen, die wußten besser, wenn da mal eine Periode ausfiel, als die betroffene Dame selbst, das Unterleibsrechercheure besonderer Art, fragten wohl Hausmädchen und Drogisten aus, durchsuchten wahrscheinlich Abfalleimer, schnüffelten in Arztkarteien, hörten wohl auch Telefone ab, alles im Dienst der Öffentlichkeit. (Heinrich Böll: Fürsorgliche Belagerung, S. 13)


Böll, Heinrich: Gruppenbild mit Dame [1]

  Nun ist Leni natürlich nicht immer achtundvierzig Jahre alt gewesen, und es muß notwenigerweise zurückgeblickt werden. Auf Jugendfotos würde man Leni ohne weiteres als hübsches und frisches Mädchen bezeichnen; sogar in der Uniform einer Naziorganisation für Mädchen - als Dreizehn-, Vierzehn-, Fünfzehnjährige - sieht Leni nett aus. Kein männlicher Betrachter wäre in seinem Urteil über ihre körperlichen Reize niedriger gegangen als "verdammt noch mal, die ist nicht übel". Der menschliche Paarungsdrang geht ja von Liebe auf den ersten Blick über den spontanen Wunsch, einer Person des anderen oder eigenen Geschlechts, einfach mal, ohne auf Dauerbindung aus zu sein, beizuwohnen; er geht bis zur tiefsten, aufwühlenden Leidenschaft, die ruhelose Seelen und Körper schafft, alle seine Spielarten, die so gesetzlos wie ungesetzmäßig auftreten, jede von ihnen, von der oberflächlichsten bis zur tiefsten, hätte von Leni geweckt werden können und ist von ihr geweckt worden. Als sie siebzehn war, machte sie den entscheidenden Sprung von hübsch zu schön, der dunkeläugigen Blondinen leichterfällt als helläugigen. In diesem Stadium wäre kein Mann in seinem Urteil niedriger gegangen als "bemerkenswert". (Heinrich Böll: Gruppenbild mit Dame, S. 25)


Böll, Heinrich: Gruppenbild mit Dame [2]

  ... daß er von einer geradezu entzückenden Nonne von höchstens einundvierzig Jahren empfangen wurde, die nicht etwa herablassend, sondern wirklich gütig und klug lächelte... (...) Unter Pinien und Palmen, zwischen Marmor und Messing, in einem kühlen Raum von beachtlicher Eleganz, auf schwarzen Morris- Ledersesseln, einen nicht zu verachtenden Tee auf dem Tisch, die qualmende Zigarette auf der Kante der Untertasse nicht etwa geflissentlich, nicht etwa gütig, sondern 'wirklich' übersehend, wußte eine nun tatsächlich reizende Nonne, die über Fontane promoviert hatte, kurz davor stand, sich mit einer Arbeit über Gottfried Benn (!!), wenn auch nur an einer Ordenshochschule zu habilitieren, eine höchst gebildete Germanistin in schlichtem Habit (das ihr fabelhaft stand), der sogar Heißenbüttel ein geläufiger Begriff war - sie wußte von Leni. (...) "Nun kommt das Schreckliche. Werden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß dem Orden nicht das gerinste daran liegt, eine Selige oder Heilige zu kreieren, daß er am liebsten unterdrücken würde, fast dazu gezwungen ist, einen Weg zu gehen, der alles andere als populär ist? Werden Sie mir glauben?" Die Frageform des Futurums auf das Verb glauben angewandt, erschien dem Verf. aus dem Mund einer Germanistin diesen Ranges, einer "sündig" Virginiazigaretten inhalierenden Nonne, die ganz sicher, sooft sie in den Spiegel blickte, die klassische Linie ihrer kräftig- zarten dunklen Brauen, die Kleidsamkeit ihrer Nonnenhaube, die höchst verführerische Linie ihres kräftigen, offen-sinnlichen Mundes mit Wohlgefälligkeit bemerkte; die bewußt genug war, auch die Wirkung ihrer ungemein reizvollen Hände zu kennen; die, obwohl züchtig gekleidet, unter ihrem Habit eine makellose Brust 'ahnen' ließ - aus diesem Mund erschien dem Verf. die Anwendung der Frageform des Futurums in Zusammenhang mit dem Verb glauben sehr unfair! Eine simple futurgebundene Frage, wie "Werden Sie mit mir spazierengehen?" "Werden Sie um meine Hand anhalten?", ist in solchen Situationen durchaus erlaubt, aber die Frage, ob einer 'glauben wird', was er noch gar nicht gehört hat! Der Verf. war schwach genug, zustimmend zu nicken, zusätzlich, da er durch eindringliche Blicke zu verbaler Äußerung aufgefordert wurde, ein Ja zu hauchen, wie es ansonsten nur vor Traualtären gehaucht wird. (Heinrich Böll: Gruppenbild mit Dame, S. 303f.)


Böll, Heinrich: Nicht nur zur Weihnachtszeit [1]

  Unserem Drängen, vom Kriege zu erzählen, gab er nie nach; er behauptete, es lohne sich nicht. Er beschränkte sich darauf, uns hin und wieder von seiner Musterung zu berichten, die offenbar überwiegend darin bestanden hatte, daß ein uniformierter Mensch Onkel Fred mit heftiger Stimme aufgefordert hatte, in eine Reagenzglas zu urinieren, eine Aufforderung, der Onkel Fred nicht gleich hatte nachkommen können, womit seine militärische Laufbahn von vornherein unter einem ungünstigen Zeichen stand. Er behauptete, daß das lebhafte Interesse des Deutschen Reiches für seinen Urin ihn mit erheblichem Mißtrauen erfüllt habe, mit einem Mißtrauen, das er in sechs Jahren Krieg bedenklich bestätigt fand. (Heinrich Böll: Nicht nur zur Weihnachtszeit, S. 44)


Böll, Heinrich: Nicht nur zur Weihnachtszeit [2]

  Auf die Gefahr hin, mich unbeliebt zu machen, muß ich hier eine Tatsache erwähnen, zu deren Verteidigung ich nur sagen kann, daß sie wirklich eine ist. In den Jahren 1939 bis 1945 hatten wir Krieg. Im Krieg wird gesungen, geschossen, geredet, gekämpft, gehungert und gestorben - und es werden Bomben geschmissen - lauter unerfreuliche Dinge, mit deren Erwähnung ich meine Zeitgenossen in keiner Weise langweilen will. Ich muß sie nur erwähnen, weil der Krieg Einfluß auf die Geschichte hatte, die ich erzählen will. (Heinrich Böll: Nicht nur zur Weihnachtszeit, S. 50)


Bonfiglioli, Kyril: Charlie Mortdecai [1]

  Ich sage immer: Wenn der HErr gewollt hätte, daß wir zu Fuß gehen, hätte ER uns keine Flugzeuge geschenkt. Aber manchmal habe ich den Verdacht, daß er mich zu Fuß gehen lassen wollte - vielleicht zum Nutzen meiner Taille -, denn jedesmal, wenn ich mich einem Flugzeug anvertraue, geschieht etwas äußerst Garstiges - so als gälte es, meine Kühnheit zu tadeln. Auf diesem besonderen Nachmittagsflug war es ein Blitzstreik der Besatzungen. Die Fluggesellschaft hatte einen alten, von verdrehten Gummibändern angetriebenen Absturzfliegern in den Dienst gezwungen, den eine Bande abtrünniger Streikbrecher steuern sollte. Der Pilot oder Fahrer, ein ältlicher Fettsack mit kanadischem Akzent, kam kurz vor dem Abflug in die Kabine, um uns persönlich sein Willkommen zu entbieten, und erklärte, daß er den Schalter für die Lautsprecher nicht finden könne. Er sagte uns, wir sollten guten Mutes sein, er habe einen dieser Papierdrachen schon früher gesteuert. - im Zweiten Weltkrieg. Das Blut gefror in mancher Ader, doch Schlimmeres sollte folgen. Da keine Stewardessen zur Verfügung standen, nicht einmal für Bargeld, konnten während des Fluges keine nährenden Getränke ausgeschenkt werden. (...) Das Flugzeug hob auf temperamentvolle Weise ab, wobei das Geklapper seiner betagten Triebwerke beinahe übertönt wurde vom Summen der Gebete jener Passagiere, die noch nicht mit den bereitgestellten Tüten aus stabilem braunen Papier beschäftigt waren. Die Luft hatte so viele Löcher wie die Lumpen eines Bettlers, und die Ängste der Furchtsamen wurden nicht gelindert, als der Pilot erneut in die Kabine schlenderte, in der Nase bohrte und verkündete, es sei möglicherweise ratsam, die Gurte während des Fluges geschlossen zu halten. (...) Das nächste Mal, wenn Ihnen ein Idiot erzählt, nicht die Ankunft, sondern die Reise selbst sei das Ziel, können Sie ihm von mir in vollem Ernst ausrichten, daß er für eine Abbildung in einem gynäkologischen Handbuch Modell stehen soll. Ankommen ist entzückend, glauben Sie mir, vor allem, wenn der Pilot Ihres Flugzeuges drei Runden über Heathrow gedreht hat, während er verzweifelt nach dem Hebel für das Fahrwerk suchte, und schließlich in einer Abfolge von Froschhüpfern und einer Wolke aus brennendem Gummi landet. Er stand auf der Gangway, als wir ausstiegen, winkend und knicksend und hoffend, daß wir einen guten Flug gehabt hätten. Dryden starrte ihn glasig an; ich warf einen Blick auf das verblaßte Band des Ehrenabzeichens auf seiner Brust. Es war ein Blick, der Bände sprach. (Kyril Bonfiglioli: Charlie Mortdecai in Das große Schnurrbart-Geheimnis, S. 78 f.)


Bonfiglioli, Kyril: Charlie Mortdecai [2]

  ... verwandelten wir unsere letzten Kräfte darauf, die Treppe zu Drydens Räumen zu erklimmen, während unsere ausgedörrten Zungen in unseren Mündern raschelten und unser Mut einzig von der Gewißtheit aufrechterhalten wurde, daß Krüge des reinen, belebenden 'Haig und Haig' auf uns warteten, wenn wir uns nur zu ihnen durchschlagen konnten. Wir stürzten hinein und fielen mit wildem Knurren über die nahrhafte Flüssigkeit her - Hogarth oder Rowlandson hätten im Nu ihre Skizzenbücher gezückt. Wir strahlten uns an, während unsere Blutbahnen vor Vergnügen glucksten wie ein ausgetrocknetes Bächlein, das eine Flut willkommen heißt. (Kyril Bonfiglioli: Charlie Mortdecai in Das große Schnurrbart-Geheimnis, S. 81)


Bonfiglioli, Kyril: Charlie Mortdecai [3]

  Ich wurde eingelassen von einem Diener, der nach Bier roch, übernommen von einem Butler, der nach Rasierwasser roch, und in Seiner Gnaden Studierzimmer geleitet, das nach einer Zigarrensorte roch, nach der allein Herzoge trachten. Ein gerade abnorm langer Herzog entfaltete sich wie der Zollstock eines Zimmermanns aus seinem Lehnstuhl; Abschnitt um Abschnitt rastete in der Vertikalen ein, bis seine gewölbte Stirn von dem blauen Rauch umhüllt war, der sich auf der Höhe des Gesimses ballte. (Kyril Bonfiglioli: Charlie Mortdecai in Das große Schnurrbart-Geheimnis, S. 92)


Bonfiglioli, Kyril: Charlie Mortdecai [4]

  Ja, wir haben in der Tat eine sehr gründliche Untersuchung am corpus delictibus vorgenommen - unser Pathologe ist ein eifriger junger Bursche, immer auf der Suche nach dem perfekten Verbrechen. Wenn Sie sich von der Spitze eines Wolkenkratzers schmeißen würden, würde er Sie auf Schlangenbisse untersuchen und auf seltene Pflanzengifte, die die Wissenschaft nicht kennt. (Kyril Bonfiglioli: Charlie Mortdecai in Das große Schnurrbart-Geheimnis, S. 105)


Bonfiglioli, Kyril: Charlie Mortdecai [5]

  "Der normale Kunde glaubt, daß wir Landeier den lieben langen Tag mit dem Daumen im Hintern herumsitzen und jedesmal Scotland Yard rufen müssen, wenn eine alte Dame mit dem Dosenöffner zum Gaszähler geht, aber Tatsache ist, wir haben eine hochbegabte Klasse von Schurken in Oxford. Einige Gäste in unserem kleinen Hotel - ja, das ist das örtliche Kittchen - sind wirklich überaus erfinderisch. Ich könnte ein oder zwei von denen nennen, die würden Ihre Socken stehlen, ohne Ihnen die Schuhe auszuziehen." (Kyril Bonfiglioli: Charlie Mortdecai in Das große Schnurrbart-Geheimnis, S. 104)


Bonfiglioli, Kyril: Charlie Mortdecai [6]

  Wie kommt es, daß eine Technologie, die den Menschen auf den Mond geführt hat, nicht in der Lage ist, ein so elementares Gerät wie einen stillen Staubsauger hervorzubringen? Oder, wo wir schon dabei sind, einen geräuschlosen Geschirrspüler, einen gedämpften Küchenmixer? Die Antwort ist, nehme ich an, daß Frauen sie nicht kaufen würden. Das Axiom der Hausfrau ist, daß Arbeit nicht nur verrichtet werden muß, sondern daß sie hörbar verrichtet werden muß, und daß, je öfter sie ihren dösenden Ehemann dazu bewegen kann, sich wie ein schwankender Fasan aus seinem Lehnstuhl zu erheben, sein Herz darob um so mehr schmelzen wird angesichts der unaufhörlichen Plackerei seiner Gattin. Vermutlich wird der erste Mensch ein Vermögen machen, der ein Patent auf einen wirklich geräuschvollen elektrischen Lockenwickler oder einen lärmenden automatischen Sockenstopfer anmeldet. Der pfeifende Teekessel hat die Richtung gewiesen. (Kyril Bonfiglioli: Charlie Mortdecai in Das große Schnurrbart-Geheimnis, S. 131f.)


Bonfiglioli, Kyril: Charlie Mortdecai [7]

  "Hände in die Luft, Gentlemen!" Eine unvertraute Stimme - halb Mann, halb Frau, halb automatische Ansage - bellte hinter uns. Wir drehten uns um, Hände in der Luft. Aber die Eigentümerin der Stimme war uns nur allzu vertraut. "Petal!" rief Holmes aus. Vor uns stand die monströse, riesenbrüstige Polizistin, die ich zum ersten Mal in der Polypenwache von Buckinghamshire gesichtet hatte. Mit ein paar angehängten Drähten und dem gelegentlichen Explodieren von Helium in ihrem Arsch hätte sie eine lohnendere Anstellung als Sperrballon finden können. Kopfstehend auf einem grasbewachsenen Hügel in einem Stadtzentrum wäre sie eine todsichere Anwärterin auf eine Goldmedaille des Königlichen Instituts Britischer Architekten (RIBA) gewesen. Aber gegenwärtig richtete sie ein doppelläufiges Gewehr auf uns. "Petal, meine Liebe, was tun Sie hier?" Holmes sprach zu ihr mit einer dieser sanften, freundlichen, fürsorglichen Stimmen, die bei der Polizei für übergewichtige weibliche Wahnsinnige mit Gewehren vorgesehen sind. (Kyril Bonfiglioli: Charlie Mortdecai in Das große Schnurrbart-Geheimnis, S. 269)


Bonfiglioli, Kyril: Nimm das Ding da weg! [1]

  Ich machte mich an den täglichen Schrecken des Aufstehens. Mit gelegentlicher Hilfestellung durch Jock schleppte ich mich vorsichtig von der Dusche zum Rasierapparat, von der Dexedrin zu der unerträglichen Entscheidungsfindung, welche Krawatte ich tragen sollte, und erreichte vierzig Minuten später wohlbehalten den Frühstückstisch mit dem einzigen Frühstück, das diesen Namen verdient - das Eisenbahner-Frühstück, bei dem der Kaffee in der großen Tasse durch Rum wie mit Spitze und Filigran verziert wird. Ich war endlich wach. Mir war nicht übel geworden. Die Welt hatte mich wieder. (Kyril Bonfigliolo: Nimm das Ding da weg!)


Bonfiglioli, Kyril: Nimm das Ding da weg! [2]

  Wir warteten mehr oder weniger schweigend auf den Kaffee. Martland versuchte ein Schwätzchen übers Wetter. Er gehört zu den Leuten, die immer wissen, wann das nächste V-förmige Tief von seinem Schlafplatz über Island aufbricht. Ich erklärte freundlich, daß ich Meteorologie schlecht einschätzen könne, solange ich noch nicht meinen Morgenkaffee getrunken hätte. (Woher kommt bloß diese sonderbare britische Obsession bezüglich des Wetters? Wie können bloß erwachsene männliche Weltreich- Erbauer darüber diskutieren, ob es regnet, geregnet hat oder regnen wird? (Kyril Bonfigliolo: Nimm das Ding da weg!)


Bonfiglioli, Kyril: Nimm das Ding da weg! [3]

  "Jock", sagte ich, "ich gehe wieder ins Bett. Bitte bring mir doch sämtliche Londoner Telefonbücher, einen Shaker voll Cocktails - die Sorte ist egal, überrasch mich mal - und jede Menge Sandwiches aus weichem Weißbrot und mit Brunnenkresse." Für Dauertelefonate ist das Bett der ideale Ort. Es ist zudem ausgezeichnet geeignet, wenn man lesen, schlafen oder einem Kanarienvogel zuhören will. Es ist absolut nicht geeigent für Sex; Sex sollte im Sessel, im Badezimmer oder auf Raenflächen, die geharkt, aber seit längerem nicht mehr gemäht wurden, stattfinden oder, wenn man zufällig beschnitten ist, an einem Sandstrand. Wenn man zu müde für Geschlechtsverkehr außerhalb des Bettes ist, ist man wahrscheinlich überhaupt zu müde und sollte mit seinen Kräften haushalten. Frauen sind begeisterte Verfechterinnen von Sex im Bett, weil sie (gewöhnlich) eine schlechte Figur verbergen und (immer) kalte Füße haben, die sie wärmen wollen. (Kyril Bonfigliolo: Nimm das Ding da weg!)


Bonfiglioli, Kyril: Nimm das Ding da weg! [4]

  Jock hatte, seinem Auftrag entsprechend, offensichtlich alle Alarmeinrichtungen miteinander verbunden, und als Martland, meisterlich auf Zelluloid gebannt, sich seinen Weg durch meine Eingangstür bahnte, hatte er sicherlich mit einer Bull-O-Bashan- MK-IV-Sirene Bekanntschaft geschlossen und war in einem mächtigen Schauer aus der automatischen Sprinkleranlage geraten. Zudem hatte wohl eine durchdringend schrille Alarmglocke, die unerreichbar hoch über der Haustür angebracht war, zu dem Spaß beigetragen, und auf dem Polizeirevier in der Half Moon Street wie auch bei der Niederlassung einer international bekannten Wachgesellschaft in der Bruton Street, die ich stets nur die "Feste-drauf-Jungens" nannte, hatten blinkende Lichter verrückt gespielt. Eine niedliche kleine, japanische Kamera, die automatisch Momentaufnahmen macht, hatte pausenlos von ihrem luftigen Standort im Kronleuchter aus geklickt, und dann - das war das Schlimmste - war sicher die zänkische Concierge aufgebracht die Treppe heraufgestapft, wobei ihre bösartige Zunge wie die Viehpeitsche eines Buren hin und her zischte. (Kyril Bonfigliolo: Nimm das Ding da weg!)


Bonfiglioli, Kyril: Nimm das Ding da weg! [5]

  Ich spazierte um den Wagen herum und bewunderte ihn platonisch. Es hatte keinen Zweck, sich ihn zu wünschen - es war ein Auto für reiche Leute. Er würde pro Meile mehr als einen Liter Benzin verbrauchen, was in Ordnung ist, wenn man ein Ölfeld besitzt. Milton Krampf besitzt eine Menge Ölfelder. Alles in allem würde ihn der Wagen an die 24.000 Pfund kosten. Das zu bezahlen, würde ihm ungefähr genauso weh tun, wie in der Nase zu bohren. (Es heißt, daß ein Mann, der weiß, wie reich er ist, gar nicht reich ist - nun, Krampf weiß es. Jeden Tag ruft ihm eine Stunde nach Eröffnung der New Yorker Börse ein Mann an und erklärt ihm genau, wie reich er ist. Das ist der Höhepunkt seines Tages. (Kyril Bonfigliolo: Nimm das Ding da weg!)


Bonfiglioli, Kyril: Nimm das Ding da weg! [6]

  Schließlich flüsterte Martland eine Spur zu laut: "Vielleicht solltest du die alte Schnalle auffordern zu gehen." Mrs. Spon fuhr zu ihm herum und giftete ihn an. Ich hatte von ihren diesbezüglichen Talenten gehört, aber noch nie den Vorzug genossen, dabeizusein, wenn sie ihr verbales Füllhorn ausschüttete. Es war ein sprachliches und emotionales Fest, und Martland schrumpfte sichtlich. Wenn es darum geht, so richtig vom Leder zu ziehen, kann keiner einer wohlerzogenen, dreimal geschiedenen Frau das Wasser reichen. (Kyril Bonfigliolo: Nimm das Ding da weg!)


Bonfiglioli, Kyril: Nimm das Ding da weg! [7]

  Aus praktischen Gründen kann der Normalverbraucher Botschafter in zwei Kategorien einteilen: In die dünnen, die zumeist verbindlich, wohlerzogen und leutselig sind, und in die fleischigen, die nichts von alledem sind. Seine augenblickliche Exzellenz gehörte eindeutig der zweiten Kategorie an; seine großflächige Visage war feist, von Pockenarben zerfurcht und so mit Pusteln, Mitessern und geplatzten Äderchen übersät, daß sie an eine Flächenkarte des Trossach Tals in Schottland gemahnte. Sein enorm großer, plaumenfarbener Kinnlappen hing schlaff herab, und beim Sprechen besprühte er sein Gegenüber mit Speichel. Ich konnte es nicht übers Herz bringen, ihn zu lieben, aber der arme Kerl war vermutlich auf Geheiß der Labour Party dort - die Flure seiner Machtbefugnis reichten nur bis aufs Herrenklo. (Kyril Bonfigliolo: Nimm das Ding da weg!)


Bourdeaut, Olivier: Warten auf Bojangles

  "Mein Kleiner, im Leben gibt es zwei Sorten von Menschen, die sollte man um jeden Preis meiden. Vegetarier und Profiradsportler. Erstere, weil ein Mann, der sich weigert, ein Steak zu essen, in seinem früheren Leben garantiert ein Menschenfresser war. Und Letztere, weil ein Mann, der sich ein Zäpfchen auf den Schädel schnallt und sein Säckel in eine hässliche, grelle Hose zwängt, um auf dem Fahrrad einen Berg hochzustrampeln, nicht ganz bei Trost sein kann. Ich rate dir, junger Mann, solltest du je einem vegetarischen Radsportler begegnen, remple ihn fest um, so gewinnst du Zeit, und nimm die Beine in die Hand!" (Olivier Bourdeaut: Warten auf Bojangles)


Bove, Emmanuel: Menschen und Masken

  Trotz des Hasses, den Max Rojais für Persönlichkeiten hegte, war er außerordentlich liebenswürdig, wenn eine ihn ansprach. Da er einen Teil seines Lebens damit verbracht hatte, sich um sie zu bemühen, stundenlang auf sie warten, sie trotz ihrer Geringsschätzung zu befragen, durch ein Fenster einzusteigen, wenn man ihn von der Tür vertrieb, konnte er gegen seinen Willen nicht anders, als sie anzulächeln. Er hatte das Gemüt eines Soldaten, den man in den Tod schicken kann, vorausgesetzt, man appeliert an seine guten Seiten, das eines Domestiken, der an seiner Herrschaft hängt, wenn sie ihm gegenüber liebenswürdig, so war er entwaffnet und bestrebt, in seinen Artikeln ein sympathisches Bild von seinem Gesprächspartner wiederzugeben. Er versagte es sich jedoch nicht, in der Folge das Schweigen des Interviewten, der kein Lebenszeichen mehr von sich gab, da er keine Rücksicht mehr zu nehmen brauchte, als Undankbarkeit zu deuten und ihn unter die Vielzahl von Undankbaren einzuordnen, von denen er sich umgeben glaubte. (Emmanuel Bove: Menschen und Masken, S. 104f.)


Bove, Emmanuel: Menschen und Masken [2]

  Monsieur Dumesnil hatte die Angewohnheit, den Leuten zu gratulieren. Er gratulierte allen. Er gratulierte seinem Sohn, wenn dieser pünktlich zum Essen kam. Er gratulierte seiner Frau, wenn sie etwas eingekauft hatte. Die Bedeutung, die er sich beimaß, hatte ihn, ohne daß es ihm bewußt war, dazu verleitet, daß er dem Bedürfnis, anderen zu gratulieren, nicht widerstehen konnte, so überzeugt war er davon, ein Kompliment von ihm bereite Freude. (Emmanuel Bove: Menschen und Masken, S. 106)


Bove, Emmanuel: Ein Junggeselle

  Sie gefiel sich darin zu behaupten, sie habe in ihrem Leben viele Enttäuschungen erlebt und die Ehe sei nicht das, was sie sich als junges Mädchen darunter vorgestellt habe. Aber gleichzeitig bekundete sie eine gewisse Heiterkeit, eine gewisse Freude an Nebenbeschäftigungen, die ihre Worte auf sonderbare Weise widerlegten. Sie beschwor diesen Widerspruch ganz bewußt herauf, weil sie gerne auf ihn aufmerksam machte; denn seit Jahren hatte sie stets eine Antwort parat. So behauptete sie, man müsse sich seine eigene Philosophie zurechtlegen, das Leben geize trotz mancher Unannehmlichkeiten nicht mit den Stunden des Glücks. (Emmanuel Bove: Ein Junggeselle, S.9)


Bowles, Paul: Himmel über der Wüste [1]

  Tunner gehörte zu der Sorte Menschen, denen es nur selten einfiel, daß sie vielleicht ausgenützt werden könnten. Da er gewöhnt war, anderen seinen Willen aufzuzwingen, ohne auf Widerstand zu stoßen, hatte er eine stark entwickelte und sehr männliche Eitelkeit, die ihn seltsamerweise bei fast jedermann beliebt machte. Der Hauptgrund, warum er so darauf versessen gewesen war, Port und Kit auf dieser Reise zu begleiten, war zweifllos der, daß er bei ihnen wie bei niemand anderem auf einen ausgesprochenen Widerstand gegen seine unaufhörlichen Versuche, zu dominieren, stieß. Dadurch wurde er gezwungen, in ihrer Gegenwart seine Anstrengungen zu verstärken und damit unbewußt seiner Persönlichkeit das Maß an geistigem Training zu geben, das sie benötigte. (Paul Bowles: Himmel über der Wüste, S. 56)


Bowles, Paul: Himmel über der Wüste [2]

  Tunner selbst war ein äußerst unkomplizierter Charakter, der unwiderstehlich angezogen wurde von allem, was außerhalb seiner geistigen Auffassungsgabe lag. Sich damit zufrieden gebend, eine Idee eben nicht zu begreifen, war eine Angewohnheit, die er im Jünglingsalter erworben hatte und die ihm jetzt in verstärktem Maß zu eigen war. Wenn er einen Gedanken völlig begriffen hatte, glaubte er, er müsse deshalb ein inferiorer Gedanke sein; er mußte irgendwo unverständlich bleiben, um sein Interesse zu erwecken. Diese Beobachtung spornte ihn jedoch nicht zu weiterem Nachdenken an. Im Gegenteil, sie versah ihn lediglich mit einer gefühlsmäßigen Bewunderung für die Idee, die es ihm ermöglichte, auszuruhen und sie aus der Ferne zu bestaunen. (Paul Bowles: Himmel über der Wüste, S. 57)


Boyle, T.C.: Wassermusik [1]

  Während die meisten jungen Schotten seines Alters Röcke lüpften, Furchen pflügten und die Saat aussäten, stellte Mungo Park dem Emir von Ludamar, Al-Hadsch' Ali Ibn Fatoudi, seine bloßen Hinterbacken zur Schau. Man schrieb das Jahr 1795. Georg III. beschmierte in Schloß Windsor mit seiner Spucke die Wände, in Frankreich verpatzte das Directoire so ziemlich alles. Goya war taub, Thomas De Quincey ein verdorbener präpubertärer Bursche. George Bryan "Bean" Brummel strich gerade seinen ersten gestärkten Kragen zurecht, der junge Ludwig van Beethoven, ein Vierundzwanzigjähriger mit buschigen Augenbrauen, machte in Wien mit seinem Zweiten Klavierkonzert Furore, und Ned Rise saß mit Nan Punt und Sally Sebum vor einer Flasche Wacholderfluch in der "Sauf Syph-Taverne" auf Maiden Lane. (T.C. Boyle: Wassermusik, S.13)


Boyle, T.C.: Wassermusik [2]

  Sie brachen zu Fuß auf. Flußaufwärts, in Frukabu, machte der Entdeckungsreisende Halt, um ein Pferd zu erstehen. Der Besitzer war ein Mandingo- Salzhändler. "Wirklich ein Spottpreis", sagte er, "für so ein rassiges Füllen." Sie fanden das Tier hinter einer Rutenhütte am anderen Ende des Dorfes angepflockt. Es stand inmitten einer Hühnerschar, knabberte Disteln und glotzte sie blöde an. "Prächtige Zähne", sagte der Salzhändler. Das Pferd war kaum größer als ein Shetlandpony, auf einem Auge blind und so ausgemergelt, wie es steinalte Greise manchmal sind. Offene Geschwüre, grün vor Schmeißfliegen, übersäten die rechte Flanke, und eine gelbliche Flüssigkeit wie dünner Haferbrei tropfte ihm aus der Nase. Am allerschlimmsten war aber wohl, daß das Tier zu senilen Fürzen neigte - gewaltige Gasausbrüche, die die Sonne vom Himmel wischten und die ganze Umwelt zur Senkgrube machten. "Rosinante!" scherzte Johnson. Der Entdeckungsreisende verstand die Anspielung nicht. Er kaufte das Pferd. (T.C. Boyle: Wassermusik, S. 26)


Boyle, T.C.: Grün ist die Hoffnung [1]

  In meiner Kindheit hatte nichts auf eine Verbrecherlaufbahn hingedeutet. Ich war kein Waisenkind, ich wurde nicht geschlagen oder ausgesetzt, ich hing nicht, eine Zigarette im Mundwinkel und ein Stilett in der Tasche, an Straßenecken herum, ich hatte weder einen Dachschaden infolge jahrelanger Aufenthalte in Erziehungsheimen noch war ich moralisch und körperlich ausgezehrt, weil ich auf taubenverschissenen Treppen im Ghetto Heroin gefixt hatte. Nein – ich war ein Kind der Mittelschicht, ich wurde mit Schokoriegeln, Fertiggerichten und Antibiotika gefüttert, bis ich meine Eltern überragte wie der riesenfüßige Abkömmling einer anderen Spezies, wie ein Kuckuckskind, das von Spatzen großgezogen wurde. (...) Selbstverständlich brach ich, wie jeder andere ordentliche Bürger mit unveräußerlichen Rechten, regelmäßig das Gesetz, indem ich verbotene Substanzen erwarb und konsumierte, gewohnheitsmäßig mit mehr als hundert Kilometern pro Stunde über die Schnellstraßen brauste, auf Wasserbetten und in Yacuzzis vögelte, öffentlich urinierte, mich wissentlich und vorsätzlich in die Gesellschaft von Menschen begab, die usw., usw. Andererseits warf ich weder Abfall auf die Straße noch war ich ein Erpresser, Einbrecher, Räuber, Schläger, Vergewaltiger oder Mörder. Ich war einunddreißig, ausgestattet mit der Umsicht und dem Konservatismus der Reife, und konnte mit einigem Recht behaupten, vielleicht nicht gerade eine Stütze der bürgerlichen Gesellschaft, aber doch einer ihrer Strebebogen zu sein. (T.C. Boyle: Grün ist die Hoffnung)


Brandstetter, Alois: Vom Schnee vergangener Jahre

  Auswüchse gab es natürlich auch bei den Volksbräuchen um das Sternsingen. Die Sternsinger, die in meiner Kindheit von Hof und Hof und von Haus zu Haus durch die verschneite Landschaft stapften (oder bei mildem und schneelosen Wetter manchmal mit dem Rad, dem sogenannten Drahtesel, fuhren.), haben Schnaps und Most zu trinken bekommen, sodaß sie abends oft schon betrunken waren und ihr "Die haülign drei Kinign hand do" und ihre Neujahrswünsche mehr lallend als feierlich singend vortrugen. Wegen der Trinkerei mußten sie unterwegs auch ständig austreten. Es machte aber kein schönes Bild, wenn man immer wieder nach den Hausbesuchen die drei Könige am Straßenrand stehen und umständlich in ihren vielen Kleidern wühlen und etwas suchen sah, um dann mit dem Gefundenen gelb in den Schnee zu zeichnen. (Alois Brandstetter: Vom Schnee vergangener Jahre, S. 133)


Brandstetter, Alois: Die Abtei

  Die Menschen des Altertums hatte nämlich etwas anderes, und zwar Besseres, versteh mich bitte richtig, etwas Wichtigeres und Nützlicheres zu tun, als sich ständig zu waschen, wie wir es praktizieren. Heute liegen die Menschen doch ganze Leben lang in Badewannen herum. Was vergeuden die Menschen doch Zeit mit sogenannter Hygiene und Kosmetik. Natürlich, mein Abt, wenn der Mensch innerlich hohl und leer ist und an und für sich zu nichts Gutem und Rechtem taugt, dann kann er meinetwegen auch den halben Tag im Badezimmer zubringen, in Schaumbädern und Crembädern planschen und an sich herumreiben und schrubben, er ist bereits so viel wie tot, für die Menschheit gestorben, es ist nur, als ob er sich noch einbalsamieren möchte. Natürlich ist ein solcher Mensch das warme Wasser und die Energie nicht wert, die er verbraucht, aber er soll sie meinetwegen haben. Ein solcher Mensch denkt sich offenbar, mein Körper ist zwar zu nichts nütze, aber ich pflege ihn wenigstens. Sein Körper eignet sich zu sonst nichts als zu seiner Pflege. (Alois Brandstetter: Die Abtei, S. 50)


Brandstetter, Alois: Über den grünen Klee...

  Durch das kleine Fenster unseres Lagers beobachteten wir aber auch das unbeschreibliche Elend der Vertriebenen, die auf Pferdefuhrwerken, bepackt mit den geretteten Habseligkeiten, die Straße entlangzogen. Obwohl wir, jedenfalls die Kleineren in der Gruppe, nicht wußten, worum es sich eigentlich bei dem ganzen Verkehr und den vielen ernsten, schwarzgekleideten Menschen handelte, und alles für zwar aufregend, aber auch wieder für normal und natürlich ansahen, kam angesichts dieser Völkerwanderung in unserer Höhle doch eine gewisse Betroffenheit auf, und die sonst stets vorhandene Bereitschaft und Lust zu Übermut legte sich. Die Älteren wußten natürlich, daß diese Menschen dort draußen keinen Ausflug und keine Landpartie unternahmen, was vielleicht die Jüngeren dachten, und mancher sah traurig aus unserem anheimelnden Nest auf die vielen heimatlosen Kinder und übermüdeten alten Leute hinaus. "Macht jetzt das Fenster zu", sagte der Karl, "wir rauchen noch eine!" Letztlich waren wir Kinder durch unseren natürlichen Unverstand vor dem Schrecken noch am besten geschützt. Kinder sind lieb und lieblos, herzig und herzlos zugleich. (Alois Brandstetter: Über den grünen Klee der Kindheit, S. 16f.)


Brandstetter, Alois: Über den grünen Klee... [2]

  Eines schönen Sonntags zur Erntezeit sollte ich mit meinen übrigen Geschwistern bei der Heuarbeit helfen. Dazu fehlte mir aber jede Lust, ich freute mich im Gegenteil darauf, während der Abwesenheit der Hausleute im Garten einige Runden mit dem Motorrad zu drehen. Ich war ungefähr zwölf Jahre alt, aber schon sehr bibelfest. So sagte ich während des Essens, daß die Sonntagsarbeit gegen Gottes Gebot sei: Du sollst den Tag des Herrn heiligen. Auch das Kirchengebot würde damit verletzt: Du sollst die kirchlichen Feiertage nicht durch knechtliche Arbeiten verunehren. Leider hatte aber gerade an jenem Sonntag, wie zur Erntezeit üblich, der Pfarrer beim Gottesdienst die Arbeit erlaubt und knechtliche Arbeit freigestellt. Ich mußte darum päpstlicher als der Papst sein. Jedenfalls sagte ich, daß ich mein Gewissen durch die Erlaubnis des Pfarrers nicht völlig entlastet sähe und daß ich darüber hinaus gewillt sei, den Tag des Herrn trotz dieser Erlaubnis radikal und total zu heiligen. So wie manche den Wehrdienst verweigern, so verweigerte ich aus Gewissensgründen den "Arbeitsdienst". Die Eltern wollten das vorerst nicht gelten lassen, und Vater fragte mich, ob ich nicht auch schon vom Vierten Gebot gehört hätte: Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß du lange lebst und es dir wohl ergehe auf Erden. Ich wandte aber ein, daß ich es mit dem zweiten der Zehn Gebote zu tun habe. Laß ihn, sagte die Mutter, wenn er nicht will. Faulenzer, sagte der Vater. So hatte ich das Prüfungsverfahren doch irgendwie bestanden und durfte "gamen", das heißt zu Hause bleiben und das Haus hüten. (Alois Brandstetter: Über den grünen Klee der Kindheit, S. 29)


Brandstetter, Alois: Über den grünen Klee... [3]

  Früher konnte mir auch auf dem Gebiet der Zimmermalerei nichts pastos und glänzend genug sein, nun tendiere ich zu einer ganz neuen Sachlichkeit. So habe ich seinerzeit zwei alte Betten, die ich im Haus vorfand, grell angepinselt, das eine orange, das andere in einem giftigen Grün, beides wahre Schockfarben. Ich bin damals auch davon ausgegangen, daß meine Besucher, wenn sie in meinem Haus übernachteten und abends getrunken hatten, so ihr jeweiliges Bett im Gästezimmer leichter finden könnten. Ähnlich wie auch die Bienen ihr Einflugloch am Bienenhaus unter anderem an den dort aufgemalten Signalfarben erkennen... (Alois Brandstetter: Über den grünen Klee der Kindheit, S. 97)


Brandstetter, Alois: Über den grünen Klee... [4]

  Lesen und Studieren führten nach der Ansicht meines Vaters nahezu zwangsläufig in den Wahnsinn. Er erzählte oft von einem weitschichtig verwandten Bauern aus dem Innviertel, der seinen Sohn in Wien "auf einen Rechtsanwalt" studieren ließ. Von einem solchen Studium sagte der Vater, daß es sündteuer sei und ein Bauernhaus verschlinge und leicht ins Verderben führe. Dies ist keine niedrige, sondern im Gegenteil eine sehr hohe Meinung vom Studieren. Im Falle des weitschichtig Verwandten sei der schlußendliche Effekt des ganzen väterlichen Ehrgeizes gewesen, daß der Bauer um seinen Besitz und der Sohn um den Verstand gekommen sei. Als Gewerbetreibender mit einklassiger Volksschule hatte der Vater außerdem Zeit seines Lebens die Studierten als seine natürlichen Feinde und als diejenigen erfahren, die ihn schikanierten und herumkommandierten, von den Vorgesetzten beim Militär und der Wasserrechtsbehörde mit ihren ständigen kleinlichen Beanstandungen über die Ärzte mit ihren horrenden Honoraren, nachdem ihm die erste Frau im Wochenbett gestorben war, bis zu den Nachstellungen des Finanzamtes. Daß man von ihm eine Buchführung erwartete, erschien ihm eine Zumutung. Er wollte nur arbeiten und sich im übrigen schätzen (pauschalieren) lassen, wie es hieß. Ich bin mir sicher, daß die Studierten seinen Arbeitseifer unterschätzt hätten. Buchführen war ihm wie Bücher lesen. Wer studierte, wollte offenbar die Bosheit erlernen und wie man die einfachen Leute, die Bauern und Arbeiter, übers Ohr haut. Ein Sprichwort nämlich hieß: Eine gute Goschen ist besser als ein schlechtes Bauernhaus. Lesen und Studieren war unsere Sache nicht. Und es war allgemeine Überzeugung, daß gerade Kinder aus unteren Schichten durch Studieren wahnsinnig würden. (Alois Brandstetter: Über den grünen Klee der Kindheit, S. 96f.)


Brandstetter, Alois: Über den grünen Klee... [5]

  Mit vierzehn Jahren begann ich eine Serie von Selbstbildnissen. Ich bespiegelte mich von allen Seiten. Manchmal versetzte ich mich auch in so bizarre Posen, daß mich diese Verrenkungen sehr beim Zeichnen behinderten, das Modell war dem Maler im Weg. Meine Selbstbildnisse sind der sinnfällige Ausdruck eines unübersehbaren Nazißmus. Ich blickte aber so lange in den Spiegel, bis ich mir selbst völlig rätselhaft und fremd wurde und wahnsinnig zu werden meinte. Ich erwarb über mich keine Klarheit, sondern handelte mir im Gegenteil eine Identitätskrise ein. Bei meinen Selbstbildnissen mangelte es übrigens völlig an der Kennbarkeit, jedes Selbstbildnis war so gesehen ein Selbstmord. Immer bin ich mir älter und finsterer geraten. Nichts aber hat mich so gekränkt wie die Frage: Wer soll denn das sein? Und wie oft habe ich mir den Hinweis auf den Willi anhören müssen, der alle so gut "erwischte". (Alois Brandstetter: Über den grünen Klee der Kindheit, S. 104f.)


Brandstetter, Alois: Über den grünen Klee... [6]

  Irgendwo habe ich einmal gelesen, daß alles das, was die Menschen der Natur antun, in Erfüllung des Schöpfungsauftrages geschehe: Macht euch die Erde untertan. Das hat wohl auch einmal einen Sinn gehabt, als sich die Menschen durch die undurchdringlichen Wälder der Vorzeit einen Weg bahnten. Wenn sie aber nun quer durch den Schießling und das Linnet, zwei kleine Bauernwälder vor Wels, eine Schneise schlagen und abholzen, daß links und rechts der Autobahn grad noch einige schütter und verloren wirkende Bäume übrigbleiben, die sich der Wind bald holen wird, so kann es sich dabei nur schwerlich um ein gottgefälliges Werk handeln. (Alois Brandstetter: Über den grünen Klee der Kindheit, S. 145)


Brandstetter, Alois: Hier kocht der Wirt

  Wenn jeder, der seinen Amtspflichten nicht ganz entspricht, sein Amt aufgeben würde, habe ich gesagt, dann wären ja fast alle Ämter unbesetzt. Es hat immer wieder kranke Gesundheitsminister und geschiedene Familienminister oder - ministerinnen, untaugliche Verteidigungs- und Kriegsminister und asoziale Sozialminister und ungebildete Unterrichtsminister und adelige Landwirtschafsminister, die mehr nach Parfum als nach Jauche gerochen haben, gegeben und Steuerhinterzieher als Finanzminister und so fort. Wir haben Wissenschaftsminister gehabt, die kaum bis fünf zählen und die nicht mehr Latein gekonnt haben als ich, Peter Glantschnig, und Außenminister, die nur Latein und nicht Englisch gekonnt haben. Der langen Rede kurzer Sinn ist, habe ich zu den Gerlamoosern gesagt, habe ich zum Wiener gesagt, daß das Ideal und die Wirklichkeit immer auseinanderklaffen. Nur soll die Kluft halt nicht himmelschreiend sein. (Alois Brandstetter: Hier kocht der Wirt, S. 112)


Brandstetter, Alois: Kleine Menschenkunde [1]

  Allmählich wird einem die richtige Schreibung des Namens zu einem Prüfstein, der Emil zum Prüfbuchstaben, ob es jemand wirklich ernst mit einem meint oder ob er sich mit einem nur approximativ und ungefähr und beiläufig beschäftigt. (...) Ich würde in meiner Pedanterie gern so weit gehen, zu sagen, daß jemand, der einen Eigennamen verschreibt, gegen das Menschenrecht der Integrität und Unverletzlichkeit der Person verstößt. (Alois Brandstetter: Kleine Menschenkunde, S. 10)


Broyard, Anatole: Verrückt nach Kafka [2]

  Sie war die beste Tänzerin im Lokal. Eine Kubanerin mit Schlitzaugen und einem vorspringenden Arsch, der so hart wie Stein wirkte. Sie hatte ein grausames, mürrisches Gesicht, dessen Ausdruck nie wechselte, während sie eine scheinbar endlose Serie improvisierter Tanzfiguren erfand. Wie jeder andere junge Amerikaner männlichen Geschlechts nahm ich an, sie wüßte mehr über Sex als ich oder sei näher an ihm dran als ich. Ich dachte, sie konnte so gut tanzen, weil sie ihre Sexualität richten konnte, wohin sie wollte. Ich begehrte sie, so wie man sich nach einer Safari oder nach der Südsee sehnt. Ich begehrte sie sie, so wie es einen manchmal nach einem mexikanischen Essen verlangt, das einem den Mund verbrennt. Ich sah in ihr einen Test, den ich unbedingt bestehen wollte. Außerdem war sie viel authentischer in ihrem 'Anderssein' als jede Frau, die ich bis dahin kennengelernt hatte. (Anatole Broyard: Verrückt nach Kafka. Erinnerungen an Greenwich Village, S. 143)


Brandstetter, Alois: Kleine Menschenkunde [2]

  Gegenüber der Zeit nach der Jahrhundertwende sind die Bärtigen, absolut gesehen, wohl weniger geworden, sie sind aber, nachdem sie vorübergehend fast ausgestorben schienen, deutlich im Vormarsch, also relativ zahlreich. Lauter Künstler können das nicht sein. Da stünde es anders um unsere Kunst. Einen anderen Professor, der ebenfalls einen Zatschek-Freud-Bart trägt und im Fernsehen volkstümliche Sendungen über Tierkunde macht, hörte ich vor einiger Zeit sagen: Keinem Tier würde es einfallen, sich ein sekundäres Geschlechtsmerkmal wegzuschneiden. Die Rasur hielt der Spitzbart für eine Selbstverstümmelung und Kastration. Doch ist, lieber König der Tiere, auch noch kein Lebwesen gesehen worden, das sich ausrasiert, also bloßen einen Spitz-, Backen-, Kinn, Schnurr- oder Lippenbart getragen hätte oder einen in irgendeiner anderen Weise ornamentierten und geometrisierten Bart. So eitel ist die unvernünftige Kreatur nicht. (Alois Brandstetter: Kleine Menschenkunde, S. 75)


Brandt, Matthias: Raumpatrouille

  Im Bus hatte man als sitzendes Kind zwei potenzielle Feinde: Soldatenwitwen und Invaliden, meist Einarmige oder -beinige, auch Männer mit unheimlichen Vertiefungen in den kahlen Schädeln oder mit violetten, in ihrer Form an die Kontinente im Diercke Weltatlas erinnernden Brandmalen. Sie waren Übriggebliebene, Zeugen des großen Krieges, der noch nah und für uns Kinder ein reicher Fundus an durchaus attraktivem Grusel war. Die einen wie die anderen dieser Mumien waren aus nachvollziehbaren Gründen schlecht gelaunt und nicht zimperlich, wenn es darum ging, Kinder von den Sitzen zu jagen. (Matthias Brandt: Raumpatrouille. Geschichten)


Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn [1]

  Die junge Konsumleiterin sprach einen niederschlesische Dialekt, wie sie Eduard erklärte. Und sie war begabt, wie er vermutete. Sie sang genauso leicht Harmonien wie Dissonanzen. Wenn es einen übermächtigen, allwissenden Dirigenten geben würde, der das Orchester des Lebens anführte, dann stünde sie nicht hier singend im Leitungsbüro des Konsums Rote Plombe in Erfurt-Nord herum, sondern auf den Bühnen der großen Musiketablissements. Ihre Lebenssymphonie bestand jedoch bis dahin aus den Akkorden ihrer lebenserfahrenen Mutter, die "Land, drei Männer und Flausen im Kopf aufgegeben hatte" (Mutter). Anna schaffte es als fünftes von acht Kindern in die Stadt, in die nächstgrößere. Sie probte einmal in der Woche mit sechs Musikern im Kulturraum des Betriebswohnheims und spielte ab und zu auf regionalen Liederfestivals, auf denen sie wegen ihres avantgardistischen Repertoires (Schönberg, Strawinsky und so weiter) und den experimentellen Texten oft als "Konzeptstelzen!" (Publikum) ausgebuht wurden. Sie dagegen taten die gefeierten Liedermacher als "Biermannschleudern!" ab. (Emma Braslavsky: Aus dem Sinn)


Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn [2]

  Was hast du? Bist du krank? Bosche moj! Was machen die hier mit dir, mein armes Mädchen! (Als sie "die hier" sagte, sah sie den Beamten auf ihre scheue Art verächtlich von der Seite an.) Nadja seufzte. Ist schon gut, Mutter. Ich bin nicht krank, nur schwanger. Und sie behandeln mich gut. Ihre Mutter stellte das Heulen ein und sah sie verwundert an. Schwanger?! Hinter ihren trockenen Augen kam wieder diese Wüste auf, durch die Nadja ihre ganze Kindheit hindurchgemußt hatte. Dieses Kamelglotzen! Ein Blick, der nirgendwohin führte, eine sibirische Tugend, eine Ich-Versunkenheit zwischen zu großen Birkenwäldern und unendlich viel ödem Rußland, wie ein schüchternes, ja ängtlich-stilles Spähen in den eigenen Hinterwald, das nur eine Ohrfeige hätte beenden können. (Emma Braslavsky: Aus dem Sinn)


Bremer, Jan Peter: Der amerikanische Investor

  Er öffnete die Augen und sah zur Decke hinauf. War die Angst vor Verschwendung in ihm so mächtig, weil die Zukunft ihm so leer erschien, und war die Art, wie er heizte, nicht deshalb sogar ein Abbild seiner selbst? Was genau hinderte ihn daran, ein paar Kohlen mehr in die Öfen zu legen. War es vielleicht das Bemühen, ein nicht gerade erfolgreiches Leben auf kleiner Flamme fortzusetzen, war es vielleicht schon ein Einigeln in ein Dasein, das keinen Luftsprung mehr voraussah, oder war es schlichtweg Rechthaberei, die ihn, wider besseres Wissen und also auf ekelhafte Weise, behaupten ließ, es sei auch mit drei Kohlen im Ofen über den Tag schon warm genug? Gönnte er sich vielleicht selbst keine Wärme mehr und bestand sein Leben nur mehr aus dem Wunsch, seine Familie in seine innere Kälte mit hineizuzwingen? (Jan Peter Bremer: Der amerikanische Investor, S. 101)


Brontë, Anne: Die Herrin von Wildfell Hall [1]

  Mrs. Wilson brillierte mehr denn je mit ihrem reichen Schatz an letzten Neuigkeiten und alten Skandalgeschichten, die sie durch nebensächliches Fragen und Bemerkungen verknüfte oder auch durch häufig wiederholte Äußerungen, die offensichtlich nur den Zweck erfüllten, ihren niemals erlahmenden Sprechwerkzeugen auch nicht einen Augenblick der Ruhe zu gönnen. Sie hatte ihr Strickzeug mitgebracht, und es schien, als habe ihre Zunge mit ihren Fingern die Wette abgeschlossen, daß sie ihnen an hurtiger und nimmermüder Beweglichkeit noch überlegen sei. (Anne Brontë: Die Herrin von Wildfell Hall, S. 51)


Brontë, Anne: Agnes Grey [1]

  Es war wirklich erfrischend, eine solche Predigt zu hören, nachdem man so lange die trockenen, weitschweifigen Homilien des früheren Hilfspfarrers hatte anhören müssen. Letzterer fegte wie ein Wirbelwind durch den Kirchengang, daß sein schwerer, seidener Talar hinter ihm herwehte und an den Kirchenstuhlthüren rauschte, bestieg die Kanzel, wie ein Eroberer seinen Triumphwagen, sank dann in einer studirt-anmuthigen Artitude auf das Sammetkissen, blieb eine Zeitlang dort stumm, murmelte die Collecte und schnatterte das Vaterunser, stand auf, zog einen helllavendelfarbigen Handschuh aus, um der Gemeinde seine funkelnden Ringe bewundern zu lassen — strich mit den Fingern durch sein schön gekräuseltes Haar, schwenkte sein Battisttaschentuch, recitirte eine sehr kurze Stelle, oder vielleicht auch eine bloße Redensart aus der Heiligenschrift, als Text für seine Predigt, und hielt dann eine Rede, welche als solche wohl gut sein mochte, aber viel zu studirt und geschraubt war, um mir zu gefallen. (Anne Brontë: Agnes Grey)


Brontë, Anne: Agnes Grey [2]

  Unsere Kleider wurden bis an den äußersten Rand des Anständigen ausgebessert, gewendet und gestopft, unsere stets einfache Nahrung, mit Ausnahme der Lieblingsgerichte meines Vaters, bis zu einem unerhörten Grade vereinfacht, mit den Steinkohlen und Lichtern äußerst sparsam umgegangen — die zwei Lichter auf dem Tische auf eines reducirt, und dieses auf das Sparsamste gebraucht, die Kohlen sorgfältig in den halbausgebrannten Kamin zusammengescharrt, besonders wenn mein Vater in Amtsverrichtungen ausgegangen oder durch Krankheit auf sein Bett beschränkt war — wo wir dann mit den Füßen auf dem Kamingitter saßen, von Zeit zu Zeit die verlöschenden Kohlen zusammenscharrten und mit unter eine kleine Quantität von dem Staube und den zerbröckelten Kohlen darauf schütteten, um sie nur in Gluth zu erhalten. Was unsere Teppiche betraf so wurden sie mit der Zeit bis zur Fadenscheinigkeit abgetragen und selbst noch mehr ausgebessert und gestopft, als unsere Kleider. (Anne Brontë: Agnes Grey)


Brontë, Anne: Agnes Grey [3]

  Um die Kosten eines Gärtners zu ersparen, übernahm es Mary und ich den Garten in Ordnung so halten, und alle Küchen- und Hausarbeit, die nicht leicht von einer Magd besorgt werden konnte, wurde von meiner Mutter und Schwester verrichtet, wobei ich ihnen zuweilen einige Hilfe leistete, aber nur eine sehr geringe, weil ich zwar, meiner eigenen Schätzung nach, ein Weib, in ihren Augen aber doch noch ein Kind war, und meine Mutter, wie die meisten thätigen Hausfrauen, nicht mit sehr thätigen Töchtern begabt war, aus dem einfachen Grunde, daß sie, die selbst so Geschickte und Fleißige, sich nie versucht fühlte, ihre Angelegenheiten einer Andern anzuvertrauen, sondern im Gegentheil für Andere ebenso gern handelte und dacht, wie für sich selbst, und welches Geschäft sie auch vorhaben mochte, meistentheils doch glaubte , daß Niemand es so gut thun könne, wie sie. Wenn ich mich also erbot, ihr Beistand zu leisten , so erhielt ich Antworten wie: — Nein, liebes Kind, das kannst Du wirklich nicht. — Hier giebt es für Dich nichts zu thun, geh und hilf Deiner Schwester oder bewege sie dazu, mit Dir spazieren zu gehen. (Anne Brontë: Agnes Grey)


Broyard, Anatole: Verrückt nach Kafka

  Sie machte Liebe, wie sie sprach, indem sie die Grammatik und die Rhythmen des Aktes in ihre Bestandteile zerlegte. Junge Männer neigen zu monotonem Sex, aber Sheri griff meine Monotonie auf und variierte sie, als komponierte sie eine Fuge. Wenn ich ein Kolben war, dann war sie Klees Zwitschermaschine. Sie war wie eine jener modernen schwarzen Jazzsängerinnen, die gegen die Melodie ansingen und das natürliche Ende von Notenfolgen ignorieren. Die meisten Menschen finden beim Sex zu irgendeinem gemeinsamen Rhythmus, aber Sheri wies alle meine Koordinationsversuche ab. (Anatole Broyard: Verrückt nach Kafka. Erinnerungen an Greenwich Village, S. 20)


Bruyn, Günter de: Neue Herrlichkeit [1]

  Alles, was Olga sagt, gerät ihr durch Wiederholung zu lang, besonders dann, wenn Alkohol sie beflügelt. Das ist oft der Fall, wird aber nicht immer bemerkt, weil sie heimlich trinkt und sich in der größten Trunkenheit noch beherrschen kann. So gut kann sie das, daß man sich fragt, was sie von ihrem Rausch eigentlich hat, wenn sie ihren Hemmungen nie gestattet, sich zu lösen. Alle Mitarbeiter (aber nicht die Gäste) wissen natürlich von ihrem Alkoholverbrauch, und sie weiß, daß sie es wissen, läßt aber trotzdem die Bremsen in sich niemals los. Wenn sie befürchtet, daß ihre Schritte torkelig werden, macht sie eben keine, und wenn die Zunge Lähmungserscheinungen zeigt, kann sie auch schweigen. (Günter de Bruyn: Neue Herrlichkeit, S. 8)


Bruyn, Günter de: Neue Herrlichkeit [2]

  Die Mutter aber sieht ihren Sohn an: ein wenig verliebt, ein wenig besorgt und nicht ohne Spott. Viktor kennt diesen Blick und weiß ihn zu deuten. Nur Verliebt- und Besorgtheit sind echt; das Spöttische ist darübergelegt, um Distanz zu bekunden. Eine moderne Frau, wie sie sie versteht, hat zwar Gefühle, darf sie auch zeigen, muß aber deutlich machen, daß sie beherrschbar sind. Tränen werden also von einem Witzwort begleitet, Depressionen fachmännisch erklärt, und wenn sie ihrem Äußeren Jugendlichkeit zu geben versucht, fehlt nie der Hinweis auf die Eitelkeit alter Frauen. (Günter de Bruyn: Neue Herrlichkeit, S. 10)


Bruyn, Günter de: Neue Herrlichkeit [3]

  Nun aber, erfährt Viktor telefonisch, ist J.K. krank. Das ist erschreckend und erheiternd zugleich. Den kraftstrotzenden Mann, dem Schwäche bisher defätistisch und Krankheit moralisch anrüchig erschien, kann man sich als Patienten nicht vorstellen. Jetzt fühlt sich der Löwe als Wurm; der Halbgott, der Ärzte sowenig gebraucht hat wie Priester, merkt, daß auch er sterblich ist. So gewaltig wie früher die Kraft, ist nun der Jammer. Er fühlt sich nicht nur geschlagen vom Schicksal, sondern auch noch verhöhnt, weil es ausgerechnet die Prostata ist, die ihn quält. Ehrenvoll zu Boden geht man in seinen Kreisen durch Herzinfarkt, nicht aber so. (Günter de Bruyn: Neue Herrlichkeit, S. 27)


Bruyn, Günter de: Neue Herrlichkeit [4]

  "Die Leute", sagt Sebastian später und rechnet als einer, der sie beobachten, durchschauen und erklären kann, sich selbst nicht dazu, "die Leute mögen es eigentlich nicht, daß, wenn man anderswo hingehört, man so tut als sei man wie sie. Sie spüren die Überhebung, die darin steckt. Ich bin wie ihr, heißt doch: Neben dem, was ich bin, bin ich das, was ihr seid, noch mit, also mehr. Da werden sie mißtrauisch, aus Erfahrung, Ordnung sieht Absonderung vor, und wer sie vergessen zu machen versucht, hat seine versteckten Gründe. (Günter de Bruyn: Neue Herrlichkeit, S. 42)


Bruyn, Günter de: Neue Herrlichkeit [5]

  Sprachprobleme hat sie nicht nur mit dem S und mit der Grammatik (gegen deren Regeln sie, nach Titas Vorbild, manchmal in der Wahl der Fälle vorstößt), sondern auch mit der Wortwahl - besonders wenn Innenwelt dargestellt werden soll. Im Klagen also fehlt ihr die Übung. Nie, bevor Viktor kam, ist es für sie, wie er später erfährt, nötig gewesen, selbst Gegenstand eigner Erzählung zu sein, weil nie jemand da war, der sich für das Unfaßbare in ihr interessierte. Von ihren Gefühlen kann sie also nicht reden oder nur schwer, jedenfalls so nicht, daß ein Wort ausdrücken kann, was sie meint. Sie muß nach dem, was sie ahnt, erst mühselig suchen, muß bei einzelnen Dingen beginnen, die sammeln und ordnen - in der Hoffnung, daß sich am Ende, wenn sie vereint sind, sowas wie eine Übersicht bietet, woraus ein Begriff sich ergibt. (Günter de Bruyn: Neue Herrlichkeit, S. 126f.)


Bruyn, Günter de: Neue Herrlichkeit [6]

  Ihren Ärger läßt Schwester Benedikte an den jungen Leuten aus. Ihnen, die sie für ein Ehepaar hält, lastet sie alles an, was die neue Zeit, die nur auf Nutzen bedacht ist, an den Alten verübt. Arbeiten können sie nicht mehr, und Ratschläge können sie auch nicht mehr geben, da ihr Erfahrungsschatz schneller alt wurde als sie. Dem Fortschritt sind sie im Wege, also schiebt man sie ab. Wäre das Brot knapp, entzöge man es ihnen; da aber die Zeit für Liebe und Güte knapp ist, spart man damit an ihnen. "Aber auch Liebesentzug", sagt Schwester Benedikt, "kann tödlich sein." (Günter de Bruyn: Neue Herrlichkeit, S. 157)


Bruyn, Günter de: Märkische Forschungen

  Der Weg nach oben ist doch zu schmal, daß man ihn nur allein gehen kann. Mitnehmen kann man da keinen. Zwar glaubt man zuerst noch, nichts als den Arbeitsplatz und die Gehaltsstufe zu wechseln, aber das erweist sich als Illusion. Denn Freundschaften basieren auf gemeinsamen Interessen, und die fehlen jetzt. Die beruflichen Probleme sind andere, und über Autos und Porzelannsammlungen läßt sich schlecht mit einem reden, der angestrengt für einen Kühlschrank spart. Und wie soll man über Fachberühmtheiten klatschen, wenn der eine keine kennt. Hinzu kommt, daß Erfolg die Erfolglosen erfürchtig oder neidisch macht. Ist beides nicht der Fall, vermutet der Erfolgreiche es aber, was zum gleichen Ergebnis führt: zur unauffälligen Trennung. (Günter de Bruyn: Märkische Forschungen)


Bruyn, Günter de: Babylon

  Er war seit Jahren Witwer. Das Haus und die Gastwirtschaft versorgte seine Tochter, die bei ihrer Heirat den Namen Leidenfrost mitbekommen hatte, der haargenau zu ihr paßte. Sie war dürr wie der Tod, ging von morgens bis abends, im Sommer wie im Winter mit vergrämtem Gesicht umher, trug immer dicke Wolltücher um den Oberkörper gewickelt und sah so verfroren aus, daß den Gästen selbst im Hochsommer das kalte Bier nicht bekam. Ihr Mann war vermißt, aber obwohl mir das sehr leid tat, mußte ich immer denken, daß er, wenn er wiederkäme, doch nicht viel Freude an ihr haben könnte. (Günter de Bruyn: Babylon. Erzählungen, S. 34)


Buddenkotte, Katinka: Ich hatte sie alle

  In dem Alter, in dem ich anfing mich "für Jungs zu interessieren", tat meine Mutter alles, damit dieses Interesse schnell wieder abflaute. Sie hat einfach nie verstanden, dass Sexualität nicht sexy ist. Beim Frühstück wurde über Vor- und Nachteile verschiedener Verhütungsmethoden doziert; unvergessen blieb vor allem, wie meine Mutter anhand einer Ravioli und einer Weinflasche das Einführen eines Diaphragmas demonstrierte. So hegte ich lange Zeit den Wunsch, Nonne zu werden. Das bot sich schon aus dem Grunde an, weil alle meine männlichen Bekanntschaften sich für ein Mönchsdasein entschieden hatten, nachdem sie bei einem Besuch in meinem Elternhaus die Diashow der Geschlechtskrankheiten hatten ansehen dürfen. Meine Entjungferung fand nicht ohne Grund 4000 Kilometer weit von meinem Heimatort entfernt statt. Denn nur so hatte ich eine relative Sicherheit, dass meine Mutter nicht ins Zimmer spazieren und uns persönlich beim Anlegen des Gummis behilflich sein würde. (Katinka Buddenkotte: Ich hatte sie alle)


Büchner, Georg: Dantons Tod

  Das ist sehr langweilig, immer das Hemd zuerst und dann die Hosen drüberzuziehen und des Abends ins Bett und morgens wieder herauszukriechen und einen Fuß immer so vor den andern zu setzen; da ist gar kein Absehen, wie es anders werden soll. Das ist sehr traurig, und dass Millionen es schon so gemacht haben, und dass Millionen es wieder so machen werden, und dass wir noch obendrein aus zwei Hälften bestehen, die beide das nämliche tun, so dass alles doppelt geschieht – das ist sehr traurig. (Georg Büchner: Dantons Tod)


Bufalino, Gesualdo; Klare Verhältnisse [1]

  Die Vorstellung, daß der Verlauf der Geschichte, wie Pascal einmal meinte, von der Größe einer Nase abhängen könne, läßt die Historiker für gewöhnlich die Nase rümpfen. Sie haben unrecht. Denn zwar nicht das Schicksal der Welt, an dem mir sehr wenig liegt, aber mein persönliches Schicksal wäre durchaus anders gewesen, hätte mich nicht ein ganz und gar nichtiger Umstand, die Karies eines vorderen Backenzahns, eines Morgens in das Vorzimmer des Doktor Conciapelli geführt, wo ich, von der Beklemmung des Wartens dazu getrieben, Ablenkung bei den Anzeigen des "Messaggero" zu suchen, über die Ausschreibung eines Sekretärinnenpostens beim Verlagshaus Medardo Aquila & Co, via Cleopatra 16, Rom, in Begeisterung geriet. Ich - bringen wir es gleich hinter uns - habe Kunst, Musik und Schauspiel in Bologna studiert, bis zur Auszeichnung; und ich weiß Bescheid über Theater und Film, über Jazz und klassische Musik, über Semiologie... Ich bin intelligent (nehme an, es zu sein), pfiffig, entbehre nicht der Schlagfertigkeit und des Scharfsinns. Schön, nein. Eher, je nach Belieben, häßlich, recht häßlich, ein wenig häßlich. Außerdem stehe ich in dem Ruf, frigide zu sein, was sich für die Bewerberin um eine Stelle als Trumpfkarte herausstellen kann, wenn der Chef verehelicht und der, der über die Einstellung entscheidet, die Ehefrau ist. (Gesualdo Bufalino: Klare Verhältnisse, S. 11)


Bufalino, Gesualdo; Klare Verhältnisse [2]

  Nistico war fast immer als Priester gekleidet, womit er gern den Glauben erwecken wollte, noch immer einer zu sein (doch allseits sagte man, daß er nur ein aus dem Seminar ausgestoßener Ex-Seminarist sei). Das Kreuz dieses gebildeten Scharlatans, dieses schüchternen Kraftprotzes war es - ich erröte, wenn ich davon berichte -, daß er in aller Öffentlichkeit unbeherrschbaren und jähen Erektionen ausgesetzt war. Es nutzten keine kalten Duschen, um ein derart wallendes Blut in die Schranken zu weisen, noch genügten Feigenblätter aus großen Zeitungen als Tarnung, wenn es ihn wieder einmal erwischte. Da alle sich schon daran gewöhnt hatten, war ich die einzige, die es geflissentlich vermied, ihn in seiner Bedrängnis anzuschauen, wie er sich, in seiner schwarzseidenen Kutte zusammengekauert, aus Verzweiflung mit dem Heruntersagen der "Letzten Dinge" oder der Texte der Kirchenväter in der Mignéschen Ausgabe abreagierte. (Gesualdo Bufalino: Klare Verhältnisse, S. 21)


Bufalino, Gesualdo; Klare Verhältnisse [3]

  Sein Auftritt war keineswegs glänzend, aber obwohl die Person nicht darauf aus war zu gefallen, gefiel sie mir. Es war für mich der erste Polizeikommisar aus Fleisch und Blut, nach so vielen aus Papier, und ich musterte ihn mit größter Aufmerksamkeit. Eher fünzig als fünfundvierzig, hatte er das lässige, schlaksige Gebaren von einem, der es schon aufgegeben hat, auf Beförderung zu hoffen; aber die Schläue, um nicht zu sagen: die Klugheit seiner Augen in einem von der Mediterranen Sonne gegerbten Gesicht ließ vermuten, daß er sich noch nicht ganz dem Verschleiß des Berufs ergeben hatte und daß ihn, wenn schon nicht der Hunger nach Gerechtigkeit, so doch wenigstens ein mürrischer Eigensinn noch zu seinen Ermittlungen trieb. (Gesualdo Bufalino: Klare Verhältnisse, S. 69)


Bukowski, Charles: Fuck Machine

  "Wie kommt es, daß Sie nicht in der Armee sind?" "Ich bin nicht durch die Musterung gekommen." "Sie machen Witze." "Nein, gottseidank mach ich keine. " "Sie wollen nicht kämpfen? " "Nein." "Pearl Harbor ist bombardiert worden." "Hab ich gehört, ja." "Und Sie wollen nicht gegen Adolf Hitler kämpfen?" "Eigentlich nicht. Mir ist lieber, andere tun das." "Sie sind ein Feigling." "Ja, bin ich, und zwar nicht, weil es mir viel ausmachen würde, jemanden zu töten, sondern einfach weil ich nicht gern mit einem Haufen von schnarchenden Kerlen in einer Kaserne schlafe, um mich dann von irgendeinem geilen Schwachkopf mit dem Signalhom wecken zu lassen. Außerdem trage ich dieses kratzige olivgrüne Khakizeug nicht gern. Meine Haut ist sehr empfindlich." (Charles Bukowski: Fuck Machine)


Burger, Hermann: Schilten [1]

  Bruder Stäblis Auftritt ist schlicht, ergreifend. Mit seitwärts geneigtem Kopf tritt er vom Korridor auf die Galerie, eine Abort-Chlorfahne nach sich ziehend, schreitet über den knarrenden Laufsteg bis zur Mitte, legt Bibel und Lebenslauf auf die Balustrade und läßt sein Haupt wie eine Puppe, aus der man die Finger gezogen hat, zum Gebet auf die Brsut sinken, was so aussieht, als wolle er von oben einen Korb werfen, denn der Ring mit dem zerfetzten Netz befindet sich genau unter ihm. Hält er seine Grützbirne bereits beim Eintreten so demütig schief, daß ich immer befürchte, sie purzle ihm von der Schulter, wird man erst recht bei seinem Brustspicken die Vorstellung nicht los, Bruder Stäbli beuge sich einer allmächtigen, alttestamentlichen Guillotine. (Hermann Burger: Schilten)


Burger, Hermann: Schilten [2]

  Ein dreißigjähriger Schulsklave hat das Recht, vom Alter zu sprechen: heruntergeschwirtschaftet, ausgebrannt, lebensfremd, reif für die Verschollenheit. Für mein Rechtfertigungsgesuch, meine permanente Strafaufgabe, brauche ich einen großzügigen Raum, sozusagen eine geistige Turnhalle, und es wäre pure Ignoranz, wenn ich dafür nicht jene Lokalität in Anspruch nehmen würde, die ausschließlich dem Lehrkörper von Schilten gehört: das Lehrerzimmer, die sogenannte Sammlung. Im komplizierten Vertragswerk, das meine schulhäuslichen Wohnrechte außerhalb des Estrich- Appartements regelt und aus dem zu zitieren für jeden Paragraphen-Schlemmer ein Hochgenuß ist - heißt es (...) Der Lehrer von Schilten hat (...) das Recht, die Sammlung außerhalb der Unterrichtszeiten als privates Studierzimmer zu benützen. (Hermann Burger: Schilten)


Burger, Hermann: Schilten [3]

  Ist, wo immer Sie in Lehrerzimmern Zehnuhrpausen abverdient haben, jemals Stimmung aufgekommen, Humor, der Sie nicht an Dörrobst erinnert? (...) Könnten Sie mir auf Anhieb ein Pausen-Kollegium nennen, in dem Sie eine einzige schulfreie Minute erlebt haben? Ist Ihnen schon aufgefallen, daß die Gemütlichkeit in einem Lehrerzimmer eine durchaus didaktische ist, daß didaktisch gelacht, didaktisch Zeitung gelesen, didaktisch auf die Uhr geschaut, didaktisch geatmet wird? Würden Sie dem Satz beipflichten: Wenn drei Lehrer in einem Lehrerzimmer unter sich sind, verdreifacht sich das Lehrerhafte nicht, sondern wird in die dritte Potenz erhoben? (...) Der Geruch, der sich im Lehrerzimmer eingenistet hat und der durch jahrzehntelanges Lüften nicht auszutreiben wäre, ist der Inbegriff des Schulstubenmiefs: Scholarchen-Ozon, das sich aus dem Muff überfüllter Krimskramsschränke, dem Gestank verdorbener Chemikalien und dem ausgetrockneten Schweiß verwaister Turnschuhe zusammensetzt. Wer diese Luft ein Leben lang eingeatmet hat, kriegt die für Pädagogen typische Kreidestaub- Lunge. (Hermann Burger: Schilten)


Burger, Hermann: Schilten [4]

  Diesen Gerüchtemischern muß ich entgegenhalten: Was um alles in der Welt gibt es nach einer Zensurfeier für einen Lehrer noch zu korrigieren? Es ist ja denkbar, daß ein Rechtschreibe-Fanatiker wie Haberstich selbst am Tag seiner diamantenen Hochzeit Hefte korrigiert, aber bestimmt nicht nach der Zeugnisverteilung. Wenn es in einem solchen Lehrerleben eine korrigierfreie Minute gibt, ist es die Minute nach der Zeugnisverteilung, wo er befriedigt von den enttäuschten Gesichtern ablesen kann, was er mit dem Rotstift angerichtet hat. (Hermann Burger: Schilten)


Burger, Hermann: Schilten [5]

  Einer von der Schiltener Feuerwehr will einen brenzligen Geruch wahrgenommen haben und vertreibt bereits den Schüler, der rittlings auf dem Hydranten hockt, Platz da, Platz da rufend. Von allen möglichen Naturkatastrophen, die im Anzug sein könnten, hat der Schulhausbrand die besten Aussichten, von den Leuten in Erwägung gezogen zu werden, dies deshalb, weil die Feuerwehr ihre sogenannte Trockenübung immer am Objekt des Schulhauses durchführt und seit Jahren insgeheim hofft, der supponierte Ernstfall trete endlich einmal ein, damit man sehe, wie gut die Mannschaft eingespielt sei. leider, um diese bittere Erfahrung kommt auch die Schiltener Feuerwehr nicht herum, kräht der rote Hahn nie dort, wo man gegen ihn gewappnet zu sein glaubt. Ach ihr Zeusler, ihr seid doch allesamt nur erwachsen gewordene Zeusler, die eine kindische Freude an jedem Schwefelköpfchen haben, das aufflammt! (Hermann Burger: Schilten, S. 151)


Burger, Hermann: Schilten [6]

  In dieser weitläufigen Praxis gibt es nicht nur ein Labor, dessen chaotischer Zustand einen an den Anblick eines Chemiezimmers nach geglückter Explosion erinnert, sondern auch einen privaten Gebärsaal und, am Ende eines langen Korridorschlauchs, ein Zahnarzt- Abstellräumlein mit einem ausgedienten Operationsstuhl, wo Doktor Krähenbühl eigenhändig den Wurzelheber ansetzt, wenn es sein muß. Ein genialer, ein kompletter Landarzt, Knochenschlosser und Gynäkologe, Spezialist und Allgemeinpraktiker in einer Person. Man darf sich nicht von seinen unsterilen Monsterspritzen, verkleckerten Nierenschalen, rostigen Knochenscheren und verwaisten Urinproben abschrecken lassen, sondern muß dies alles dem Umstand zuschreiben, daß er pausenlos im Einsatz ist, Tag und Nacht, also gewiß keine Zeit hat für eine formalistische Revision seiner Instrumente. Mit zwei Stunden Schlaf komme er aus, sagen die einen, er schlafe überhaupt nicht, die andern. Immer finden sich ein paar frische Blutspuren an seinem schmuddeligen Arztmantel. Soll ein solcher Hochleistungsmediziner zum Beispiel seine Zeit damit vergeuden, sich zu rasieren? Schon allein die Frage muß Ihnen unangebracht erscheinen, Herr Inspektor. In einem seltsamen Kontrast zu seiner altmodischen, museumreifen Praxis-Einrichtung, die bei den Patienten eher Folterängste als Heilungs-Zuversicht aufkommen läßt. (Hermann Burger: Schilten)


Burger, Hermann: Schilten [7]

  Als Versicherungsnehmer muß man sich daran gewöhnen, daß man in den Augen der Gesellschaft ein reines Risikopotential darstellt. (...) Bei diesem außerordentlich offenen Gespräch in einer freundlichen Atmosphäre - Versicherungsinspektor sind viel diskreter, als es das Klischee wahrhaben will - ist mir eine sehr sympathische Wendung aufgefallen. Arbogast Nievergelt mußte immer mit der Formel operieren: Gesetzt den Fall, Sie wären morgen nicht mehr da... Der Inspektor muß den Kunden hypothetisch ums Leben bringen, um ihm die Notwendigkeit einer Lebensversicherung, und erst recht einer kombinierten Lebens- und Risikoversicherung mit Doppelauszahlung im Todesfall, plausibel zu machen. Er arbeitet mit Todeshypothesen, während sonst die Leute immer nur Existenzhypothesen aufstellen. (Hermann Burger: Schilten)


Buzzati, Dino: Panik in der Scala

  Es wurde ein großer Erfolg. Zwar ist höchst zweifelhaft, ob in der ganzen Scala ein einziger Mensch war, dem die Musik der "Ermordung" wirklich gefallen hätte. Aber alle hatten den Wunsch, sich auf der Höhe der Situation zu zeigen, zur Avantgarde zu gehören. In diesem Sinne entbrannte ein heimlicher Wettstreit in der Selbstüberwindung. Und außerdem, wenn man mit größter Anspannung eine Musik verfolgt, um in ihr jede Schönheit, jeden genialen Einfall, jede verborgene Sinngebung aufzuspüren, dann ist die Autosuggestion ohne Grenzen. (Dino Buzzati: Panik in der Scala)


Buzzati, Dino: Die Tartarenwüste

  Er wußte: das war kein Traum. Denn im Traum geschehen immer irgendwelche absurde und ungereimte Dinge, und man wird dabei nie das Gefühl los, daß alles falsch sei und daß man von einem Augenblick zum anderen erwachen werde. Niemals sind im Traum die Dinge so klar und greifbar, wie es diese trostlose Ebene war, über die ein Häuflein unbekannter Menschen heranzog. Alles das war so seltsam und stimmte so genau mit gewissen Phantasien Prosdocimos überein, denen er sich in seiner Jugend hingegeben hatte, daß er jetzt gar nicht auf den Gedanken kam, es könne sich hier um ein wirkliches Ereignis handeln. Vielmehr glaubt er, er sei tot, und Gott habe ihm verziehen. Er war des Glaubens, in einem Jenseits zu sein, das offenbar völlig unserer Welt glich, nur daß dort anständige Wünsche in Erfüllung gingen und einen tiefen Frieden des Gemütes hinterließen - während im Diesseits immer irgend etwas selbst die schönsten Augenblicke vergiftet. (Dino Buzzati: Die Tatarenwüste, S. 89)


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