Allgemeine Fundstücke  / [C]


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Capote, Truman: Kaltblütig [1]

  "Zeit war für ihn kein Problem, er hatte viele Methoden, sie sich zu vertreiben - in den Spiegel gucken war eine davon. Dick hatte einmal zu ihm gesagt: "Jedesmal, wenn du einen Spiegel siehst, dann verfällst du in Trance, Mensch. Als ob du da einen Walfisch oder war weißich anglotzt. Mein Gott, wird dir das denn nie über?" Nein, das wurde ihm nicht über, er konnte sich nicht sattsehen an seinem eigenen Gesicht. Von jedem Blickwinkel aus wirkte es anders. Es war das Gesicht eines Menschen mit vielschichtigem, schwankendem Charakter, und vor dem Spiegel hatte er gelernt, seinen Ausdruck je nach Laune dutzendfach zu verändern, mal düster dreinzuschauen, mal pfiffig, und dann wieder seelenvoll. Ein Neigen des Kopfes, ein zartes Anheben der Lippen, und schon wurde aus dem verkommenen Zigeuner ein zartbesaiteter Romantiker. (Truman Capote: Kaltblütig, S. 23)


Capote, Truman: Kaltblütig [2]

  Jolene war noch nie mit Nancys "seltsamer" Mutter allein gewesen, aber trotz allem, was sie über sie gehört hatte, fühlte sie sich jetzt in ihrer Gegenwart wohl, denn Mrs. Clutter, obwohl selbst alles andere als entspannt, wirkte auf andere beruhigend, wie das oft bei wehrlosen Menschen der Fall ist, einfach weil man sich nicht von ihnen bedroht fühlt. Und so erweckten Mrs. Clutter herzförmiges Missionarinnengesicht und die ätherische Hilflosigkeit ihres Blickes selbst in Jolene, einem sehr kindlichen Geschöpf, ein fast mütterliches Mitgefühl. (Truman Capote: Kaltblütig, S. 32)


Capus, Alex: Das Leben ist gut [1]

  Der Malermeister Durrer (...) sieht aus wie Jack Nicholson und spricht wie ein Dorfpfarrer. Sein Aussehen, das auf Frauen erstaunlich anziehend wirkt, führt er auf genetisches Glück zurück; seine geistliche Aura, die auf Frauen erstaunlich abschreckend wirkt, auf die berufliche Routine. Jeder Flachmaler, sagt der Durrer, starrt Tag für Tag weiße Wände an und führt Stunde um Stunde einschläfernd monotone Bewegungen aus, was einer Art unbeabsichtigter Meditation gleichkommt und in Kombination mit der Allgegenwart hochprozentiger Lösungsmittel eine gleichsam buddhistische Gemütsverfassung bewirkt. (Alex Capus: Das Leben ist gut)


Capus, Alex: Das Leben ist gut [2]

  Nun waren Eisenbahntoiletten vor vierzig Jahren noch keine wohlduftend warmen, hermetisch geschlossenen Wohlfühloasen aus pastellfarbenem Kunststoff, sondern stinkende, ratternde und dröhnende Zellen aus rostigem Panzerstahlblech, die durch zahlreiche Ritzen und Fugen rege mit dem Fahrtwind und der winterlichen Außenwelt kommunizierten, so dass man zwischen der Milchglasscheibe und dem Seifenspender, der eine Art Kaffeemühle für steinharte Kernseife war, jeden Augenblick Schneefall erwarten musste. (Alex Capus: Das Leben ist gut)


Capus, Alex: Das Leben ist gut [3]

  Das sind die Tage ihrer Unzurechnungsfähigkeit, an denen ihr Gang nicht zu meinem passen will, zu ihrem aber auch nicht. (...) Manchmal geht sie mir so sehr auf die Nerven, dass ich vergesse, wie schön die guten Zeiten sind. Dann möchte ich das Ehebett in Brand stecken oder mit dem Vorschlaghammer die Küche zertrümmern. Um das nicht zu machen, nehme ich mein Rennrad aus dem Schuppen und fahre ein paar Stunden übers Land. Während der ersten Kilometer zische ich krude Flüche und Schimpfwörter in den Fahrtwind. Dann gehe ich dazu über, klinische Bezeichnungen für verhaltensgestörte weibliche Paarhufer zu erfinden, sage sie halblaut vor mich hin und ergötze mich an ihrem Wohlklang. Anorektische Kleekuh mit posttraumatischer Belastungsstörung. Narzisstisch gekränktes Milchkalb mit Aufmerksamkeitsdefizit und evangelisch verkorkster Libido. Autoerotische Bergziege mit analfixierten Allmachtsphantasien. Paranoides Wollschaf mit dissozialer Persönlichkeitsstörung. Höhnisch grinse ich in die Welt hinaus. Mein Rad fliegt, die Landschaft ist mir untertan. (...) Auf dem Rückweg stimmt mich dann jeweils schon die Vorstellung milder, dass Tina – falls noch ein Rest Wahrheitsliebe in ihrer Seele glimmt – nicht anders können wird, als mir in sämtlichen Punkten bedingungslos zuzustimmen und mich wenn nicht gar um Verzeihung, so doch mindestens um Milde zu bitten. Die verbleibende Zeit der Heimfahrt verwende ich darauf, die Kraft meines Vortrags noch zu erhöhen, indem ich ihn weiter straffe, bis nur noch ein hochverdichtetes Konzentrat, die eigentliche Essenz meiner Tirade, übrig bleibt. Diese besteht meist aus der Umschreibung eines verhaltensgestörten weiblichen Paarhufers, wobei ich das Medizinerlatein nach Möglichkeit durch allgemeinverständliche Wörter ersetze, bis nur noch eine klassische Beschimpfung von allergrößter Verständlichkeit und Ausdruckskraft übrig bleibt. "Du dumme Kuh!", zum Beispiel. (Alex Capus: Das Leben ist gut)


Capus, Alex: Das Leben ist gut [4]

  Wenn ein Dozent oder Kommilitone sie mit Bildung und Eloquenz beeindruckte, erwies er sich in kürzester Zeit als weibischer Ränkeschmied, der um des akademischen Fortkommens willen jede Wahrheit zu opfern bereit war. In den Kneipen und Straßenbahnen fand sie weinerliche Muttersöhnchen, hölzerne Grobiane und erbsenhirnige Schönlinge vor, und im Yachtclub, dem sie wegen ihrer Leidenschaft fürs Segeln beitrat, wimmelte es von schwächlichen Muskelprotzen und einfältigen Prahlhansen. Die Geburtstagspartys, Diplomfeiern und Hochzeiten, an denen sie teilnahm, waren bevölkert von gemeingefährlichen Soziopathen und missgestalteten Gnomen, und wenn ihr doch einmal einer über den Weg lief, der wirklich gut aussah und sich benehmen konnte, hatte er mit Sicherheit eine Katzenallergie oder trank heimlich Karottensaft aus einer mitgebrachten Plastikflasche. (Alex Capus: Das Leben ist gut)


Cather, Willa: Mein ärgster Feind

  Während ich ihr jede amüsante Klatschgeschichte aus meiner Familie erzählte, die mir einfiel, saß sie verkrümmt und doch kraftvoll in ihren farbenfrohen Gewändern vor mir. Sie sah stark aus und gebrochen, großherzig und tyrannisch, eine humorvolle und ziemlich boshafte alte Frau, die das Leben für seine Rückschläge haßte und für seine Kapriolen liebte. Ich erinnerte mich wieder an ihr zorniges Lachen und daran, wie sie jeden Schicksalschlag, jeden Kummer mit diesem trockenen, triumphierenden Glucken aufgenommen hatte, das zu sagen schien: "Aha, ein weiterer Beweis für die abscheuliche Ungerechtigkeit, die Gott in dieser Welt zuläßt!" (Willa Cather: Mein ärgster Feind)


Cechov, Anton: Der Choleriker

  Der Choleriker. Ist gallig und im Gesicht gelblich- grau. Die Nase ein wenig schief, die Augen rollen in den Höhlen wie Wölfe in einem zu engen Käfig. Reizbar. Wegen eines Flohbisses oder Nadelstiches ist er bereit, die ganze Welt in Fetzen zu reißen. Wenn er spricht, versprüht er Speichel und zeigt seine dunkelbraunen oder sehr weißen Zähne. Ist zutiefst davon überzeugt, daß es im Winter "weiß der Teufel wie kalt" ist, im Sommer "weiß der Teufel wie heiß"... Wechselt wöchentlich die Köchin. Fühlt sich beim Essen miserabel, denn immer ist alles zu lange gebraten, versalzen... Größtenteils Junggeselle, ist er jedoch verheiratet, hält er seine Frau unter Verschluß und sperrt sie ein. Eifersüchtig wie der Teufel. Versteht keinen Spaß. Kann dauernd etwas nicht ausstehen. Zeitungen liest er nur, um auf die Journalisten zu schimpfen. War schon im Mutterleib davon überzeugt, daß alle Zeitungen lügen. Als Ehemann und Freund ist er unmöglich; als Untergebener - kaum denkbar; als Vorgesetzter - unerträglich und unerwünscht. Nicht selten ist er, leider, Pädagoge. Er unterrichtet Mathematik und Griechisch. In einem Raum mit ihm zu schlafen rate ich nicht; er hustet die ganze Nacht, spuckt in die Gegend und flucht laut über Flöhe. Hört er nachts den Gesang von Katzen und Hähnen, räuspert er sich und schickt mir klirrender Stimme den Diener aufs Dach, um den Sänger einzufangen und, koste es, was es wolle, zu erwürgen. Stirbt an Schwindsucht oder Lebererkrankungen. Die Cholerikerin ist ein Teufel im Rock, ein Krokodil. (Anton Cechov: Die Temperamente)


Cechov, Anton: Humoresken & Satiren [1]

  Jungfer Podzytylkina ist darin bemerkenswert, daß sie in nichts bemerkenswert ist. Verstand hat nie ein Mensch an ihr beobachtet, über ihn deshalb - kein Wort. Ihr Aussehen ist das allergewöhnlichste: die Nase von Papa, das Kinn von Mama, Katzenaugen, mittelmäßiger Busen. Klavier spielen kann sie, aber nur ohne Noten; sie hilft Mama in der Küche, geht nie ohne Korsett, Fastenöl verträgt sie nicht, in der geistigen Durchdringung des Buchstabens "ß" sieht sie Anfang und Ende aller Weisheit, und über alles auf der Welt liebt sie stattliche Männer und den Vornamen "Roland". (Anton Cechov: Das Leben in Fragen und Ausrufen. Humoresken und Satiren 1880-1884, S. 28)


Cechov, Anton: Humoresken & Satiren [2]

  Wenn ich die Zunge eines Patienten untersuche, erinnert mich das an meine Frau, und diese Erinnerung verursacht mir Herzklopfen. Recht hatte der Philosoph, der sagte: Lingua est hostis hominum amicusque diaboli et feminorum" An demselben Fehler leidet auch mater feminae - meine Schwiegermutter (aus der Gattung der Mammalia). Und wenn beide 23 Stunden am Tag schreien, leide ich an einer Disposition zu Geistesverwirrung und Selbstmord. Nach Zeugnis meiner verehrten Kollegen leiden neun Zehntel der Frauen an einer Krankheit, die Charcot Hyperaesthesie des Sprechzentrum genannt hat. Charcot empfiehlt die Amputation der Zunge. Mit dieser Operation verspricht er, die Menschheit von einer der schrecklichsten Krankheiten zu erlösen, aber - oweh! - Billroth, der diese Operation wiederholt durchgeführt hat, sagt in seinen klassischen Memoiren, die Frauen hätten nach der Operation schnell gelernt, mit den Fingern zu sprechen, und auf diese Weise die Wirkung der Rede auf die Ehemänner nur noch verschlimmert: sie hypnotisierten ihre Männer. Ich empfehle eine andere Behandlung. Ohne die von Charcot empfohlene Amputation der Zunge zu verwerfen und im Vertrauen auf die Worte einer Autorität wie Billroth, empfehle ich, die Amputation der Zunge zu kombinieren mit dem Tragen von Fäustlingen. Meine Beobachtungen haben gezeigt, daß Taubstumme, die Fäustlinge mit nur einem Daumen tragen, sprachlos sind und bleiben, selbst wenn sie Hunger haben. (Anton Cechov: Das Leben in Fragen und Ausrufen. Humoresken und Satiren 1880-1884, S. 142f.)


Cechov, Anton: Humoresken & Satiren [3]

  Das Männchen in dem dünnen Hasenpelz hatte schreckliche Ähnlichkeit mit Ivan Kapitonyc, einem meiner Kanzleischreiber... Ivan Kapitonyc ist ein kleines, getretenes, platt gedrücktes Wesen, das nur lebt, um fallengelassene Taschentücher aufzuheben und an Feiertagen zu gratulieren. Er ist jung, aber sein Rücken ist gekrümmt wie ein Bogen, die Knie sind ewig gebeugt, die Hände verfleckt und immer an der Hosennaht... Sein Gesicht sieht aus wie von einer Tür eingeklemmt oder mit einem nassen Lappen geschlagen. Es ist sauer und erbärmlich; wenn man hineinsieht, möchte man die "Lucinuska" singen und sich der Schwermut ergeben. Bei meinem Anblick fängt er an zu zittern, wird blaß und rot, als ob ich ihn fressen oder erstechen wollte, und wenn ich an ihn anpfeife, überläuft es ihn kalt und schüttelt ihn an allen Gliedern. Ich kenne keinen unterwürfigeren, schweigsameren und unbedeutenderen Menschen als ihn. Ich kenne nicht einmal Tiere, die stiller wären als er. (Anton Cechov: Das Leben in Fragen und Ausrufen. Humoresken und Satiren 1880-1884, S. 146f.)


Cechov, Anton: Mein Leben

  "Es hat bei uns keinerlei gesellschaftliche Strömungen gegeben, und es gibt auch keine", rief der Doktor laut. "Was da die neue Literatur nicht alles erfindet! Sie hat sich sogar ausgedacht, es gäbe in den Dörfern intelligente Arbeiter, doch schauen Sie sich einmal in unseren Dörfern um - Sie werden höchstens einen Faulenzer im Jackett oder im schwarzen Rock finden, der bei dem Wörtchen 'noch' vier Rechtschreibfehler macht. Ein kultiviertes Leben hat bei uns noch nicht angefangen. Es herrscht die gleiche Grausamkeit, die gleiche Kriecherei und die gleiche Gewissenlosigkeit wie vor fünfhundert Jahren. Strömungen, Anschauungen - ja, natürlich, doch sie sind so seicht, so miserabel und so eng mit gemeinen materiellen Interessen verknüpft, daß wohl kaum jemand etwas Ernstes dahinter vermuten dürfte! Wenn Sie glauben, eine tiefe gesellschaftliche Strömung gefunden zu haben, und Sie nun, dieser folgend, ihr Leben solchen dem heutigen Geschmack entsprechenden Aufgaben widmen wie der Befreiung der Insekten von der Sklaverei oder dem Verzicht auf den Genuß von Rinderkoteletts - dann gratuliere ich Ihnen, meine Gnädigste!" (Anton Cechov: Drei Jahre. Mein Leben, S. 169)


Cechov, Anton: Mein Leben [2]

  Die Feldarbeit macht mir keinen Spaß. Ich verstand nichts von Landwirtschaft und mochte sie nicht, vielleicht kam das daher, weil meine Vorfahren keine Bauern waren und in meinen Adern reines Städterblut floß. Die Natur liebte ich innig, ich liebte auch die Felder, Wiesen und Gärten, doch der Bauer, der mit seinem Holzflug die Erde zerfurchte, seinen dürren Klepper antrieb, zerlumpt und durchnäßt war und den Kopf vorstreckte, war für mich der Inbegriff einer rohen, wilden, unschönen Kraft, und wenn ich seine schwerfälligen Bewegungen sah, dachte ich jedesmal unwillkürlich an jenes längst vergangene, legendäre Zeitalter, in dem die Menschen noch nichts vom Gebrauch des Feuers gewußt hatten. (Anton Cechov: Drei Jahre. Mein Leben, S. 188)


Cechov, Anton: Das Duell [1]

  Als zweiter Gang wurde Spinat mit hartgekochten Eiern gereicht; Nadezda Fedorovna bekam als Kranke Fruchtspeise mit Milch. Als sie mit sorgenvollem Gesicht zuerst die Speise mit dem Löffel berührte, dann träge zu essen begann und er ihr Schlucken hörte, als sie die Milch dazu trank, packte ihn ein so wilder Haß, daß ihm sogar der Kopf zu jucken anfing. Er war sich bewußt, daß ein solches Gefühl sogar für einen Hund kränkend gewesen wäre, aber er ärgerte sich nicht über sich selbst, sondern über Nadezda Fedorovna, weil sie dieses Gefühl in ihm geweckt hatte, und er konnte nun verstehen, weshalb Liebhaber manchmal ihre Geliebten umbrachten. Selbst hätte er natürlich nicht gemordet, aber wenn er jetzt hätte Geschworener sein müssen, er hätte den Mörder freigesprochen. (Anton Cechov: Das Duell)


Cechov, Anton: Ein unbedeutender Mensch [1]

  Die Erde war zur Hölle geworden. Die Nachmittagssonne brannte so unbarmherzig, daß sogar der im Arbeitszimmer des Steuereinnehmers hängende Reaumur in Verwirrung geriet: Er stieg bis auf 35,8 Grad und blieb dann unschlüssig stehen... Die Einwohner waren schweißbedeckt, wie abgehetzte Pferde, der Schweiß trocknete ihnen am Leibe; man war zu faul, ihn abzuwischen. (Anton Cechov: Ein unbedeutender Mensch. Erzählungen 1883-1885, S. 137)


Cechov, Anton: Ein unbedeutender Mensch [2]

  Er war bartlos, hatte große starre Augen, eine breitgedrückte Nase und derart struppiges Haar, daß man bei seinem Anblick den Wunsch verspürte, sich damit die Stiefel zu putzen... Sein Gesicht war so glücklich konstruiert, daß man, wenn man es nur einmal anblickte, schon alles wußte: nämlich, daß er ein Trinker, ein Baßsänger und dumm war, aber wiederum nicht so dumm, daß er sich nicht für einen sehr klugen Menschen hielt. (Anton Cechov: Ein unbedeutender Mensch. Erzählungen 1883-1885, S. 155)


Cechov, Anton: Ein unbedeutender Mensch [3]

  Der Verteidiger hat seinen Lockenkopf in die Faust gestützt und döst vor sich hin. Unter dem Einfluß des Summens des Sekretärs haben seine Gedanken jegliche Ordnung verloren und schweifen umher. Was doch dieser Gerichtsdiener für eine lange Nase hat, denkt er und blinzelt mit den schwer gewordenen Lidern. Das bringt auch nur die Natur fertig, ein kluges Gesicht so zu verpfuschen! Wenn alle Menschen so zwei, drei Sazen lange Nasen hätten, dann wäre es gewiß zu eng um das Leben, und die Häuser müßten geräumiger werden... (Anton Cechov: Ein unbedeutender Mensch. Erzählungen 1883-1885, S. 311)


Cechov, Anton: Gespräch eines Betrunkenen... [1]

  Auf der Oberlippe sprossen die ersten Ansätze eines echten Männerschnurrbarts, während das Kinnbärtchen zu jener Sorte völlig untauglicher Bärte gehörte, die bei den Seminaristen aus irgendeinem Grund Kitzelbart heißen: es war dünn und sehr schütter, solche Bärte lassen sich weder glätten noch kämmen, man kann sie nur zure chtzupfen... Diese spärliche Vegetation war dazu noch ungleichmäßig verteilt, in kleinen Büscheln, es sah aus, als habe sich Vater Jakov als Geistlicher maskieren wollen und als habe er beim Ankleben des Bartes mitten in der Arbeit aufhören müssen. (Anton Cechov: Gespräch eines Betrunkenen mit einem nüchternen Teufel. Erzählungen)


Cechov, Anton: Gespräch eines Betrunkenen... [2]

  Mit Augen voller Tränen schaut sie auf sein verwildertes Haar, betrachtet es mit Wehmut und Entzücken. Und verwildert ist Egor Savviv bis zur Häßlichkeit, der ähnelt fast einem Tier. Seine Haare reichen bis zu den Schultern, der Bart wächst ihm am Halse, aus den Nasenlöchern und aus den Ohren, seine Augen sind unter dichten, buschigen Brauen versteckt. Sie sind so dicht, so verwildert, daß eine Fliege oder Schabe, die in diese Haare geriete, bis ans Ende der Zeiten nicht wieder aus diesem Urwald herausfände. (Anton Cechov: Gespräch eines Betrunkenen mit einem nüchternen Teufel. Erzählungen)


Cechov, Anton: Gespräch eines Betrunkenen... [3]

  Zapojkin besaß, wie vielen Lesern bekannt ist, das seltene Talent, aus dem Stegreif Hochzeits-, Jubiläums- und Leichenreden zu halten. Er kann sprechen, wann immer es verlangt wird: noch im Schlaf, auf nüchternen Magen, völlig betrunken oder im Fieber. Seine Rede fließt glatt, gleichmäßig und ununterbrochen dahin wie das Wasser aus einer Leitungsröhre. In seinem rednerischen Wortschatz gibt es bedeutend mehr Klagewörter als in einer beliebigen Kneipe Küchenschaben. Er spricht immer schön und lange, so daß man manchmal, besonders bei Kaufmannshochzeiten, die Polizei in Anspruch nehmen muß, um ihn zum Schweigen zu bringen. (Anton Cechov: Gespräch eines Betrunkenen mit einem nüchternen Teufel. Erzählungen)


Cechov, Anton: Gespräch eines Betrunkenen... [4]

  Es war ein niedriger Leuchter aus alter Bronze, eine kunstvolle Arbeit. Er stellte eine Gruppe dar: auf einem Sockel standen zwei weibliche Figuren im Evakostüm und in einer Pose, zu deren Beschreibung ich weder kühn genug bin noch das entsprechende Temperament besitzte. Die Figuren lächelten kokett und sahen überhaupt aus, als würden sie, wären sie nicht verpflichtet gewesen, den Leuchter zu halten, von dem Sockel herunterspringen und in dem Zimmer eine solche Orgie veranstalten, daß es schon unanständig ist, lieber Leser, daran auch nur zu denken. (Anton Cechov: Gespräch eines Betrunkenen mit einem nüchternen Teufel. Erzählungen)


Cechov, Anton: Gespräch eines Betrunkenen... [5]

  Ich brauchte nur mit den Augen zu zwinkern, mit den Sporen zu klirren und meinen Schnurrbart zu drehen - und die sprödeste Schöne verwandelte sich in ein folgsames Lämmchen. Ich war hinter den Frauen her wie eine Spinne hinter den Fliegen, und wenn ich jetzt anfinge, meine Damen, Ihnen all die Polinnen und Jüdinnen aufzuzählen, die seinerzeit an meinem Halse hingen, so würde, das darf ich versichern, das Zahlensystem der Mathematik dafür nicht ausreichen. (Anton Cechov: Gespräch eines Betrunkenen mit einem nüchternen Teufel. Erzählungen)


Cela, Camilio Jose: Der Bienenkorb [1]

  Don Jaime ist ganz sicher ein ehrlicher Mensch, nur hat er eben kein Glück, keine glückliche Hand bei Geldgeschäften. Ein ausgesprochener Liebhaber von Arbeit ist er allerdings auch nicht. Aber er hat wirklich kein Glück. Andere, die ebensolche Müßiggänger sind wie er oder sogar noch ärgere, ergattern durch glückliche Zufälle einige tausend Duros, können ihre Wechsel zahlen und stolzieren nun umher, rauchen teuren Tabak und fahren den lieben, langen Tag im Taxi umher. Don Jaime ist es nicht so ergangen, ganz im Gegenteil. Er sucht nun nach einem Wink des Schicksals, findet ihn aber nicht. Er hätte sich in jede Arbeit gestürzt, in die erste beste. Aber es bot sich gar nichts an, was der Mühe wert gewesen wäre. Und so verbrachte er seine Tage im Kaffeehaus, den Kopf an die samtene Rückenlehne des Sofas gebettet. (Camilio Jose Cela: Der Bienenkorb, S. 8)


Cela, Camilio Jose: Der Bienenkorb [2]

  "Hör mal, Roque, gestern war mit deiner lieben Schwägerin aber schlecht Kirschen essen!" Don Roque macht eine wegwerfende Handbewegung, als ginge ihn das gar nichts mehr an. "Die ist immer so. Ich glaube, die ist schon mit schlechter Laune zur Welt gekommen. Meine Schwägerin ist ein Scheusal. Wenn's nicht wegen der Mädels wär', ich hätte längst das Tischtuch zwischen uns zerschnitten. Aber was will man machen? Geduld, Geduld... Diese dicken, halb versoffenen Tanten werden meist nicht alt." (Camilio Jose Cela: Der Bienenkorb, S. 103)


Cela, Camilio Jose: Der Bienenkorb [3]

  Rabelais ist ein sehr gefährlicher Papagei, ein sehr frecher, ein entarteter Papagei, ohne Grundsätze, einer, an dem Hopfen und Malz verloren ist. im besten Fall ist er eine Zeitlang etwas zahmer und sagt "Schokolade" oder "Portugal" oder andere Worte, die alle anständigen Papageien sagen können. Da er aber völlig verantwortungslos ist, so schreit er, wenn man es am wenigsten erwartet, los und kreischt die ordinärsten und sündhaftesten Worte heraus mit seiner brüchigen Stimme wie eine alte Jungfer. Und am liebsten immer, wenn seine Herrin einen wichtigen Besuch hat. (Camilio Jose Cela: Der Bienenkorb, S. 142)


Cela, Camilio Jose: Der Bienenkorb [4]

  Don Jose Sierra macht ein merkwürdiges Geräusch im Hals, ein Geräusch, das sowohl "ja" als "nein" bedeuten kann oder auch "vielleicht" oder "wer weiß". Don Jose ist ein Mann, der nun mal seine Frau ertragen muß und es fertig gebracht hat, ganze Stunden, ja manchmal ganze Tage lang nichts weiter zu sagen als "Mm" und nach einer Weile wieder "Mm" und so fort. Das ist eine sehr diskrete Art, seiner Frau verstehen zu geben, daß sie eine dumme Gans ist, ohne es ihr direkt zu sagen. (Camilio Jose Cela: Der Bienenkorb, S. 161)


Cela, Camilio Jose: Der Bienenkorb [5]

  So zwischen halb zwei und zwei schließt sich die Nacht über dem seltsamen Herzen der Stadt. Tausende von Männern schlafen in dem Armen von Frauen, ohne ans Geld zu denken, an den grausamen Tag, der sie vielleicht in wenigen Stunden wieder erwartet, auf sie lauert wie ein Bergkatze. Hundert und aber hundert Junggesellen verfallen dem intimen, dem empfindsamen, dem delikaten Laster der Einsamen. Und ein paar Dutzend junger Mädchen liegen voller Erwartungen da - ja um Gottes willen, was erwarten sie eigentlich? - warum werden sie nur so betrogen? - den Kopf voller goldener Träume. (Camilio Jose Cela: Der Bienenkorb, S. 200)


Cela, Camilio Jose: Der Bienenkorb [6]

  Schüchtern und voller Bedenken fragen ihn manche Patienten nach Sulfonamidenpräparaten. Stest rät ihnen Don Francisco beinah unfreundlich davon ab. Don Francisco pflichtet nur sehr unwilligen Herzens dem Fortschritt der pharmazeutischen Forschung bei. "Es wird noch der Tag kommen", denkt er, "an dem wir Ärzte völlig überflüssig geworden sind, wo die Apotheker Listen von allen Medikamenten haben und die Kranken sie sich selbst verschreiben können." Wenn man Don Francisco zum Beispiel nach den Sulfonamidenpräparaten fragt, so pflegt er zu antworten. "Machen Sie, was Sie wollen. Aber kommen Sie nicht mehr zu mir. ich übernehme nicht die Verantwortung, die Gesundheit eines Menschen zu überwachen, der sich freiwllig das Blut verdirbt." (Camilio Jose Cela: Der Bienenkorb, S. 214)


Chandler, Raymond: Der große Schlaf

  Sie war an die zwanzig, klein und schnuckelig ziseliert, sah aber ganz so aus, als ob sie einiges verkraften könnte. Sie trug blaßblaue Hosen und sah gut darin aus. Sie ging, als ob sie schwebte. Sie hatte hübsches lohfarbenes Haar, das viel kürzer geschnitten war, als es die derzeitige Mode mit ihren eingerollten Pagenkopffransen verlangte. Ihre Augen waren schiefergrau und fast völlig ausdruckslos, als sie mich ansahen. Sie kam auf mich zu und lächelte mit dem Mund und hatte kleine scharfe Raubtierzähne, weiß wie frisches Orangenmark und schimmernd wie Porzellan. Sie blitzten zwischen dünnen, gestrafften Lippen Ihr Gesicht war fahl und wirkte nicht sehr gesund. "Sind Sie aber groß", sagte sie. "Ich hab's mir nicht ausgesucht." Ihre Augen kullerten. Sie war verdutzt. Sie dachte nach. Ich merkte schon nach dieser kurzen Bekanntschaft, daß sie mit dem Denken ihre liebe Not hatte. (Raymond Chandler: Der große Schlaf, S. 6)


Cheever, John: Der Schwimmer [1]

  Es begann alles an einem Herbstnachmittag - und wer kann, nach all diesen Jahrhunderten, noch die Stimmung eines Herbsttages beschreiben? Man kann so tun, als hätte man zuvor noch keinen erlebt oder, was dann schon besser ist, als sei kein anderer wie dieser eine. Die klaren und tastenden Sonnenstrahlen auf den Rasenflächen warfen ein Licht, schöner als jedes andere in diesem Jahr. Irgendwo wurde Laub verbrannt, und der Rauch roch durch seinen Gebalt an Ammoniak wie der Anfang aller Welt. Wie ein Trommelfell spannte sich der grenzenlose blaue Himmel über den Zenit. (John Cheever: Der Schwimmer. Stories, S. 46)


Cheever, John: Der Schwimmer [2]

  Mr. Flannagan stellte Zungenspatel aus Plastik her. Er bereiste die ganze Welt. Sie jedoch war nur ungern unterwegs. Flugzeuge machten sie krank, und in Tokio, wo sie im letzten Sommer gewesen waren, hatte man ihr rohen Fisch zum Frühstück vorgesetzt, und daraufhin war sie sofort nach Hause zurückgekehrt. Sie und ihr Mann hatten früher in New York gelebt, wo sie auch viele Bekannte hatte, aber Mr. Flannagan war der Meinung, daß es Falle eines Krieges auf dem Lande sicherer war. Ihr wäre es lieber gewesen, in Gefahr zu leben, als vor Einsamkeit und Langeweile zu sterben. (John Cheever: Der Schwimmer. Stories, S. 50)


Cheever, John: Der Schwimmer [3]

  Die Firma war patriarchalisch organisiert, das heißt, der Alte halste einem eine Sache auf und beorderte einen dann zur nächsten, und er steckte seine Nase in jeden Dreck - auch in die Fabrik in Jersey und in den im Bau befindlichen Veredlungsbetrieb in Nashville - und tat so, als hätte er die ganze Firma während eines Nickerchens so ganz nebenbei aus dem Ärmel geschüttelt. Ich ging dem Alten aus dem Wege, wo ich konnte, und tat in seiner Gegenwart, als hätte er mich höchsteigenhändig aus einem Klumpen Lehm geschaffen und mir den Atem des Lebens eingehaucht. Er gehörte zu der Art von Despoten, die ein Aushängeschild brauchen, und das war Gil Bucknams Aufgabe. Er war die rechte Hand des Alten, sein Aushängeschild und sein Friedensstifter und konnte jeden Geschäftsabschluß mit der Menschlichkeit verbrämen, die dem Alten abging. (John Cheever: Der Schwimmer. Stories, S. 72)


Cheever, John: Der Schwimmer [4]

  Meine Nachbarn sind zwar reich, aber in diesem Fall bedeutet Reichtum Muße, und sie machen weisen Gebrauch von ihrer Zeit. Sie reisen um die Welt, hören gute Musik, und wenn sie auf dem Flugplatz unter den dort ausliegenden Taschenbüchern ihre Wahl treffen, so suchen sie sich Thukydides aus und manchmal auch einen Thomas von Aquin. Trotz der dringenden Empfehlung, Luftschutzbunker zu bauen, pflanzen sie Bäume und Rosen, und ihre Gärten sind prächtig und bunt. (John Cheever: Der Schwimmer. Stories, S. 82)


Cheever, John: Der Schwimmer [5]

  Was mich erschreckte, war eher das Gefühl, nur noch von Dieben und Spekulanten umgeben zu sein, seit ich selbst ein Dieb geworden war. Mein linkes Auge hatte wieder angefangen zu zucken, und die Unfähigkeit der einen Hälfte meines Ich, sich gegen die Vorwürfe zu behaupten, mit denen sie von der andern Hälfte überhäuft wurde, ließ mich verzweifelt nach jemand anders Ausschau halten, dem ich die Schuld in die Schuhe schieben konnte. Ich hatte oft genug in der Zeitung gelesen, daß eine Scheidung manchmal zu Verbrechen führt. Meine Eltern hatten sich scheiden lassen, als ich ungefähr fünf war. Das war ein guter Anhaltspunkt und brachte mich schnell auf noch bessere Gedanken. (John Cheever: Der Schwimmer. Stories, S. 86)


Cheever, John: Der Schwimmer [6]

  Man könnte sagen, daß Mrs. Trencher eine unscheinbare Frau ist, aber ihre Unscheinbarkeit ist schwer im einzelnen zu beschreiben. Sie ist klein, hat eine gute Figur und gleichmäßige Gesichtszüge, und ich möchte eher annehmen, daß der Eindruck der Unscheinbarkeit von innerer Anspruchslosigkeit herrührt, von irgendeiner ungerechtfertigt niedrigen Einschätzung ihrer Chancen. Dr. Trencher raucht und trinkt nicht, und ich weiß nicht, ob da ein Zusammenhang besteht oder nicht, aber sein schmales Gesicht wirkt frisch - seine Wangen sind rosig, und der Blick seiner blauen Augen ist klar und scharf. Er trägt den einzigartigen Optimismus des erfolgreichen Arztes zur Schau - die Überzeugung, daß der Tod nichts als ein zufälliges Mißgeschick und die physische Welt nur ein Betätigungsfeld für wissenschaftlichen Eroberungsdrang sei. So unscheinbar seine Frau wirkt, so jung wirkt er. (John Cheever: Der Schwimmer. Stories, S. 123f.)


Cheever, John: Der Schwimmer [7]

  Jetzt kam mir der Ernst der Lage zum erstenmal wirklich zu Bewußtsein, denn ich merkte, daß seine Hilflosigkeit einer unberechenbaren und gar nicht zu unterschätzenden Neigung entgegenkam, die Ethel mit vielen andern Frauen gemeinsam hat - die Unfähigkeit, sich einem Hilferuf von irgendeiner Seite zu versagen, wenn er nur erbärmlich genug klingt. Es ist keine Neigung, die dem Verstand zugänglich wäre, und ich hätte es beinahe lieber gesehen, wenn sie ihn begehrt hätte, statt ihn zu bemitleiden. (John Cheever: Der Schwimmer. Stories, S. 128)


Cheever, John: Der Schwimmer [8]

  Chester sah seine Frau nicht an, aber allein ihre Gegenwart wirkte schon wohltuend und ermutigend auf ihn, denn er war davon überzeugt, daß sie eine außergewöhnliche Frau war. Er fand, daß ihren Kochkünsten etwas Geniales anhaftete, ihre Haushaltsführung den Stempel des Genies trug, sie ein geniales Gedächtnis hatte und daß ihre Fähigkeit, die Welt so zu nehmen, wie sie nun mal war, durch und durch genial war. Sie hatte Maiskuchen zum Frühstück gemacht, und er aß sie mit einer Hochachtung, die an Ehrfurcht grenzte. Es war für ihn eine feststehende Tatsache, daß niemand auf der Welt so gut Maiskuchen backen konnte wie seine Frau und daß in Manhattan an diesem Morgen niemand außer ihr auch nur den Versuch gemacht hätte. (John Cheever: Der Schwimmer. Stories, S. 207)


Cheever, John: Marcie Flints Schwierigkeiten [1]

  Es wäre unfair gewesen, Ralph und Laura Whittemore als typische und unverbesserliche Schatzsucher hinzustellen, aber man konnte guten Gewissens behaupten, daß der Glanz, der Geruch, die ganze eigentümliche und verheißungsvolle Kraft des Geldes einen ungünstigen Einfluß auf ihr Leben ausübten. Sie waren immer auf der Schwelle zum Erfolg, sie schienen immer ein Eisen im Feuer zu haben. Ralph war ein gutaussehender junger Mann mit unerschöpflicher kaufmännischer Phantasie und einem unerschütterlichen Glauben an das Magische und Abenteurliche des geschäftlichen Erfolgs, und wenn er nur einen obskuren Job bei einem Textilfabrikanten innehatte, so sah er darin doch nie etwas anderes als eine Übergangslösung. (John Cheever: Marcie Flints Schwierigkeiten,. Stories, S. 91)


Cheever, John: Marcie Flints Schwierigkeiten [2]

  Julia und Francis Weed gingen viel aus. Julia war gesellig und beliebt, und ihre Begeisterung für Parties entsprang einer sehr natürlichen Furcht von verworrenen Verhältnissen und Einsamkeit. Sie sah morgens ihre Post mit echter Besorgnis durch, stets auf Einladungen hoffend, und gewöhnlich waren auch welche dabei, aber sie war unersättlich, und wenn sie an sieben Abenden der Woche ausging, änderte das nichts an ihrem nachdenklichen Blick, dem Blick eines Menschen, der in der Ferne Musik hört, denn sie argwöhnte immer, daß an einem anderen Ort eine glanzvollere Party stattfand. (John Cheever: Marcie Flints Schwierigkeiten,. Stories, S. 188)


Cheever, John: Marcie Flints Schwierigkeiten [3]

  Das Zimmer war glänzend sauber und still, und durch die Fenster, die nach Westen gingen, drang ein letzter Rest Spätsommer-Sonneschein herein, strahlend und klar wie Wasser. Nichts war hier vernachlässigt, nichts war nicht poliert. Es war nicht die Art von Haushalt, in dem man in einer klemmenden Zigarettendose, nachdem man sie mühsam geöffnet hat, einen alten Hemdenknopf und ein angelaufendes Fünfcentstück findet. (John Cheever: Marcie Flints Schwierigkeiten,. Stories, S. 182)


Cheever, John: Marcie Flints Schwierigkeiten [4]

  Ein neues Mädchen reichte die Getränke herum. Sie hatte dunkles Haar, und ihr Gesicht war rund und blaß und kam Francis bekannt vor. Sein Erinnerungsvermögen war im allgemeinen nicht von Gefühlswerten bestimmt. Der Rauch eines Holzfeuers, Flieder und ähnliche Düfte reizten ihn nicht. Sein Erinnerungsvermögen war so etwas wie sein Blinddarm: ein verkümmertes Organ. Unfähigkeit, vor der Vergangenheit zu flüchten, war nicht sein Problem; eher vielleicht, daß ihm dies nur zu gut gelang. Er mochte das Mädchen auf anderen Parties gesehen zu haben oder Sonntag nachmittags auf einem Spaziergang, aber weder in dem einen noch in dem anderen Fall würde er jetzt sein Gedächtnis durchforschen. Ihr Gesicht war auf wundervolle Weise rund wie der Mond, ein normannisches oder irisches Gesicht, aber es war nicht schön genug, um sein Gefühl zu erklären, er habe sie schon einmal gesehen, unter Umständen, an die er sich eigentlich erinnern sollte. (John Cheever: Marcie Flints Schwierigkeiten, Stories, S. 188)


Cheever, John: Marcie Flints Schwierigkeiten [5]

  Er erwartete, Mrs. Henlein zu sehen, die alte Dame, die sonst immer bei den Kindern blieb, und er war überrascht, als ein junges Mädchen für Tür öffnete und auf den beleuchteten Vorplatz trat. Sie blieb im Licht stehen, um ihre Lehrbücher zu zählen. Sie krauste die Stirn. Sie war schön. Nun ist die Welt zwar voller schöner junger Mädchen, aber hier erblickte Francis den Unterschied zwischen Schönheit und Vollkommenheit. All jene liebenswerten Hautunreinheiten, Leberflecken, Muttermale und verheilten Narben - es gab sie nicht. Es war für ihn eine Empfindung wie jener Augenblick, in dem Musik Glas zerspringen läßt, ein plötzliches Wiedererkennen, so ungewöhnlich und tief und wunderbar wie nur irgend etwas in seinem Leben. Es ging von ihrer gekrausten Stirn aus, von einer kaum spürbaren Dunkelheit in ihrem Gesicht - ein Ausdruck, der ihn traf wie ein direktes Flehen um Liebe. (John Cheever: Marcie Flints Schwierigkeiten,. Stories, S. 191)


Cheever, John: Die Bürger von Bullet Park [1]

  Mrs. Trencham war erst vor kurzem übergetreten - sie hatte bisher zu den Unitariern gehört -, und sie war mehr als stolz auf ihre rasche Auffassungsgabe, wenn es um Responsorien und Kniefälle ging. Sie war kampflustig. Kaum erklang die Stimme des Priesters im Vestarium, da war sie schon auf den Beinen und schmetterte mit feierlicher und volltönender Stimme ihre 'Amen' und ihre 'Erbarme dich unser', wobei sie der übrigen Gemeinde stets weit voraus war, als sei dies eine Art kirchlicher Wettlauf. Ihre Verneigungen waren tief und graziös, ihr Kredo und ihr Sündenbekenntnis stimmten auf den Buchstaben genau, ihr 'Lamm Gottes' war gefühlvoll, und wenn irgend jemand ihr Konkurrenz machte, wie es gelegentlich der Fall war, bekreuzigte sie sich ein paarmal mehr, um damit ihr überlegene Frömmigkeit zu beweisen. Mrs. Trecham blieb immer Siegerin. (John Cheever: Die Bürger von Bullet Park, S. 19)


Cheever, John: Die Bürger von Bullet Park [2]

  Sie mußte einmal sehr hübsch gewesen sein und würde wahrscheinlich nie die Überlegenheit einbüßen, die dieser Glücksfall ihr verliehen hatten, als sie noch jünger war. Sein Gesicht war unbedeutend, anständig und freundlich. Ohne den freundlichen Ausdruck hätte es vielleicht banal ausgesehen. Beide sprachen die Responsorien mit klarer Stimme. In ihrer Anmut und Lieblichkeit, dachte Nailles, gehört sie zu jenen Frauen, die sich in dem außergewöhnlichen und visionären Stand der heiligen Ehe zu sonnen scheinen. Kummer und Sorgen haben kein einziges Fältchen auf ihrem Gesicht hinterlassen. Sie wird in allen ihren Rollen brillieren - eifrig, klug, verständig, liebevoll. Es ist, als wäre die Ehe für Frauen wie sie erfunden worden. Ja, sie und ihresgleichen hätten sogar bei der Erfindung der Ehe die hand im Spiel haben können. Was den Mann betraf, so hätte ein weniger wohlwollender Kritiker, als Nailles es war, in ihm einen jener Menschen gesehen, bei denen man auf dem Gipfel ihrer Vollendung entdeckt, daß sie von den ihnen anvertrauten Geldern zwei Millionen Dollar veruntreut haben, um die Befriedigung ihrer ungezügelten und unatürlichen sexuellen Triebe und die damit verbundene Erpressung zu finazieren. Derselbe Kritiker hätte die Frau als gelangweilt und rachsüchtig bezeichnet, als eine heimlich Sherrytrinkerin, die nachts davon träumt, in einem Männerharem wilde Orgien zu feiern. Aber in Nailles' Augen waren die beiden an diesem regnerischen Morgen unangreifbar. Ihre Ehe, Leidenschaft und Intelligenz waren echt. Ihr Leben würde nicht frei von Gefahren sein, aber sie würden ihren Enttäuschungen und ihren Erfolgen mit einem unveränderlichen Einsatz von gesundem Menschenverstand begegnen. (John Cheever: Die Bürger von Bullet Park, S. 20f.)


Cheever, John: Die Bürger von Bullet Park [3]

  Nellie war in der Küche. Sie briet Speck, und er küßte und umarmte sie leidenschaftlich. Nailles liebte Nellie. Wenn irgend etwas sein ureigenes Schicksal war, dann seine Liebe zu Nellie. Sollte sie vor ihm sterben, so würde er sich vielleicht in die Flammen ihres Scheiterhaufens stürzen, um mit ihr zu verbrennen - auf den Gedanken, daß Nellie sterben könnte, war er allerdings noch nie verfallen. Er hielt sie für unsterblich. Die Intensität seiner Monogamie, die Unbedingtheit seines Glaubenes an die Heiligkeit der Ehe wurde von erstaunlich vielen Leuten für morbid, anormal und pervers gehalten. Im Lauf der Zeit hätte er so manche Frau haben können, aber wenn eine Geschiedene, eine Witwe oder eine abenteuerlustige Hausfrau ihn feurig attackierte, nahm sein männliches Glied eine peinlich desinteressierte Haltung an. (John Cheever: Die Bürger von Bullet Park, S. 19)


Cheever, John: Die Bürger von Bullet Park [4]

  Die Ridleys waren ein Paar, das der geheiligten Institution der Ehe eine ausgesprochene kommerzielle Note gab, als wären Heirat und Empfängnis, Erziehung der Kinder und ihre Ausbildung so etwas wie die fabrikmäßige Herstellung und der Verkauf eines nützlichen, in Konkurrenz mit anderen Firmen produzierten Artikes. Sie waren nicht George und Helen Ridley. Sie waren "die Ridleys". Man konnte glauben, sie einen Geschäftspartner und verkauften über den Ladentisch größere und kleinere Anteile an ihrem Schicksal. (John Cheever: Die Bürger von Bullet Park, S. 103)


Cheever, John: Die Bürger von Bullet Park [5]

  Mit Nailles verhielt es sich so , daß er Männer verachtete, die sich vor Frauen fürchteten. Er war mit einem Freund aufgewachsen, der an dieser schrecklichen Schwäche litt. Sein Name war Harry Pile, und er hatte sich zeit seines Lebens vor Frauen gefürchtet. Die erste war natürlich seine Mutter - eine große, vollbusige, unbeherrschte Frau, die mit wiedersprüchlichen Befehlen um sich warf, ihren Mann seelisch zermürbte und ihren einzigen Sohn mit einem knorrigen Spazierstock verdrosch. (John Cheever: Die Bürger von Bullet Park, S. 104)


Cheever, John: Die Geschichte der Wapshots [1]

  Ihr Blick war verhangen und lüstern. Sie hob das Gesicht, um sich küssen zu lassen, er knüpfte die Bänder ihres Nachthemds auf, so daß es ihr bis zur Taille glitt, und sie zog seinen Kopf herunter, damit er ihre Brüste begrüßte. Dann durchquerte sie nackt und ohne Scheu das Zimmer und ging ins Bad, um ihre Toilette zu beenden, und Moses lauschte dem Plätschern des Wassers und dem Öffnen und Schließen der Schubladen, wohl wissend, daß ein verständiger Liebhaber Verzögerungen dieser besonderen Art zu schätzen wissen sollte. Als sie zurückkam, von einem Glorienschein umgeben, wie ihm schien, schaltete sie auf ihrem Weg die Lampen aus, und als er im Morgengrauen ihren zarten Hintern streichelte und dem Krächzen der Krähen lauschte, sagte sie, er müsse jetzt gehen. (John Cheever: Die Geschichte der Wapshots, S. 272)


Cheever, John: Die Geschichte der Wapshots [2]

  Dann kam die an ihrem Rednerpult stehende Mrs. Wapshot, eine Frau von vierzig Jahren, deren zarte Haut und klaren Gesichtszüge ebenfalls ihrem Organisationstalent zuzurechnen waren. Sie war schön, doch als sie an dem Glas Wasser auf ihrem Rednerpult nippte, lächelte sie traurig, als schmecke es bitter, denn trotz ihres staatsbürgerlichen Eifers hatte sie einen ungewöhnlichen Hang zur Schwermut - zu dem Geruch von Orangenschalen und Holzfeuern. Sie wurde eher von den Frauen als von den Männern bewundert, und ihre Schönheit rührte vielleicht von Ernüchterung her (Leander hatte sie betrogen), doch sie hatte alle Mittel ihres Geschlechts gegen seine Untreue ins Feld geführt und war dafür mit einer solchen Aura gekränkter Würde und leuchtender Schönheit belohnt worden, daß einige ihrer Anhängerinnen beim Vorbeifahren des Wagens unwillkürlich seufzten, als sähen sie in ihrem Gesicht ein ganzes Leben vorüberziehen. (John Cheever: Die Geschichte der Wapshots, S. 12)


Cheever, John: Die Geschichte der Wapshots [3]

  Vermutlich redeten die Damen über ihn, und er brauchte sich nur ans Fenster zu stellen und zu lauschen. "Er ist am hellichten Tag auf Gull Rock aufgelaufen", sagte Mrs. Gates, als sie den Weg zum Steg hinunterging. "Theophilus glaubt, er war betrunken." Was für ein zartes Wesen ist doch ein Mann. Auch wenn er ständig schwadroniert oder sich zwischen den Beinen kratzt, kann schon ein Tuscheln seine Seele in Asche verwandeln. (John Cheever: Die Geschichte der Wapshots, S. 251)


Cheever, John: Die Geschichte der Wapshots [4]

  Die Jungen gingen mit ihrer Mutter um elf in die Kirche, und Coverly warf sich inbrünstig auf die Knie, doch er war noch nicht halb mit seinem ersten Gebet fertig, als das Parfüm der vor ihm sitzenden Frau all seine Selbstkasteiung zunichte machte und ihm offenbarte, daß das Gebäude der Christ Church keine gewaltige Festung war, denn obwohl der Küster die Eichentüren geschlossen hatte und die einzigen Fenster so klein waren, daß nicht einmal ein Kind hindurchschlüpfen konnte, ging der Teufel nach Coverlys Vorstellung in der Kirche ein und aus, hockte sich ihm auf die Schulter und drängte ihn, in den Ausschnitt von Mrs. Harpers Kleid zu spähen, die Fesseln der Dame vor ihm zu bewundern und zu überlegen, ob an den Gerüchten über den Pfarrer und den Chorknaben mit der Sopranstimme etwas dran war. Seine Mutter stieß ihn mit den Ellbogen an, als es Zeit fürs Abendmahl war, doch er sah sie nur mit bleichem Gesicht an und schüttelte den Kopf. Die Predigt war ermüdend, und Coverly Gedanken drehten sich unaufhörlich um den Text eines obszönen zweistrophigen Limmericks über einen Bischof. (John Cheever: Die Geschichte der Wapshots, S. 84)


Cheever, John: Die Geschichte der Wapshots [5]

  Vor ihm stand eine sehr unscheinbare Frau, deren Mantel an den Schultern vom Regen dunkeln gefärbt war. Ihr Gesicht war länglich, ihr Hut war keck mit steifen weißen Federn geschmückt, wie man sie für Federbälle benutzt, und ihr Mantel abgetragen. Leander glaubte, von ihrem Schlag schon Hunderte gesehen zu haben. Sie bestimmten das Bild Neuenglands. Sie waren pflichtbewußt, fromm und robust und hatten ihr Wesen anscheinend den Kräutern nachgebildet, die auf Bergweiden wachsen. Nach diesen Frauen, dachte Leander, werden die schmutzigen Boote der Makrelenfischerflotte benannt: Alice, Esther, Agnes, Maybelle und Ruth. Daß sie Federn am Hut und eine häßliche Brosche aus Muscheln über der flachen Brust trug, daß an einer so entmutigenden Gestalt überhaupt etwas Feminines, Schmuckartiges zu sehen war, fand Leander rührend.(John Cheever: Die Geschichte der Wapshots, S. 198)


Cheever, John: Die Geschichte der Wapshots [6]

  Moses hörte dem General zu, doch der Gedanke, daß er Melissa vögeln würde, hatte dem Tag einen anhaltenden, freudigen Glanz verliehen, und daher konnte er nur mit Mühe verhindern, daß seine Liebesglut in Ungeduld umschlug, während er dem Loblied auf den verstorbenen Millionär lauschte. Melissa war schön, eine Schönheit jener Art, die sogar einen Ladenschwengel oder einen Automechaniker mit erhabenen Gedanken erfüllt. Das kräftige Goldbraun ihres Haars, ihre Schultern, ihr Hals und die Augen, die aus dieser Entfernung schwarz aussahen, übten auf Moses eine solche Anziehungskraft aus, daß er Melissa in seinem Verlangen in den dunklen Goldtönen erglänzen sah, die bei alten Gemälden durch die vielen Firnisschichten entstehen. Er wäre froh gewesen, wenn ihr ein kleines Mißgeschick passiert wäre, denn die tiefe Anteilnahme, die wir empfinden, wenn wir sehen, wie eine entzückende Frau - oder auch eine Frau, an der nur noch ihre Absicht zu entzücken uns entzückt - auf den eisernen Stufen eines Zugwagons oder am Bordstein einer Straße stolpert, oder wenn wir an einem regnerischen Tag sehen, wie die Papiertüte aufplatzt, in der sie ihre Lebensmittel nach Hause trägt, und die Orangen, der Sellerie, die Brote, der in Zellophan gehüllte Aufschnitt um ihre Füße und in die Pfützen auf dem Gehsteig purzeln - diese tiefe Anteilnahme, die sich durch Verletzung oder Verlust erklären ließe, verspürte Moses, ohne eine Erklärung dafür zu haben. (John Cheever: Die Geschichte der Wapshots, S. 269)


Chesterton, Gilbert Keith: Father Brown ... [1]

  Professor Openshaw bekam jedesmal einen Tobsuchtsanfall, wenn man ihn als Spiritisten bezeichnete oder behauptete, daß er an Spiritismus glaube. Aber damit nicht genug, er bekam auch einen Tobsuchtsanfall, wenn man behauptete, daß er nicht an Spiritismus glaube. Es war sein Stolz, daß er sein ganzes Leben der Erforschung psychischer Phänomene gewidmet hatte. Es war ferner sein Stolz, daß er nie hatte durchblicken lassen, ob er sie wirklich für psychisch oder bloß Phänomene hielt. Nichts freute ihn mehr, als einem Kreis überzeugter Spiritisten zu erzählen, wie er Medium auf Medium entlarvt und Schwindel auf Schwindel entdeckt hatte. Tatsächlich entwickelte er die Talente eines Detektivs, sobald er sein Auge auf einen Gegenstand gerichtet hatte; und auf so verdächtige Gegenstände wie Medien richtete er sein Auge mit Vorliebe. (Gilbert Keith Chesterton: Father Brown kann nicht glauben. Detektivgeschichten, S. 60)


Chesterton, Gilbert Keith: Father Brown ... [2]

  Auf dem Golfplatz, der parallel zum Strand und zum Meer lag, die beide schon in Abenddämmerung gehüllt waren, spielte ein junger Mann in Knickerbocker, mit kühnem Profil, voller Eifer Golf gegen sich selbst. Er schlug den Ball nicht wild vor sich her, sondern übte offenbar ganz besondere Schläge, mit einer Art mikroskopischer Besessenheit, wie ein netter und wohlerzogener Wirbelwind. Er hatte schon viele Spiele und Sportarten rasch erlernt, ja er hatte eine Neigung, sie etwas rascher zu erlernen, als sie erlernt werden können. Er war das geborene Opfer jener Ankündigungen, die da versprechen, daß man Violinspielen in sechs Lektionen und akzentfreies Französisch auf brieflichem Wege erlernen könne. Die optimistische Atmosphäre solcher Ankündigungen und Versprechungen war so recht sein Lebenselement. (Gilbert Keith Chesterton: Father Brown kann nicht glauben. Detektivgeschichten, S. 78)


Chesterton, Gilbert Keith: Ketzer

  In Wirklichkeit ist das Alltagsleben dieses Herrn, wie das Leben jedes beliebigen normalen Menschen der Moderne, eine einzige kontinuierliche und dichtgedrängte Folge von mystischem Getue und Geklingel. Hier nur eines von bestimmt hundert Beispielen: Ich vermute, daß Mr. Kensit von einer Dame den Hut zieht; und was gibt es, abstrakt gesehen, Steiferes und Abstruseres, als die Existenz des anderen Geschlechts dadurch zu versinnbildlichen, daß man ein Kleidungsstück auszieht und es durch die Luft schwenkt? (Gilbert Keith Chesterton: Ketzer. Ein Plädoyer gegen die Gleichgültigkeit, S. 213)


Christie, Agatha: Paradies Pollensa

  Was bedeuten die Jahre zwischen zwanzig und vierzig? Man ist beschäftigt mit seinen Gefühlen, mit sich selbst. Das muß so sein. Das ist das Leben. Aber später verschieben sich die Akzente. Man denkt klarer, lernt beobachten, andere Menschen verstehen und erhält Einsichten in viele Zusammenhänge. Das Leben wird wirklich - bedeutungsvoll. Man sieht es als ein Ganzes. Nicht nur eine einzelne Szene, in der man gerade als Schauspieler agiert. Kein Mensch ist wirklich er selbst vor fünfundvierzig. Dann erst hat seine Individualität eine Chance. (Agatha Christie: Paradies Pollensa)


Claudel, Philippe: Die grauen Seelen

  Vor diesem Ereignis war der Richter Mierck für uns einfach der Richter Mierck, und fertig. Er hatte seinen Platz, er füllte ihn aus. Man mochte ihn nicht besonders, doch man zollte ihm Respekt. Aber nach dem, was er an diesem ersten Montag im Dezember gesagt hatte, angesichts der durchnässten sterblichen Überreste der Kleinen, und vor allem danach, wie er es gesagt hatte, schneidend, leicht spöttisch, mit lebhafter Freude darüber in den Augen, endlich ein Verbrechen zu haben, und zwar ein richtiges - denn daß es eines war, daran gab es keinen Zweifel - in diesen Kriegszeiten, in denen alle Mörder in Zivil Pause machten, um sich in Uniform noch eifriger an die Arbeit zu begeben, nach dieser Antwort also wandten sich alle wie ein Mann von ihm ab und gedachten seiner nur noch mit Abscheu. (Philippe Claudel: Die grauen Seelen, S. 18)


Claudel, Philippe: Die grauen Seelen [2]

  Der Richter schnappte, die Hände auf dem Rücken, mit vollen Lungen nach Luft und wippte auf der Stelle. Man wartete auf Victor Desharet, den Arzt aus V. Aber der Richter hatte es nicht mehr eilig. Er genoß Augenblick und Ort. Er versuchte, sich ihn tief ins Gedächtnis einzuprägen, wo es bereits viele Verbrechensgemälde und Mordlandschaften gab. Das war sein persönliches Museum, und ich bin sicher , daß ihm, wenn er hindurchging, wohlige Schauer über den Rücken liefen, die denen der Mörder in nichts nachstanden. Die Grenze zwischen Wild und Jäger ist schmal. (Philippe Claudel: Die grauen Seelen, S. 22)


Claudel, Philippe: Die grauen Seelen [3]

  Der Sommer kündigte sich in den Gartenlauben ebenso heiß an wie in den Schädeln vieler Patrioten, die man wie ein robustes Uhrwerk aufgezogen hatte. Überall reckte man Fäuste und pflegte schmerzliche Erinnerungen. Auch bei uns schließen manche Wunden sich schlecht, vor allem solche, die sich während langer Abende haßerfüllten Grübelns immer neu entzünden. Aus Eigenliebe und Dummheit war ein ganzes Land bereit, einem anderen an die Gurgel zu gehen. Die Väter drängten ihre Söhne. Die Söhne drängten ihre Väter. Nur die Frauen - Mütter, Gattinnen oder Schwestern - beobachteten das Geschehen mit Sorge um kommendes Leid im Herzen und einer Klarsichtigkeit, die sie weit entfernt hielt von diesen mit Hurrageschrei erfüllten, weinseligen Nachmittagen und den vaterländischen Liedern a la Paul Deroulede, die damals ohrenbetäubend aus dem Laubwerk der Kastanienbäume widerhallten. (Philippe Claudel: Die grauen Seelen, S. 43)


Claudel, Philippe: Die grauen Seelen [4]

  Befragte man Marcel Crouche, den Briefträger, der es nie schaffte, seine Runde zu beenden, wegen der vielen anderen Runden mit Wein, Schnaps, Kaffee mit Rum, Pernod oder Wermut, die er nie ausschlug. Gegen Ende des Vormittags endete er an der Wand des Waschhauses, hockte dort, gab politischen Unfug von sich, schnarchte bald wie ein Bär und hielt die Briefträgertasche fest an sich gedrückt. (Philippe Claudel: Die grauen Seelen, S. 91)


Claudel, Philippe: Die grauen Seelen [5]

  Dann unterhielten wir uns, wie wir es noch nie getan hatten. Wir sprachen über Blumen, das war seine Leidenschaft, "der schönste Beweis der Existenz Gottes, falls einer nötig wäre", sagte er. Wir sprachen über Blumen, in diesem Zimmer, während es um uns herum Nacht war und Krieg. (...) Seitdem habe ich oft daran gedacht, was der Pfarrer über die Blumen, Gott und dessen Beweis gesagt hatte. Ich habe gedacht, daß es wahrscheinlich Orte auf der Welt gibt, an die Gott nie auch nur einen Fuß setzt. (Philippe Claudel: Die grauen Seelen, S. 14/148)


Claudel, Philippe: Die grauen Seelen [6]

  Er sah mich an, lächelnd, mit diesem Pfarrerblick, von dem ich gesprochen habe, der in unser Innerstes dringt und uns die Seele herausreißt, wie man mit einer zweizinkigen Gabel die gekochte Schnecke aus ihrem Haus zieht. Dann sagte er, da, wo er hingehe, gebe es tausend Blumen, tausend, die er noch nicht kenne, die er nie gesehen habe oder doch nur in Büchern, und man könne nicht immer nur in Büchern leben, eines Tages müsse man das Leben und seine Schönheiten mit vollen Händen ergreifen. (Philippe Claudel: Die grauen Seelen, S. 149)


Claus, Hugo: Der Kummer von Belgien [1]

  "König Albert", sagte Marnix de Puydt, der als Fürst der westflämischen Literatur des Öfteren bei Hofe empfangen wurde, "König Albert", sagte er, "war so kurzsichtig, aber auch so ungeschickt, dass er bei offiziellen Banketten nie etwas aß, aus Angst, mit Löffel oder Gabel danebenzuzielen. Dass seine Erscheinung als 'ritterlich' bezeichnet wurde und man ihm 'natürliche Noblesse' zuschrieb, weil er sein Herrscherhaupt so würdevoll aufrecht hielt, lag daran, dass er keine zwanzig Zentimeter weit sehen konnte. Wenn er nach so einem Bankett mit seiner Königin und ein paar verlässlichen Lakaien wieder allein zu Hause war, hat er sich auf seine spezielle Terrine aus dem Sachsen-Coburger Familienporzellan gestürzt und ohne Löffel und Serviette, aber froh und glücklich einen Liter Zwiebelsuppe geschlürft." (Hugo Claus: Der Kummer von Belgien)


Claus, Hugo: Der Kummer von Belgien [2]

  "Zieh die Hose aus", sagte Tante Nora. Sie konnte nichts dagegen tun, dass es zärtlich klang, und schnauzte sofort: "Und zwar ein bisschen dalli!" (...) "Na also", sagte sie. "Schau doch mal, er hat sein Mützchen noch auf." Was bedeutete das nun wieder? Ein Mützchen. Ich will nicht mehr mit ihr reden. (...) "Was ist das deutsche Wort für das Vorhäutchen? Hitlerjugendmützchen?" Sie prustete vor Lachen. "Na, du Oberschlauer, du bist doch sonst so gescheit und liest all die jüdischen Bücher, die noch nichts für dein Alter sind?" Mit ihren langen Fingern fasste sie an seine Vorhaut, zupfte daran. (Hugo Claus: Der Kummer von Belgien)


Coetzee, J.M.: Der Meister von Petersburg

  An der Tochter findet er nichts von der sanften Trockenheit der Mutter. An ihr ist im Gegenteil etwas Flüssiges, etwas von einem jungen Reh, zutraulich und doch nervös, wenn es den Hals reckt, um an der Hand des Fremden zu schnüffeln, sprungbereit zur Flucht. Wie kann diese dunkelhaarige Frau eine so blonde Tochter geboren haben? Aber die Merkmale sind alle da: die fast kleinen, fast unterentwickelten Finger; die dunklen Augen, strahlend wie auf byzantinischen Heiligenbildern; die feine Wölbung der Stirn; sogar die ein wenig verdrossene Miene. Seltsam, wie ein Gesicht beim Kind die vollkommene Form annehmen kann, während es bei der Mutter nur wie ein Abbild wirkt! (J.M.Coetzee: Der Meister von Petersburg, S. 18)


Coetzee, J.M.: Der Meister von Petersburg [2]

  Ich bin nur gekommen, um Pawels Papiere zu holen, die mir in einer Hinsicht wertvoll sind, die Sie nicht verstehen können. Ich will nur die Papiere, sonst nichts. Ich frage Sie noch einmal: Werden Sie sie mit zurückgeben? Für Sie sind sie nutzlos. Sie werden Ihnen nichts darüber sagen, warum intelligente junge Männer unter den Einfluß von Übeltätern geraten. Und Ihnen werden sie am allerwenigsten sagen, weil Sie nicht lesen können. Die ganze Zeit, als Sie die Geschichte vorlasen - soviel darf ich wohl sagen -, habe ich bemerkt, wie Sie auf die schützende Distanz bedacht waren, wie Sie sich hinter Spott verschanzten, als ob Sie befürchteten, die Worte könnten Ihnen vom Papier an die Gurgel springen. (J.M.Coetzee: Der Meister von Petersburg, S. 52)


Coetzee, J.M.: Der Meister von Petersburg [3]

  "Leider war der Hauptmann, Marjas Bruder, ein Trinker. Und wenn er betrunken war, behandelte er sie sehr schlecht. Später konnte er sich dann an nichts erinnern." "Was hat er ihr getan?""Er hat sie geschlagen, weiter nichts. Prügel nach guter alter Russenart. Sie hat es ihm nichts weiter übelgenommen. In ihrer Einfalt hat sie vielleicht gedacht, die Welt ist nun mal nicht anders: ein Ort, wo man Prügel kriegt." Ihrer Aufmerksamkeit war er sicher. Nun zieht er die Schraube fester. "Einem Hund muß die Welt schließlich auch so vorkommen oder einem Pferd. Warum sollte Marja anders sein? Ein Pferd versteht ja auch nicht, daß es auf der Welt ist, um einen Wagen zu ziehen. Es denkt, es ist dazu da, Prügel zu kriegen. Der Wagen, denkt es, ist so ein großes Ding, an dem es festgebunden wird, damit es nicht weglaufen kann, wenn es Prügel kriegt." (J.M.Coetzee: Der Meister von Petersburg, S. 79)


Coetzee, J.M.: Der Meister von Petersburg [4]

  Wenn Sie einen Rat von jemandem annehmen wollen, der das alles schon mal durchgemacht hat, dann sollten Sie Ihrem Kummer freien Lauf lassen. Weinen Sie wie eine Frau! Das ist das große Geheimnis der Weiber, das sie vor Leuten wie uns voraus haben. Die wissen, wann sie sich gehenlassen und weinen müssen. Wir, Sie und ich, wir wissen das nicht. Wir stauen das in uns auf, bis es kocht wie die Hölle. Und dann gehen wir und machen eine Dummheit, bloß um es für ein, zwei Stunden mal loszuwerden. Ja, dann machen wir eine Dummheit, die wir für ewig bereuen. (J.M.Coetzee: Der Meister von Petersburg, S. 93)


Collins, Wilkie: Das Geheimnis des Myrtenzimmers [1]

  Das allgemeine Gerücht, das Mr. Treverton für verrückt erklärte, unterlag noch einem anderen Irrtum, nämlich, ihn als geizig zu bezeichnen. Er hortete mehr als zwei Drittel seines Vermögens, nicht, weil er es liebte, Geld anzuhäufen, sondern weil er einfach keine Freude an dem Komfort und dem Luxus hatte, den Geld zu verschaffen imstande ist. Um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Die Verachtung für sein eigenes Wohlbefinden war genauso tief wie für das seiner Nachbarn. So absolut falsch das Gerücht über seinen Charakter urteilte, so unbedingt recht hatte es in der Beschreibung seiner Lebensumstände. Es war richtig, daß er das erstbeste Landhaus gekauft hatte, das sich hinter seinen eigenen Mauern versteckte, es war richtig, daß er keiner Menschenseele gestattet, seine Türen zu durchschreiten, und es war richtig, daß er in der Person seines Dieners Shrowl einem noch größeren Menschenverächter begegnete, als er selbst es war. Das Leben dieser beiden Burschen näherte sich so weit dem Leben primitiver Menschen (oder Barbaren), wie die umgebenden Bedingungen es zuließen. Die Notwendigkeit zu essen und zu trinken eingestehend, war es das erste Bestreben von Mr. Treverton, möglichst geringfügig von jenen Vertretern des Menschengeschlechts abzuhängen, deren Beruf es war, die Bedürfnisse des Körpers ihrer Nachbarn zu befriedigen und sie dabei - wie er glaubte - kraft ihres Berufes hinterhältig zu betrügen. Da er hinter seinem Haus einen Garten hatte, wurde Timon von London ohne jeglichen Gemüsehändler fertig, da er sein eigenes Gemüse zog. Es gab keinen Platz, um Weizen zu säen, sonst wäre er auch als Getreidebauer Selbstversorger geworden. Aber er konnte Müller und Bäcker dennoch überlisten, da er nämlich einen Sack Getreide kaufte, ihn in seiner eigenen Handmühle und das Mehl dann Shrowl zum Brotbacken übergab. Nach demselben Prinzip wurde das Fleisch bei einem Großhändler in der Stadt gekauft. Herr und Diener aßen soviel von dem frischen Fleisch wie sie konnten, den Rest salzten sie ein und trotzten so den Metzgern der Umgebung. Weder Brauer noch Gastwirte hatten jemals eine Chance, einen Penny aus Mr. Trevertons Tasche zu ziehen. Er und Shrowl begnügten sich mit Bier, und sie brauten selbst. Mit Brot, Gemüse, Fleisch und vergorenem Malztrank erreichten diese beiden modernen Eremiten den doppelten Effekt, alles zum Leben Notwendige zu haben, ohne die Kaufleute zu bereichern. (Wilkie Collins: Das Geheimnis des Myrtenzimmers, S 93)


Collins, Wilkie: Das Geheimnis des Myrtenzimmers [2]

  Miss Sturch, die Gouvernante, kann kurz und bündig als eine junge Dame beschrieben werden, deren Wesen seit dem Tage ihrer Geburt niemals durch einen Gedanken oder ein Ereignis beunruhigt worden war. Sie war eine kleine mollige, ruhige, hellhäutige, lächelnde, reinlich gekleidete Person, erzogen zur peinlichen Erfüllung bestimmter Pflichten zu bestimmten Zeiten, begabt mit einem unerschöpflichen Themenvorrat für allgemeines Geplauder, das sanft von ihren Lippen tropfte, wann immer es verlangt wurde, stets in gleicher Qualität, zu jeder Tages- und Jahreszeit. Miss Sturch lachte niemals und weinte niemals, sondern schlug den sicheren Mittelweg des beständigen Lächeln ein. Sie lächelte, wenn sie an einem Januarmorgen herunterkam und bemerkte, es sei sehr kalt. Sie lächelte, wenn sie an einem Julimorgen herunterkam und bemerkte, es sei sehr heiß. (Wilkie Collins: Das Geheimnis des Myrtenzimmers, S 42)


Collins, Wilkie: Das Geheimnis des Myrtenzimmers [3]

  Und wann immer sie miteinander redeten, stritten sie. Gewöhnlich war ihr Dialog eine Art von Kampf auf dem Gebiet der Konversation, der mit einer sarkastischen angeblich wohlwollenden Behauptung auf jeder Seite begann und in einem herzhaften Austausch heftiger Beschimpfungen endete, gerade wie die Boxer die leichte Formalität des Händeschüttelns erledigen, bevor sie das ernsthafte, praktische Geschäft damit beginnen, sich gegenseitig die Gesichter zu zerschlagen, bis jede Ähnlichkeit mit einem Menschen daraus verschwunden ist. (Wilkie Collins: Das Geheimnis des Myrtenzimmers, S 94)


Collins, Wilkie: Das Geheimnis des Myrtenzimmers [4]

  "Wenn ein Mann eine Spur von Großmut in seinem Wesen zeigt, und du sie beseitigen möchtest, so hinterlasse ihm eine Erbschaft. Wenn ein Mann schlecht ist, und du ihn noch schlechter machen willst, dann hinterlasse ihm eine Erbschaft. Wenn du einer Anzahl von Menschen auf ewig die Möglichkeit für Korruption und Unterdrückung auf breiter Basis verschaffen willst, so hinterlasse ihnen eine Erbschaft, in Form einer wohltätigen Stiftung. Wenn du einer Frau mit größter Sicherheit einen schlechten Mann verschaffen willst, so hinterlasse ihr eine Erbschaft. Willst du junge Männer ins Verderben stürzen, alte Männer zum Anziehungspunkt für die größten Gemeinheiten der Menschheit machen, Eltern und Kinder, Ehefrau und Ehemann, Brüder und Schwester gegeneinander aufhetzen, so hinterlasse ihnen Geld! (Wilkie Collins: Das Geheimnis des Myrtenzimmers, S 42)


Collins, Wilkie: Das Geheimnis des Myrtenzimmers [5]

  Der Arzt errötete und sah höchst unzufrieden drein. Eines der kostbarsten Dinge, die wir besitzen, besonders, wenn wir zufällig dem ärztlichen Stand angehören, ist unsere Würde. Es traf Mr. Orridge, daß er nicht konsultiert worden war, bevor eine von ihm empfohlene Pflegerin urplötzlich aus ihrem Pflichtbereich entlassen wurde. War Mr. Frankland auf Grund seiner Stellung als reicher Mann derart anmaßend? Es war unmöglich, diese Frage sofort zu etnscheiden; aber allein schon die Annahme übte einen zersetzenden Einfluß auf seine an sich konservativen Prinzipien aus. Die Macht des Reichtums darf ungestraft vieles tun, aber sie darf nicht eines Mannes gute Meinung von sich selbst beleidigen. Niemals hatte der Arzt despektierlicher von Rang und Reichtum gedacht, niemals vorher war er mit solcher Unparteilichkeit bereit gewesen, über republikanische Prinzipien nachzudenken, als jetzt, wo er in mürrischem Schweigen dem Aufwärter zu Mr. Franklands Zimmer folgte. "Wer ist da", fragte Leonhard, als er das Öffnen der Tür hörte. "Mr Orridge, Sir", sagte der Aufwärter. "Guten Morgen", sagte Mr. Orridge selbstbewußt und möglichst ungezwungen. Mr. Frankland saß in einem Sessel, die Beine übereinandergeschlagen. Mr. Orridge suchte sich sorgfältig einen anderen Sessel aus, setzte sich und legte die Beine augenblicklich nach dem Muster Mr. Franklands übereinander. Mr. Franklands Hände steckten in den Taschen seines Morgenrocks. Mr. Orridge hatte Taschen nur in seinem Mantel, den er jetzt natürlich nicht anhatte. So steckte er also die Daumen in die Ärmelausschnitte seiner Weste und sicherte sich auf diese Weise gegen die Unverschämtheit des Reichtums ab. Daß Mr. Frankland blind und damit vollkommen unfähig war, von seinem freiheitlichen Gebaren beeindruckt zu sein, interessierte ihn gar nicht. So seltsam eingeengt ist eines Menschen Wahrnehmungsvermögen, wenn er auf seiner eigenen Bedeutung besteht. (Wilkie Collins: Das Geheimnis des Myrtenzimmers, S 42)


Collins, Wilkie: Das Geheimnis des Myrtenzimmers [6]

  Wie die große Mehrheit der schwerfällig-dummen Männer hatte er ein intensives Gefallen daran, sich selbst reden zu hören. Jetzt ergriff er die Gelegenheit, darin mit Genuß zu schwelgen. Es gibt nur eine Art von Rednern, die selbst in der angespanntesten Situation niemals zusammenbrechen, nämlich diejenigen, deren Reden so beschaffen sind, daß niemand Gefahr läuft zu erkennen, was sie eigentlich meinen meinen. Unter solcherart mit Redetalent begabten Menschen nahm Mr. Munder einen hervoragenden Platz ein. (Wilkie Collins: Das Geheimnis des Myrtenzimmers, S 218)


Collins, Wilkie: Das Geheimnis des Myrtenzimmers [7]

  Manchmal sehe ich dich an, Shrowl, und frage mich, ob in der ganzen Schöpfung irgendein Tier so häßlich sein kann wie ein Mensch? Diesen Morgen sah ich einen Kater auf der Gartenmauer, und nicht in einem einzigen Punkt könntest du dich mit ihm vergleichen. Die Augen des Katers waren klar, deine sind trübe. Seine Nase war gerade, deine ist krumm. Seine Barthaare waren sauber, deine sind schmutzig. Sein Fell paßte ihm, deines hängt wie ein Sack an dir. Ich sage dir noch einmal, die Spezies, zu der du gehörst, und auch ich!, ist die abstoßendste im gesamten Angesicht der Schöpfung. Geh, damit wir nicht aufeinander losgehen, wenn wir länger beisammen bleiben! Geh, du letzte, schlechteste, schwächste Laune der Natur... Geh!" (Wilkie Collins: Das Geheimnis des Myrtenzimmers, S 258)


Collins, Wilkie: Lucilla [1]

  Was die Bevölkerung betraf, so bemerkte ich vorläufig nur einen einzigen geborenen Gentleman: einen Schäferhund mit schmählich gestutztem Schwanz, den er zu meiner Begrüßung nur unter sichtlichen Qualen in Bewegung setzen konnte. Er tat es dennoch, denn er war sich bewußt, daß er für alle andern die Honneurs machen mußte, und schmiegte seine schwarze Nase aufs freundlichste in meine Hand. 'Willkommen in Dimchurch, Madame Pratolungo!' schien er zu sagen. 'Entschuldigen Sie diese armen Proleten rechts und links, die am Straßenrand stehen und Sie anglotzen. Auch sie sind von Gott geschaffen, obwohl sie Ihm leider nicht so gut gelungen sind wie Sie und ich.' Ich gehöre zufällig zu den wenigen Leuten, die die stumme Sprache der Kreatur verstehen. Daher kann ich beschwören, daß ich die Begrüßungsansprache des Schäferhundes korrekt wiedergegeben habe. (Wilkie Collins: Lucilla)


Collins, Wilkie: Lucilla [2]

  Wenn ich vorher nie recht gewußt hatte, was ein 'feuchtes Weib' bedeutete (Goethe!), so wußte ich es jetzt. Die farblose Dame machte einen entschieden feuchten Eindruck. Ihr flaches, weißes Gesicht wirkte, als hätte sie eben ein Dampfbad genommen und sich hinterher nicht abgetrocknet, und ihre blaßblauen Augen hatten einen wässerigen, verschwommenen Blick. Unter ihrer verrutschten Spitzenhaube zeigten sich einige unfrisierte, fahle Haarsträhnen. Sie trug lediglich einen flanellenen, ehemals weißen Morgenrock und darüber eine weite blaue Wolljacke. In der einen Hand hielt sie einen zerlesenen, mit vielen Eselsohren verzierten Leihbibliotheksroman, mit der anderen preßte sie einen ebenfalls in Flanell gewickelten Säugling an sich, der sich gerade hingebungsvoll an der Mutterbrust ernährte. Das war mein erster Eindruck von der gegenwärtigen Gattin des ehrwürdigen anglikanischen Pfarrers Finch - ein Eindruck, der sich auch später nie wesentlich veränderte. ich traf Mrs. Finch nie vollständig angezogen, nie ganz trocken, nie ohne Baby und nie ohne Roman. So war sie nun einmal. (Wilkie Collins: Lucilla)


Collins, Wilkie: Lucilla [3]

  (Übrigens: Was halten Sie eigentlich von der Standfestigkeit meines Charakters? Rechnen Sie mal nach, ungefähr, wie oft ich im Laufe dieses wahrheitsgetreuen Berichtes meine Meinung geändert habe. Dauernd widerspreche ich mir selbst; meine Handlungsweise ist oft so unlogisch, daß sie an das Unglaubwürdige grenzt. Bei Ihnen, verehrte Leser, könnte das nicht vorkommen. Sie widersprechen sich nie, Sie lassen sich weder von Ihrem Temperament mitreißen noch von äußeren Umständen beeinflussen. Gott bewahre, Ihr Charakter ist unandelbar, Sie stehen wie der sprichwörtliche Fels in der Brandung. Und ich? Ich bin eben nur ein menschliches Wesen. Ein Glück, daß ich nur einen Tatasachenberucht schreibe und keinen Roman. Als Romanfigur wäre ich heutzutage unmöglich!) (Wilkie Collins: Lucilla)


Collins, Wilkie: Blinde Liebe [1]

  Mrs. Vimpany war eine große, schmächtige Dame. Durch künstliche Mittel hatte sie ihrer Erscheinung auf so geschickte Weise nachzuhelfen gewußt, daß es fast den Anschein hatte, als ob es natürlich wäre. Ihre Wangen hatten die Fülle der Jugend verloren, aber ihr Haar zeigte, vielleicht auch wieder infolge der angewendeten künstlichen Mittel, noch keine Spuren des nahenden Alters. Der Ausdruck ihrer großen schwarzen Augen, die vielleicht etwas zu nahe an ihrer stark ausgebildeten Adlernase standen, heischte Bewunderung von jeder Person, welche so glücklich war, in ihren Gesichtskreis zu kommen. Ihre Hände, die lang, gelb und bejammernswürdig mager waren, bewegte sie mit viel Grazie. Ihr Anzug hatte bessere Tage gesehen, aber sie wußte ihn in einer Art zu tragen, welche es eigentlich unmöglich machte, seinen wirklichen Zustand zu erkennen. (Wilkie Collins: Blinde Liebe)


Collins, Wilkie: Blinde Liebe [2]

  "Die Natur hat mich zum Landwirt geschaffen," pflegte er zu sagen, "aber meine arme, thörichte alte Mutter, die eine Dame aus vornehmem Hause war, bestand darauf, daß ihr Sohn ein Gelehrter werden sollte. Ich hatte jedoch weder Lust zur Rechtswissenschaft, noch Geld zur Armee, noch die zur Theologie erforderlichen moralischen Lebensanschauungen. Nun, so bin ich denn jetzt hier ein Landarzt – ein Repräsentant der Sklaverei, wie sie sich noch bis in das neunzehnte Jahrhundert erhalten hat." (Wilkie Collins: Blinde Liebe)


Collins, Wilkie: Blinde Liebe [3]

  Wenn es richtig ist, was von dem Geschmack der Türken erzählt wird, daß sie nämlich die Schönheit der weiblichen Gestalt höher schätzen als die des weiblichen Gesichtes, so würde die persönliche Erscheinung von Fanny Mere in Konstantinopel die Anerkennung gefunden haben, die ihr in London nicht zu teil wurde. Von schlanker, aber kräftiger und wohlgebauter Gestalt, zog sie die Augen der Männer und zuweilen auch der Frauen, mit denen sie zusammentraf, auf sich, so lange diese hinter ihr hergingen. (...) Sie war eine der blondesten hübschen Frauen. Hellblonde Haare, mattblaue Augen ohne jeden Ausdruck und eine Hautfarbe, welche aussah, als ob sie vollständig blutlos wäre, riefen einen Eindruck hervor, welcher ihre Mitmenschen meistens unempfindlich für die Schönheit ihrer Figur machte. Trotzdem war diese eigentümliche Blässe kein Zeichen von schlechter Gesundheit, sie ließ im Gegenteil seltene physische Kraft vermuten. Durch ihre ruhige, höfliche Art und Weise schimmerte, wenn man so sagen darf, ein zu Grund liegendes Selbstbewußtsein durch, welches fähig zu sein schien, in bedenklichen Augenblicken des menschlichen Lebens rasch und furchtlos zu handeln. Im übrigen war jedoch der Ausdruck, den ihr Charakter in ihrem Gesicht fand, ein wesentlich passiver. Da war also ein ruhiges, energisches, junges Weib im Besitz von Eigenschaften, welche sich nicht an der Außenseite zeigten – ob von guten Eigenschaften oder schlechten, das konnte allein die Erfahrung lehren. (Wilkie Collins: Blinde Liebe)


Collins, Wilkie: Blinde Liebe [4]

  Sie sah unnatürlich älter als damals aus, wo Mountjoy sie zum letztenmal gesehen hatte. Ihr künstliches Äußere war verschwunden. Das jetzt nicht mehr vorhandene Rot, welches einstmals ihre Wangen überzogen, hatte während der langen Reihe von Jahren, in der sie es auflegte, das Gewebe ihrer Haut rauh gemacht und ihrer Farbe einen ungesunden gelben Ton verliehen. Ihr Haar, das einstens so geschickt schwarz gefärbt war, gestand jetzt offen die Wahrheit ein und zeigte die nüchterne Farbe des Alters; es war grau. Selbst der durchdringende Glanz ihrer großen schwarzen Augen war verschwunden; alle die Verschönerungskünste, welche sie ihrer Bühnenlaufbahn verdankte, waren nicht mehr zu sehen, nur die liebenswürdige Anmut ihrer Bewegungen und der tiefe melodische Klang ihrer Stimme verrieten noch Mrs. Vimpany, welche jetzt in ein einfaches dunkelbraunes Gewand gehüllt war, das aller der kleinen, versteckten Mittel entbehrte, durch welche die Schneiderinnen so geschickt der Figur nachzuhelfen verstehen. (Wilkie Collins: Blinde Liebe)


Cortazar, Julio: Alle lieben Glenda [1]

  Es gibt jetzt Abende, da scheint sich alles endlos hinzuziehen, was vordem ein Fest war - erst etwas zurückhaltend, aber dann gibt man sich blind dem Jubel der Melodie hin - ist jetzt immer mehr bloße Routine (Roberto brummig), sich zitternd die Boxhandschuhe anziehen, in den Ring steigen und aufpassen, daß man nicht eins auf die Birne kriegt. Feinsinnige Vergleiche, bemerkt Lucho, Paola ansehend. Er hat recht, was für eine Scheiße, sagt Paola, für mich war Singen immer wie ein einziger Orgasmus, und jetzt ist es nur ein ödes Masturbieren. (Julio Cortazar: Alle lieben Glenda, S. 93)


Cunningham, Michael: Die Stunden [1]

  Plötzlich geht die Tür von einem der Wohnwagen auf, und ein berühmtes Gesicht taucht auf. (...) Sie weiß genau, daß die Frau ein Filmstar ist. Sie weiß es aufgrund ihrer Ausstrahlung, ihrer Selbstsicherheit und der Beflissenheit, mit der einer der Produktionsassistenten ihr erklärt (ohne daß Clarissa es hören kann), woher der Lärm rührt. Die Frau zieht sich rasch zurück, schließt die Wohnwagentür wieder, doch sie hinterläßt den Eindruck, daß jemand mit Argusaugen über alles wacht, als hätte ein Engel kurz den sandalenbewehrten Fuß auf den Boden dieser Welt, sich erkundigt, ob etwas im argen liege, und sich, nachdem er erfahren hat, daß es an nichts fehle, skeptisch und würdevoll wieder in himmlische Gefilde aufgeschwungen, nicht ohne die Erdenbürger daran zu erinnern, daß man nur geringes Vertrauen in ihr Trachten und Walten habe und daß fortan auf jede Nachlässigkeit geachtet werde. (Michael Cunnigham: Die Stunden, S. 32)


Cunningham, Michael: Die Stunden [2]

  Wir geben unsere Partys; wir verlassen unsere Familien, um in Kanada allein zu leben; wir plagen uns und schreiben Bücher, die die Welt nicht verändern, trotz unserer Gaben und unentwegten Bemühungen, unserer hochfliegenden Hoffnungen. Wir führen unser Leben, verrichten unsere Tätigkeiten, und dann schlafen wir — so einfach und so gewöhnlich ist das. Ein paar springen aus dem Fenster, ertränken sich oder nehmen Tabletten; ein paar mehr sterben bei Unfällen; und die meisten von uns, die breite Masse, werden langsam von irgendeiner Krankheit verzehrt oder, wenn wir großes Glück haben, vom Zahn der Zeit. Und es gibt nur diesen einen Trost: eine Stunde hie und da, in der es uns wider alle Wahrscheinlichkeit und Erwartung so vorkommt, als schäume unser Leben über und schenke uns alles, was wir uns je vorgestellt haben, obgleich jeder (...) weiß, daß auf diese Stunden unausweichlich andere folgen werden, die weitaus dunkler sind und schwerer." (Michael Cunningham, Die Stunden, S. 217)


Cunningham, Michael: Die Stunden [3]

  Man möchte ihm das Buch über sein eigenes Leben schenken, das Buch, das ihm seinen Standort bestimmen hilft, ihn beschützt, ihn für die Veränderungen wappnet. Du kannst auch nicht die Geschichte über einen verbitterten englischen Romancier oder das Schicksal von sieben chilenischen Schwestern mitbringen, so schön sie auch geschrieben sein mögen, und daß Evan Lyrik liest, ist etwa ebenso wahrscheinlich wie die Vorstellung, daß er Porzellanteller bemalt. (Michael Cunnigham: Die Stunden, S. 27)


Cunningham, Michael: Die Stunden [4]

  Sie wird etwa eine Stunde lang schreiben, und dann wird sie etwas essen. Nichts essen ist ein Laster, eine Art Droge - mit leerem Bauch kommt sie sich rein und unbeschwert vor, klar im Kopf, bereit zum Gefecht. Sie trinkt einen Schluck Kaffee, stellt die Tasse ab, reckt die Arme. Ein einzigartiges Erlebnis ist das, wenn man aufwacht und das Gefühl hat, daß ein guter Tag vor einem liegt, sich auf Arbeit einstellt, aber noch nicht darin versunken ist. In diesem Augenblick tun sich unendliche Möglichkeiten auf, lange Stunden, die vor einem liegen. (Michael Cunnigham: Die Stunden, S. 39)


Cunningham, Michael: Die Stunden [5]

  Sie strafft die Schultern, als sie an der Fifth Avenue, Ecke Eight Street steht, an der Ampel wartet. Das ist sie, denkt Willie Bass, der ihr morgens manchmal an ebendieser Stelle begegnet. Die alte Schönheit, das alte Hippiemädchen, nach wie vor mit langem Haar, das selbst ergraut noch trotzig wirkt, auf ihrer morgendlichen Runde, in Jeans und einem derben Männerhemd, mit irgendwelchen Ethnoslippern (aus Indien? Mittelamerika?) an den Füßen. Sie besitzt immer noch eine gewisse Sinnlichkeit; einen gewissen bohemienhaften, hexenartigen Charme; und doch wirkt sie an diesem Morgen eher tragisch, wie sie so aufrecht dasteht in ihrem weiten Hemd und den Drittweltschuhen, sich gegen die Schwerkraft wehrt, wie ein Mammutweibchen, das bereits bis zu den Knien in einem Teersee steckt, eine kurze Ruhepause einlegt, stolz und wuchtig aufragt, lässig beinahe, so tut, als betrachte es die zarten Gräser, die es am andern Ufer erwarten, während es allmählich begreift, daß es hier festsitzt, allein, nach Einbruch der Dunkelheit, wenn die Schakale aussschwärmen. Geduldig wartet sie an der Ampel. Vor fündundzwanzig Jahren mußte sie umwerfend sein; die Männer müssen in ihren Armen dahingeflossen sein. Willie Bass ist stolz darauf, daß er die Geschichte eines Gesichts deuten kann; begreifen, daß diejenigen, die heute alt sind, einst jung waren. Die Ampel springt um, und er geht weiter. (Michael Cunnigham: Die Stunden, S. 19)


Cunningham, Michael: Die Stunden [6]

  Sie überquert den Platz, fängt sich ein paar Spritzer vom Springbrunnen ein, und da kommt Walter Hardy, muskulös, in Shorts und weißem Tanktop, der sich flotten, federnden Schrittes zum Washington Square begibt. "Hey Clare", ruft Walter aufgekratzt, und einen peinlichen Moment lang wissen sie nicht recht, wie sie sich küssen sollen. Walter hat es auf ihren Mund abgesehen, und sie wendet sich unwillkürlich ab und bietet ihm statt dessen ihre Wange. Dann besinnt sie sich und dreht sich eine halbe Sekunde zu spät wieder um, so daß Walters Lippen nur ihren Mundwinkel berühren. Ich bin so prüde, denkt Clarissa, so altjüngferlich. Ich ergehe mich in der Schönheit der Welt, aber ich scheue einfach instinktiv davor zurück, einen Freund auf den Mund zu küssen. Richard hatte ihr vor dreißig Jahren schon gesagt, daß sich hinter all ihrem Piratenbrautgehabe eine brave, gutbürgerliche Hausfrau verberge, und nun entlarvt sie sich als Kleingeist, viel zu konventionell, die Ursache vielen Leids. Kein Wunder, daß ihre Tochter sie ablehnt. (Michael Cunnigham: Die Stunden, S. 21)


Cunningham, Michael: Die Stunden [7]

  Kaum etwas ist so leicht nachvollziehbar wie die Verachtung, die Walter Hardy häufig entgegenschlägt, der dazu auserkoren ist, mit Baseballkappen und Nikes sechsundvierzig zu werden; der unverschämt viel Geld mit Liebesromanen über Lust und Leid perfekt gebauter junger Männer verdient; der nächtelang zu House-Musik tanzen kann, selig und unermüdlich wie ein Deutscher Schäferhund, der ein ums andere Mal einen Stock apportiert. Männer wie Walter sieht man in Chelsea oder im Village zuhauf, Männer, die dreißig, vierzig oder älter sind und darauf bestehen, daß sie schon immer beschwingt und bester Dinge waren, kräftig und körperbewußt; daß sie niemals seltsame Kinder waren, nie gehänselt oder verhöhnt wurden. Richard ist der Ansicht, daß diese ewig jugendlicher Schwulen der Sache mehr schaden als die Männer, die kleine Jungs verführen, und ja, es stimmt, daß Walters Hang zu Ruhm und Rummel, sein Interesse für Mode und die neuesten Restaurants durch keinerlei abgeklärte Ironie oder Zynismus, nichts auch nur annähernd Tiefschürfendes getrübt wird. (Michael Cunnigham: Die Stunden, S. 23)


Cunningham, Michael: Die Stunden [8]

  Kaum etwas ist so leicht nachvollziehbar wie die Verachtung, die Walter Hardy häufig entgegenschlägt, der dazu auserkoren ist, mit Baseballkappen und Nikes sechsundvierzig zu werden; der unverschämt viel Geld mit Liebesromanen über Lust und Leid perfekt gebauter junger Männer verdient; der nächtelang zu House-Musik tanzen kann, selig und unermüdlich wie ein Deutscher Schäferhund, der ein ums andere Mal einen Stock apportiert. Männer wie Walter sieht man in Chelsea oder im Village zuhauf, Männer, die dreißig, vierzig oder älter sind und darauf bestehen, daß sie schon immer beschwingt und bester Dinge waren, kräftig und körperbewußt; daß sie niemals seltsame Kinder waren, nie gehänselt oder verhöhnt wurden. Richard ist der Ansicht, daß diese ewig jugendlicher Schwulen der Sache mehr schaden als die Männer, die kleine Jungs verführen, und ja, es stimmt, daß Walters Hang zu Ruhm und Rummel, sein Interesse für Mode und die neuesten Restaurants durch keinerlei abgeklärte Ironie oder Zynismus, nichts auch nur annähernd Tiefschürfendes getrübt wird. (Michael Cunnigham: Die Stunden, S. 23)


Cunningham, Michael: Die Stunden [9]

  Keine Blumen; wenn Blumen schon bei Toten fehl am Platz sind, so sind sie für Kranke erst recht verheerend. Aber was dann? Die Geschäfte in SoHo sind voller Partykleider, Schmuck und Nippes; nichts für einen anspruchsvollen, klugen jungen Mann, der mit Hilfe einer Vielzahl von Medikamenten vielleicht ein normales Lebensalter erreichen kann. Was wünscht man sich denn? Clarissa kommt an einem Geschäft vorbei und überlegt, ob sie ein Kleid für Julia kaufen soll; sie sähe hinreißend aus in dem kleinen Schwarzen mit den Anna-Magnani-Trägern, aber Julia zieht keine Kleider an, sie will in ihrer Jugend, der kurzen Zeitspanne, in der man einfach alles tragen kann, unbedingt in Männerunterhemden und ledernen Schnürstiefeln, groß wie Bimssteinblöcke, durch die Gegend trampeln. (Michael Cunnigham: Die Stunden, S. 27)


Cunningham, Michael: Die Stunden [10]

  Wenigstens, denkt sie, lese ich keine Krimis oder Liebesromane. Wenigstens bilde ich mich weiter. Derzeit liest sie Virginia Woolf, sämtliche Werke von Virginia Woolf, Buch für Buch - sie ist fasziniert von der Vorstellung, daß es eine solche Frau gegeben hat, eine Frau von solcher Inteligenz, die so sonderbar ist, sich so unermeßlich grämt; eine Frau, die ein Genie war, aber dennoch einen Stein in ihre Tasche steckte und in den Fluß hinauswatete. Sie, Laura, stellt sich gern vor (es ist eins ihrer bestgehüteten Geheimnisse), daß auch sie eine gewisse Genialität besitzt, nur einen Hauch davon, obgleich sie weiß, daß vermutlich die meisten Menschen diese Hoffnung hegen, insgeheim, ohne es jemals preiszugeben. (Michael Cunnigham: Die Stunden, S. 46)


Cunningham, Michael: Die Stunden [11]

  Richards Sessel ist ganz besonders wahnwitzig; genauer gesagt, es ist der Sessel eines Menschen, der, wenn er auch nicht wirklich wahnsinnig ist, doch alles schon so weit hat schleifen lassen, schon so erschöpft und entrückt ist, selbst den einfachsten Pflichten nicht mehr nachkommt - simple Körperpflege, regelmäßige Nahrung -, daß der Unterschied zwischen Wahnsinn und Hoffnungslosigkeit nur schwer festzustellen ist. Der Sessel - ein alter, schwerer Lehnsessel mit tiefen Polstern, der fett und feist auf schmalen, hellen Holzbeinen ruht - ist eindeutig kaputt und geradezu provozierend wertlos. Bezogen ist er mit einer Art noppigem Wollstoff in einem undefinierbaren Farbton, durchsetzt (das ist irgendwie das Unheimlichste daran) mit silbernen Fäden. Arm- und Rückenlehnen sind so abgewetzt, so eingedunkelt durch ständigen Abrieb und menschliches Körperfett, daß sie den zarten Hautpartien eines Elefanten ähneln. Die Federn zeichnen nicht nur unter der Sitzpolsterung, sondern auch durch das dünne gelbe Handtuch, das Richard darübergelegt hat. Der Sessel riecht abscheulich, zutiefst dumpfig und schmuddelig; er riecht nach unaufhaltsamer Verwesung. Falls man ihn auf die Straße schleppen und dort abstellen würde (wenn er irgendwann dort abgestellt wird), nähme ihn niemand mit. Richard will auf keinen Fall einen anderen haben. (Michael Cunnigham: Die Stunden, S. 63)


Curtin, Michael: Der Club der Weihnachtshasser

  Eine kleine Stadt, dieses London, wenn man U-Bahn fuhr, was jeder tat. Ein möbliertes Zimmer in Evelyn Gardens, ein Job in King's Cross und jetzt ein Haarschnitt in Sheperd's Bush. Die Leute sagten: Das Geld stimmt, und es sind nur drei Minuten zur U- Bahn. Oder: Zur nächsten Bushaltestelle braucht man zu Fuß nur fünf Minuten. Es spielte keine Rolle, daß die Fahrt mit U-Bahn oder Bus zehn Stunden dauerte, solange der Weg hin zu U-Bahn oder Bus oder zurück in Minuten gemessen werden konnte. Er hatte es seinem Vater zu verdanken, daß er die besten Jahre seines Lebens im Untergrund verbracht und nicht täglich einen Fußmarsch unternommen hatte, wie es für eine Spezies mit Beinen vermutlich gedacht war. (Michael Curtin: Der Club der Weihnachtshasser, S. 89)


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